III. Wahl
1197–1198
Kapitel 15
Der Mann, den Stefan in sein Haus brachte, war völlig entkräftet. Er keuchte, als stünde er kurz davor, zu ersticken. Zu behaupten, die Säfte seines Körpers seien im mangelnden Gleichgewicht, wäre die Untertreibung des Jahres gewesen. Ihm fehlte offenkundig Wasser, er konnte auch lange nicht mehr geschlafen haben. Sein Bart und Haupthaar war ungeschnitten, sein Überkleid völlig verdreckt und die Beinlinge angerissen, so dass Judith die aufgeschürfte Haut an den Knien sehen konnte. Dazu waren die Adern an Hals und Stirn so herausgetrieben, dass sie im nächsten Moment einen Anfall befürchtete.
»Um Gottes willen«, sagte sie, »leg ihn sofort hin und lass mich seine Füße hochlagern.«
»Er kommt direkt aus Italien«, sagte ihr Onkel, »und er darf auf gar keinen Fall sterben.«
Stefan hatte ihr eine Seitenkammer neben dem großen Wohnraum für die Familie zur Verfügung gestellt, um ihre Instrumente und Salben dort unterzubringen und Patienten zu untersuchen. Es war nicht ihre Schlafstätte – sie teilte sich ein Bett mit seiner Tochter –, aber es war ihr Reich, in dem sie sich aufhielt, wenn sie nicht unterwegs war, um Besuche zu machen oder ihre Kräutervorräte zu ergänzen.
Sie bat ihren Onkel, Wasser zu holen, schob eine Decke unter den Kopf des Mannes und legte seine Füße auf die kleine Truhe, in der ihres Vaters Messer und Spiegel ruhten. Dabei fiel ihr auf, dass seine Stiefel zwar ebenfalls dreckig, doch von gutem, festem Leder waren. Was auch immer für diesen Zustand verantwortlich war, Armut oder gar ein Entkommen aus langer Gefangenschaft konnte es nicht sein.
Seinen Überrock wurde sie schnell los, doch der langärmlige Unterrock war so fest um seinen Körper gewickelt, dass es nicht so einfach war, ihn auszuziehen, um Luft an ihn heranzulassen. Als das Wasser kam, begann sie, ihn mit feuchten Wickeln zu reinigen, während sie Stefan bat, dem Mann vorsichtig und mit kleinen Schlucken Apfelmost einzuflößen.
»Wie lautet sein Name?«
Ihr Onkel schüttelte ungeduldig den Kopf. »Guy oder Gilles, irgendetwas in der Art. Das ist nicht so wichtig wie das, was er zu sagen hat.«
Mit solchen Namen konnte er weder Deutscher sein noch aus Italien stammen. Sie konzentrierte sich auf den rasenden Pulsschlag des Fremden, der unter der sanften Reinigung allmählich langsamer wurde. Es war inzwischen Oktober und sehr kalt in Köln; obwohl eine Pfanne mit glühenden Kohlen im Zimmer stand, brauchte es nicht lange, und seine Haut zog sich erschauernd zusammen. Er trank von dem Most, in kleinen Schlucken, und als sein Atem wieder regelmäßiger wurde, fragte ihr Onkel in der Volgare: »Ist es wahr?«
Guy oder Gilles nickte mühsam. »Der Kaiser ist tot. Er starb am 28. September in Messina.«
»Und der Herzog von Schwaben?«
»Der sitzt in der Burg von Montefiascone fest. Das Land steht in Flammen! Ihr macht Euch keine Vorstellung, wie die Deutschen nach den Jahrzehnten staufischer Herrschaft in Italien verhasst sind, Meister Stefan«, würgte er unter Schmerzen hervor.
»Ich glaube schon«, sagte ihr Onkel ruhig. »Deswegen habe ich auch keinen nach dort geschickt. Wie steht es um den Papst?«
»Der ist noch am Leben, aber es heißt, dass es stündlich schlimmer um ihn steht. Er hat sogar schon versucht, abzudanken und den Kardinal Giovanni di San Paolo als seinen Nachfolger einzusetzen, aber das Kardinalskollegium hat seine Zustimmung verweigert. Wenn er stirbt, werden sie ganz gewiss nicht den Kardinal wählen, da sind sich die Römer sicher. Aber bis es so weit ist, ruhen in Rom alle Entscheidungen. Jeder der anderen Kardinäle versucht, sich selbst in den Vordergrund zu rücken und Stimmen für die Wahl zu gewinnen.«
»Das ist gut«, sagte Stefan erleichtert. Judith schluckte eine Frage hinunter, die sie sich selbst beantwortete: Wenn in Rom alles mit dem sterbenden Papst und der baldigen Wahl eines neuen beschäftigt war, dann hatte dort bestimmt niemand die Zeit und die Autorität, sich um andere Ereignisse zu kümmern.
»Onkel«, sagte sie langsam auf Deutsch, »der Kaiser hat einen Sohn, der gewählter deutscher König ist.«
»Es gibt ein Kind in Apulien, das hierzulande niemand gesehen hat und das noch nicht in Aachen gesalbt und gekrönt wurde«, gab er zurück, »ganz zu schweigen davon, dass ihm auch die wichtigste Stimme unter den kirchlichen Würdenträgern des Reiches fehlt.« Er fiel erneut in die Volgare und wandte sich an den Boten. »Weiß man, wie es um die Kaiserin Konstanze steht? Wird sie ihren Sohn Herzog Philipp übergeben, wenn er sich zu ihr in das Königreich Sizilien durchschlagen kann?«
Guy oder Gilles hustete und bekam noch etwas Apfelmost. »Die Kaiserin hat bereits Order gegeben, sämtliche deutschen Ritter aus Sizilien fortzuschicken, aber auf dem Weg bin ich von keinem dieser Ritter überholt worden. Es geht ihnen allen wie Philipp. Das Land steht in Flammen, und sie sitzen fest. Ein paar wollen es auch darauf ankommen lassen und bleiben, Schweinspeunt zum Beispiel, oder Anweiler. Sie glauben nicht, dass die Kaiserin Bewaffnete gegen sie einsetzt, woher soll sie die auch nehmen?«
Stefan schloss die Augen und murmelte etwas auf Hebräisch, das Judith als Dankgebet aus ihrer Kindheit erkannte: Der Mächtige, unser Gott, ist ewig.
Vorsichtig deckte sie den Boten mit seinem leinenen Unterrock zu. »Wenn das alles ist, was du von Guy wissen wolltest, Onkel, dann solltest du ihn jetzt ruhen lassen«, sagte Judith.
»Gilles. Ich heiße Gilles«, warf der Bote ein, der entweder genügend Deutsch verstand oder den Klang seines Namens richtig gedeutet hatte, auf Französisch ein. Er musterte sie und fügte in der Volgare hinzu: »Ihr wollt mich nicht weiter waschen? Ich dachte schon, ich sei im Paradies angekommen.«
»Nichte, auf ein Wort«, sagte Stefan, half ihr, sich aus ihrer knienden Haltung zu erheben, und führte sie in den Wohnraum, wo seine Gemahlin stickte. »In ein paar Wochen wird ganz Köln von diesen Neuigkeiten sprechen«, sagte er mit gesenkter Stimme, »doch es ist wichtig, dass dies jetzt noch nicht geschieht. Jede gewonnene Stunde kann entscheidend sein.«
Sie verzichtete darauf, ihn an den Eid zu erinnern, den sie in Salerno geschworen hatte und der ihr verbot, Geheimnisse ihrer Patienten zu verraten. »Du warst nicht überrascht vom Tod des Kaisers.«
»Wir hatten bereits einen Boten, der uns sagte, dass im Lager der Kreuzfahrer bei Messina eine Seuche ausgebrochen sei«, sagte ihr Onkel, »Constantin, Gerhard, Meister Lambert und ich. Vergiss nicht, dass Gerhard auch Zollmeister von Köln ist. Ihn erreichen Gerüchte wie dieses immer als Ersten.«
»Und du hast darauf gehofft, dass so etwas geschieht. Schon deswegen war es dir so wichtig, dass sich Erzbischof Adolf nicht durch einen Eid bindet.«
»Es war eine Möglichkeit von dem Moment an, als der Kaiser gewillt war, den Kreuzzug Wirklichkeit werden zu lassen«, gab Stefan zurück. »Wir alle wissen, was mit seinem Vater im Heiligen Land geschehen ist. Aber Gewissheit hatte ich bis heute nicht.«
Sie wollte ihm glauben. Er war anders als ihr Vater, anders auch als das, woran sie sich vom Wesen ihrer Mutter erinnerte. Sie hatte begonnen, ihn gernzuhaben, ihn und die Familie, mit der sie das Dach teilte, wenn auch nicht das Bekenntnis. Auf ihrem Vater hatte immer eine gewisse Traurigkeit geruht, eine Bereitschaft, vom Leben das Schlimmste anzunehmen, auch wenn er auf das Beste hoffte. Stefan dagegen schien gewillt zu sein, das Schlimmste anzunehmen und dann das Leben zu überlisten, damit er es zu seinem Besseren machen konnte. Sie war sich nur noch nicht sicher, bis zu welchem Ausmaß Stefan dafür bereit war, in das Leben anderer einzugreifen.
Dann wieder verbot sie sich, wie die üblen Klatschmäuler zu denken, die hinter jeder Seuche Gift oder einen bösen Zauber vermuteten. Dergleichen Vermutungen waren oft dafür verantwortlich, dass Ärzten, die versuchten, das Leben ihrer Patienten zu retten, die Schuld gegeben wurde, wenn jemand starb. Dergleichen Annahmen verhinderten auch, dass man nach neuen Heilmitteln forschen konnte, und sie sollte gar nicht erst solche Verdächtigungen in sich aufkommen lassen, nur, weil ihr Onkel Kaiser Heinrich offenkundig verabscheut hatte und keinen weiteren Staufer auf dem deutschen Thron wollte.
»Und worauf hoffst du jetzt, Onkel?«
»Der Erzbischof mag keinen Eid geschworen haben, doch die übrigen Fürsten haben es getan, einschließlich seines Onkels Philipp. Außerdem sind sicher viele der hohen Herren bereits angekommen in Eretz Israel.« Er fiel ins Lateinische. »Darum eben ist es wichtig, dass wir die Zeit nutzen. Wenn Philipp aus Montefiascone entkommt, dann muss er sich entscheiden, ob er immer noch versucht, seinen Neffen abzuholen, oder die Alpen in Richtung Heimat überquert. Wenn die Kaiserin mit ihren Anhängern wirklich bereits begonnen hat, die deutschen Ritter aus Sizilien zu vertreiben, wird sie ihm den Jungen nicht geben, und das wird die Staufer noch eine Weile hinhalten.« Er sah sie fest an. »Es ist Zeit für einen neuen König. Kein Kind, sondern einen gestandenen Mann, einen, der uns verpflichtet ist und nicht von der Weltherrschaft träumt, nur weil er Karl den Großen übertreffen möchte. Dass sich nicht mehr so viele Fürsten im Land befinden, macht es Erzbischof Adolf einfacher, die Verbliebenen nach Köln zu einer neuen Wahl zu rufen. Mit etwas Glück wird Philipp dann vor vollendeten Tatsachen stehen, sollte er denn überhaupt lebend zurückkehren.«
»Und der Papst in Rom …«
»… wird nicht in der Lage sein, die Fürsten, die sich noch auf dem Kreuzzug befinden, an ihren Eid zu mahnen, wenn er das überhaupt will. Selbst seine Stellvertreter haben anderes im Sinn. Es ist der beste Zeitpunkt, um die Geschicke des Reiches in eine andere Richtung zu lenken.«
»Kaufleute wählen keine Könige, Onkel.«
Er fragte ohne den Funken eines Lächelns: »Warum nicht? Die Zeiten ändern sich und wir mit ihnen! Denk an die Städte in Italien, wie Venedig, Mailand, Pisa, Florenz, Genua; sie sind jetzt schon weitestgehend unabhängig vom Römischen Reich.«
Es glich einem Blick durch einen Kristall, der das Licht umlenkte und alles durch eine neue Spiegelung verzerrt erscheinen ließ. Wenn Judith an die hohen Herren dachte, die ihr bisher begegnet waren, ob Herzog Friedrich, Diepold von Schweinspeunt oder Otto von Poitou, wenn sie weiter an das dachte, was der Kaiser in Salerno getan hatte, dann gab es eigentlich nichts, das jenen Herren höhere Weisheit attestierte als ihrem Onkel. Erkenne eine Krankheit an ihren Symptomen, das war ein Grundsatz, den bereits die Griechen festgehalten hatten; wo keine roten Flecken vorhanden waren, da konnten auch keine Masern sein. Die Kaufleute von Köln hatten zumindest keine Freude daran, Städte zu verwüsten oder Frauen zu bedrohen. Woran hatten sie aber wirklich Interesse? Macht verdirbt jeden Menschen, das hatte ihr Vater immer gesagt. Was werden diese Leute tun, wenn sie einst mächtiger sind als die Barone, die Grafen oder gar die Könige?
»Nun verstehst du gewiss«, fuhr ihr Onkel fort, »warum es mir so wichtig ist, dass sich keine Gerüchte herumsprechen, solange sich das vermeiden lässt. Die Wahl soll hier in Köln stattfinden, und wir müssen sicherstellen, dass so viele von den hohen Herren erscheinen, als noch im Lande sind. Der Erzbischof hat schon einmal angedeutet, dass er den Herzog von Sachsen oder den Herzog von Zähringen für geeignet hält. Er wird ihnen Boten senden, aber soweit es uns betrifft, gibt es da jemanden, der uns viel passender erscheint, und deswegen werden auch wir eine Gesandtschaft schicken. Die darf jedoch nicht als solche erkennbar sein, solange unsere Vorbereitungen noch geheim sind. Daher will ich dich um deine Hilfe bitten, Nichte.«
Eigentlich hätte Judith sich denken können, dass er nicht ohne besonderen Grund so offen über seine Pläne sprach. Es erinnerte sie daran, wie er in Nürnberg nur von der Familie gesprochen hatte und erst in Würzburg offenbarte, dass er auch die Leibärztin der Herzogin von Schwaben gut gebrauchen konnte. Es war nie so, dass Stefan log; er hatte nur bei jedem Gedanken gleich mehrere Hintergedanken.
»Bis auf diesen Gilles scheint es in deiner Geschichte niemanden zu geben, der die Hilfe einer Ärztin braucht«, entgegnete sie, »und er wird sich bald wieder von den Anstrengungen der Reise erholt haben.«
Er wechselte erneut die Sprache; diesmal fiel er in das Hebräische, was es ihr schwermachte, da sie es nur als Gebetssprache beherrschte. »Wenn ich vorgebe, um des Handels willen zu reisen, dann müsste ich mir Zeit lassen mit der Vorbereitung, und das kann ich nicht. Alle, auch der Erzbischof selbst, müssen glauben, dass ich einen Grund habe, um sofort aufzubrechen, der später nichts mit dem Tod des Kaisers zu tun hat. Wenn ich krank werde, sehr krank, dann brauche ich vor allem noch einen guten Grund, um nicht in Köln zu bleiben. Kennst du einen, Judith?«
Als sie sich durch die vielen Silben der Sprache ihrer Vorfahren gearbeitet hatte, schüttelte sie den Kopf und kehrte zu der Volgare zurück. Ihre Tante hob spöttisch eine Augenbraue, dann senkte sie den Kopf wieder und stickte weiter. Stefans Gemahlin war stets höflich zu Judith, doch manchmal vermutete sie, dass sich hinter der stets gelassenen Zuvorkommenheit Feindseligkeit verbarg. Es war nichts, worauf sie ihren Finger legen konnte, nur hin und wieder ein Tonfall oder ein Blick. Oder das Bestehen auf Schweinebraten an den Samstagen.
»Onkel, man soll niemals eine List zweimal verwenden. Wenn ich dir Durchfall beschere, dann weiß der Erzbischof sofort, dass dir nichts mangelt, ganz abgesehen davon, dass es äußerst unangenehm ist, mit einem leeren Bauch zu reisen.«
»Nun, ich bin davon ausgegangen, dass eine der Frauen aus Salerno mehr als einen Weg weiß, um Krankheiten zu schaffen«, sagte er mit einem Augenzwinkern, doch der Scherz und die Schmeichelei machten ihr keine Freude. Im Gegenteil, sie entdeckte, dass sich allmählich Ärger in ihr entfaltete.
»Ich schaffe niemandem Krankheiten«, sagte sie mit Nachdruck. »Ich heile sie. Das habe ich mit einem heiligen Eid geschworen, Onkel, und es ist mir mehr als ernst damit.«
Er beeilte sich, ihr zu versichern, dass er verstünde, und sie versuchte, nicht daran zu denken, wie sie im Geiste die vielen Möglichkeiten durchgegangen war, mit denen sie einen Menschen töten konnte. Oder wie sie es ausgerechnet einem Mann gestanden hatte, dem sie nie vertrauen konnte noch sollte. Vor allem wollte sie nicht daran denken, dass sie sich für kurze Zeit in seinen Armen lebendig und frei gefühlt hatte.
»Es ist möglich«, sagte Judith zögernd, »den Anschein von Krankheit zu erwecken. Wenn die Menschen hier glauben, dass du die Masern hast, dann wird jeder verstehen, wenn du umgehend die Stadt verlässt und nicht zurückkehrst, bis du gesund bist. Mehr noch, sie werden dich dafür segnen.« Mit den Masern war nicht zu spaßen, vor allem, wenn man wie Stefan einen zwölfjährigen Sohn und sonst keine weiteren männlichen Kinder hatte. Manche Familien waren von der Krankheit ausgerottet worden, und zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, wirkte Stefan unsicher, als er fragte, was denn getan werden müsse, um die Masern vorzutäuschen.
»Als wir im Frühling von Nürnberg nach Köln gereist sind, ist mir aufgefallen, dass dich Beifuß zum Niesen bringt«, sagte Judith, »und deiner Haut einen Ausschlag gibt, wenn es dir zu nahe kommt. In den Kräutergärten für das Spital gibt es mehr als genug davon. Außerdem kann ich dir mit etwas Krapp noch ein paar mehr Flecken auf die Haut malen. Wenn ich dann noch erkläre, dass du die Masern hast, wird man dir glauben.«
»Aber es sind nicht wirklich …«
»Nein, es sind nicht die Masern, und es wird dir wieder gutgehen, wenn du erst einen Tag von Köln entfernt bist.«
»Du bist eine Perle unter den Frauen«, sagte Stefan, nur sagte er es leider auf Deutsch. Seine Gemahlin schaute erneut auf; diesmal glich ihr Gesichtsausdruck einem Eiszapfen.
* * *
Es gab für einen Mann, der davon lebte, die Gunst reicher Männer zu gewinnen, wahrlich kaum etwas, das weniger dazu geeignet war, als mit der Gattin eines solchen Gönners Ehebruch zu begehen. Das war keine neue Erkenntnis, doch es war eine, die Walther durch den Kopf schoss, als er Beinlinge, Unter- und Oberkleid zusammenraffte und unter das große Bett flüchtete, um nicht vom Markgrafen von Meißen entdeckt zu werden, der eigentlich erst am späten Abend von der Jagd zurückerwartet wurde.
Eine Liebelei mit einer verheirateten Frau zu beginnen, war natürlich nicht der Grund dafür gewesen, warum er die Einladung des Landgrafen von Thüringen angenommen hatte. Doch Walther musste zugeben, dass er bereits des Öfteren über die Vorzüge nachgedacht hatte, mit einer Frau ins Bett zu gehen, die keine Ansprüche an ihn stellen konnte, aber auch kein Herz hatte, das dafür gebrochen werden musste. Hinzu kam der Anreiz, eine Frau zu verführen, die ihres Standes wegen schwer zu erringen war. Die Tochter des Landgrafen und nunmehrige Ehefrau Herrn Dietrichs von Meißen stellte sich als geradezu ideal heraus. Dass ihr Name ausgerechnet Jutta lautete, war für Walther eine auf widersinnige Weise störende Kleinigkeit, obwohl die Markgräfin sonst keinerlei Ähnlichkeiten mit einer ihm bekannten Ärztin bot und er sie in jedem Fall hinreißend gefunden hätte. Ihr Haar war blond, die Augen blau, und sie war ein vollendetes Beispiel für begehrenswerte weibliche Üppigkeit; sie war drall, wo das sein sollte, und schwungvoll wie eine Fiedel geformt, wo es bei einer reizvollen Frau die Figur erforderte.
Sie war von ihrem Vater, wie alle adeligen Frauen, ungefragt verheiratet worden, um sein Bündnis mit Dietrich zu besiegeln, und klüger als ihr Gemahl, der davon nichts wissen wollte. Er hatte sie ausgelacht, als sie ihm anbot, gemeinsam mit ihm etwas aufzubauen. Ihrem Ärger hatte sie mit einer Bemerkung vor anderen Edlen Luft gemacht, ihr Gatte sei des Nichtlesens und des Nichtschreibens mächtig, was zu Ohrfeigen und mehr geführt hatte. Jetzt verabscheute sie ihn und machte ihm, wann immer es sein musste, klar, nicht mehr von ihm besprungen werden zu wollen; dafür würde sich jede Magd besser eignen. Ihr Vater war Jutta in dieser Angelegenheit keine Hilfe gewesen, obwohl sie und Dietrich immer noch mit ihrer Stiefmutter auf der Wartburg in Thüringen lebten: Der Landgraf Hermann war sofort nach der Hochzeit ins Heilige Land aufgebrochen, um sich an des Kaisers Kreuzzug zu beteiligen, und hatte Dietrich als Stellvertreter und Verwalter seiner Länder zurückgelassen.
Kurzum, die Markgräfin von Meißen war für jede Ablenkung dankbar, und wenn es eine war, bei der sie sich an ihrem Gemahl für seine schlechte Behandlung rächen konnte, dann freute sie das umso mehr. Der Meißner war ein grober Dummkopf, der sie nicht verdient hatte, und Walther rechnete nicht damit, dass Dietrich lange in der Kemenate und er auf dem kalten Boden unter dem riesigen Eichenholzbett bleiben würde. Deswegen überraschte es ihn sehr unangenehm, als er den Markgrafen poltern hörte: »Weib, bleib, wo du bist, es gibt was zu feiern.«
»Aber es geht mir nicht gut«, protestierte Jutta, denn unter Kopfschmerzen zu leiden, war der den Mägden genannte Grund, warum sie am Nachmittag in ihrem Bett lag.
»Dafür geht es mir umso besser«, sagte Dietrich genüsslich. »Dein Vater hat Nachricht aus dem Heiligen Land geschickt. Er ist auf dem Rückweg. Jetzt, wo der Kaiser tot ist, hat er Philipp bei den Eiern! Meißen ist endlich wieder mein. Und das ist erst der Anfang. Wer weiß, was sich noch alles aus dem kleinen Weichling herausschlagen lässt? Ich habe ihn in Frankfurt gesehen, und ich kann dir versichern, an dem ist wirklich ein Mönch verlorengegangen. Weiche Finger, wie ein Weib.«
»Und doch bist du aus Frankfurt ohne deine Markgrafschaft zurückgekehrt, mein Gemahl«, erwiderte Jutta honigsüß. Etwas klirrte: Dietrichs Gürtel, der auf den Boden fiel.
»Da ging es nur darum, auf den richtigen Moment zu warten. Bei Gott, nun brechen andere Zeiten an! Wenn ich es recht bedenke, dann gibt es eigentlich keinen Grund, warum Philipp für das kleine Balg als Regent agieren soll. Warum nicht ein Rat der wichtigsten Fürsten im Land? Dein Vater könnte dabei sein, und nach ihm ich, meine Teure.« Mit einem dumpfen Ruck senkte sich sein nicht unerhebliches Gewicht auf das Bett.
»Ich glaube nicht, dass der Herzog von Schwaben für seinen Neffen regieren wird«, sagte Jutta kühl. »Er kennt die Bibel so gut wie jeder andere Christ. Wehe dir, Land, des König ein Kind ist und des Fürsten frühe essen!Er wird sich selbst auf den Thron setzen und als neuer König und Kaiser diejenigen bestrafen, die zu gierig versucht haben, seine Notlage auszunützen, und vergaßen, dass ihre Lehen noch Reichslehen sind, kein Erblehen.«
»Unsinn! Er hat den Treueid so gut wie jeder andere geschworen, und seinen eigenen Neffen kann er nun schlechterdings nicht übergehen. Was versteht ein Weib schon von solchen Dingen? Komm her, ich will deinen Arsch sehen.«
Die Aussicht darauf, den unfreiwilligen Zuhörer dabei zu spielen, wie der Meißner seine ehelichen Rechte einholte, war alles andere als erhebend, doch immer noch besser als die Aussicht, von dem Mann totgeprügelt zu werden. Also rührte Walther sich nicht und versuchte, sich von den Geräuschen über ihm abzulenken, indem er über das nachdachte, was er gerade gehört hatte. Ob Herzog Friedrich mit dem Landgraf von Thüringen zurückkehrte? Oder würde er versuchen, den Kreuzzug ohne den Kaiser weiterzuführen? Der junge Leopold in Wien hatte gewiss auch schon vom Tod des Kaisers erfahren und Reinmar den Auftrag gegeben, ein Klagelied zu verfassen.
Wehe dir, Land, des König ein Kind ist und des Fürsten frühe essen! Wenn Walther an die Versammlung in Frankfurt dachte, dann konnte man allen Fürsten wahrlich einen gierigen Schlund bescheinigen. Das Wort satt kannte keiner von ihnen. Sie würden alle wie Dietrich versuchen, weitere Macht und Ländereien zu gewinnen. Es sei denn, die Markgräfin hatte recht, und Philipp brach den Eid auf seinen Neffen, um selbst König zu werden. Aber müsste er sich dazu nicht erst wählen lassen, von den gleichen Fürsten, die in Frankfurt für seinen Neffen gestimmt hatten und von denen jetzt bestimmt die Hälfte wegen des Kreuzzugs nicht mehr im Lande weilten?
Über sich hörte er Dietrich grunzen und ächzen und fragte sich, ob er selbst so ähnlich klang, wenn er nicht wie gerade eben Vorsicht wegen möglicher Lauscher walten lassen musste. Wie eigenartig, dass Menschen im Augenblick höchster Ekstase nicht melodiöser als manche Tiere sein konnten. Jutta blieb still; Walther hätte das auf ihre Abneigung gegen ihren Gemahl geschoben, doch wenn er sich recht besann, hatte sie in seinen Armen auch erst nach einigen Treffen erkennen lassen, dass sie genoss, was er tat. Walther hatte all sein Wissen nutzen müssen, um aus einer stummen eine schnurrende Katze zu machen, bis sie dann sogar eine laute wurde, deren Schreie er häufig durch eine Hand dämpfen musste. Er fragte sich, ob Jutta in ihrer Beziehung Vergnügen gesucht hatte oder nur Rache gegen ihren Gemahl, doch diese Frage führte ihn unweigerlich in Gefilde, die er lieber nicht besuchen wollte. Er schob sie vehement zur Seite und überlegte lieber, was sich mit dieser Nachricht anfangen ließ, wenn man ein Sänger war und kein begüterter Edelmann. Ein Gedanke kam ihm, scherzhaft, nicht ernster als die meisten Dinge, die er von sich gab, wenn er sich und anderen die Zeit vertreiben wollte: Wenn alle Fürsten um mehr und neue Lehen bitten, warum dann nicht auch ein Sänger?Er grinste, und wie zur Antwort stöhnte Dietrich auf dem Bett ein letztes Mal. Das Gerüttel hörte auf, während der Markgraf sich zur Seite wälzte. Er schien kein Freund von Vor- oder Nachspiel bei der Liebe zu sein, wenn er überhaupt davon wusste. »Bring mir Wein, Weib. Dann sieh zu, dass unsere Abreise vorbereitet wird. Wir gehen nach Meißen, und bei Gott, jeder von den Kerlen, der die Stirn hat, mir den Vasalleneid zu verweigern, wird Glück haben, wenn er sich mit doppelten Abgaben um meine Verzeihung bemühen kann.«
Als der Markgraf seinen Wein getrunken hatte und endlich verschwunden war, kroch Walther unter dem Bett hervor und zog sich rasch an. Jutta hielt noch den Becher in der Hand.
»Er ist so ein Narr«, sagte sie düster. »Nach Meißen gehen? Mein Vater wird ihn nie wieder als Nachfolger in Erwägung ziehen, selbst wenn die Stiefmutter nur Töchter in die Welt setzt. Man kann nicht einfach eine Aufgabe übernehmen und dann loslaufen, wenn irgendwo eine Wurst zum Verspeisen winkt.«
Ihre blonden Haare waren zu einem Zopf geflochten gewesen, als sie ihre Mägde fortgeschickt und Walther in ihr Gemach eingelassen hatte. Nun bestand der Zopf nur noch aus lose zusammenhängenden Strähnen, die ihr aber weit über die Schultern hinunterfielen. Am Hals konnte er einen blauen Fleck entstehen sehen und wusste, dass der wohl von ihm stammte. Es löste eine seltsame Mischung aus Bedauern und Begierde in ihm aus, sie so zu sehen, und gleichzeitig war er froh, sie nicht zu lieben, denn sonst hätte es ihm das Herz zerrissen.
»Ich glaube, Ihr habt recht«, sagte er, weil es sinnlos war, etwas über ihre Ehe zu bemerken, »der Herzog von Schwaben wird selbst nach der Krone greifen. Nur ein Heiliger würde das jetzt nicht tun, und ich habe ihn kennengelernt – er ist es nicht.«
Sie starrte weiter in den Weinbecher. »Heilige gibt es nicht mehr in unseren Tagen. Nicht in Schwaben, und erst recht nicht bei uns in Thüringen. Und wenn es sie gäbe, so würden sie mir nur bestätigen, dass die Ehe mit einem Dummkopf mein gottgegebenes Los sei. Sagt mir noch einmal, dass ich schön bin, Walther. Ich brauche etwas, an das ich glauben und mit dem ich mich trösten kann, wenn ich allein bin.«
»Euer Haar ist wie ein Nebelhauch, der einen Berg umschmeichelt; Eure Lippen der Eingang für himmlische Versprechen; der Rücken wie eine Landschaft, die zum ewigen Verweilen einlädt; der Hintern macht aus zwei vollkommenen Hälften ein wundervolles Ganzes; die Brüste – so groß, dass meine beiden Hände kaum reichen – streben zu den Sternen, nicht zur Erde, und wetteifern mit den schönsten Früchten aus dem Paradies; und Eure wohlgeformten Beine, mit herrlichen weichen Schenkeln und einer unglaublich zarten Haut, weisen mir den Eingang dorthin.«
Das Blut stieg ihrem Hals entlang in ihr Gesicht. Walther musste daran denken, wie sie nach einem seiner Minnelieder, mit dem er ihr die einsamen Stunden vertrieb, als sie noch nicht mehr als eine Gönnerin gewesen war, geflüstert hatte, sie wisse nicht, warum manche ihrer Mägde vor Lust schrien und andere sich bekreuzigten, und er ihr angeboten hatte, das ausführlich erklären zu wollen.
»Hört auf, Herr Walther. Ich bin, wie ich bin, nicht wie Ihr mich sehen wollt.«
»Ihr seid ein wundervoll geschaffenes Weib«, antwortete er wahrheitsgemäß und setzte sich neben sie, um ihr über das Haar zu streichen, »und ich bin ein Glückspilz.«
Sie entzog sich ihm. »Anmaßend ist es, was Ihr seid«, sagte sie mit einer Spur von Hochmut. »Ich bin nicht für Euch geschaffen.«
Weil er sie nicht liebte, konnte er sehen, was in ihr vorging. Sie war machtlos in ihrer Ehe. Ganz gleich, was sie über ihren Gatten dachte, ganz gleich, wie hoch sie selbst geboren war, sie musste Dietrich gehorchen und ihm zur Verfügung stehen wie die einfachste Stallmagd, wenn es ihm gefiel; daran würde sich nie etwas ändern, für den Rest ihres Lebens nicht. Da musste es guttun, anderswo die Mächtige zu spielen. Er wäre deshalb auch bereit gewesen, ihr – wie allen Frauen, die es hören wollten – zuzugestehen, dass es immer nur eine Siegerin im Bett gab und einen Besiegten, selbst wenn alle Männer das Gegenteil beschwören würden. Aber das war in diesem Moment bestimmt kein Trost für sie.
»Das ist die Wintersonne auch nicht«, sagte er stattdessen leichthin, »und es freut mich trotzdem, wenn sie durch die Kälte dringt und mich durch ihre Strahlen etwas erwärmt, ehe sie weiterwandert.«
Ihre Mundwinkel zuckten. »Sehr viel weiter wohl nicht, nur bis nach Meißen, doch es ist hübsch gesagt. Ein wenig werde ich Euch wohl vermissen. Vielleicht sogar mehr als ein wenig, denn Ihr habt etwas in mir geweckt, was ich bisher nicht kannte. Sagt mir, mein Ritter der hübschen Worte, werdet Ihr hier die Ankunft meines Vaters abwarten, oder wohin werdet Ihr als Nächstes gehen? Und«, es fiel ihr erkennbar schwer, die Frage auszusprechen, »führt Euer Weg wieder nach hier zurück?«
Zu bleiben war eine Möglichkeit, vor allem, weil der Winter ins Haus stand und es sich bei Schnee und Eis immer schlecht reiste. Zurückkommen, das ganz bestimmt … irgendwann. Aber das unheilbare Fieber Neugier hatte ihn ergriffen. Ihr Gatte war nicht der Einzige, der nach des Kaisers Tod mehr Möglichkeiten in der Welt sah. Das Letzte, was Walther von Herzog Philipp gehört hatte, war, dass er im September nach Italien aufgebrochen war, um seinen Neffen zu holen, damit dieser in Aachen gekrönt werden konnte. Ob er nun mit oder ohne den Jungen zurückkehrte, ob er sich oder seinem Neffen die Krone aufsetzen wollte, er würde erneut einen Haufen Fürsten überzeugen müssen, ihm Gefolgschaft zu leisten, und das ohne den drohenden Schatten seines Bruders. Diesmal, dachte Walther, wird es dazu bestimmt mehr als ein spöttisches Lied brauchen.Es juckte ihn in den Fingern, sein Glück erneut zu versuchen.
»Ich glaube, ich werde nach Süden ziehen.«
* * *
Es hatte ganz und gar nicht in Judiths Absicht gelegen, Köln zu verlassen. Aber als Stefans Gemahlin auf die Ankündigung hin, ihr Gatte leide an Masern und müsse umgehend zum Schutze der Kinder und seiner Mitbürger zu einem kleinen Einsiedelhof gebracht werden, spitz bemerkt hatte, dass Stefan der Pflege seiner eigenen Ärztin bedürfe, da war es unmöglich geworden, ihren Onkel nicht zu begleiten. Nun, hätte er wirklich die Masern gehabt, so wäre es grob undankbar von Judith gewesen, ihre Hilfe zu verweigern. Also fand sie sich mit Gilles und Stefan auf dem Weg in Richtung Aquitanien wieder, denn dorthin wollte ihr Onkel ziehen, um keinen Geringeren als den König von England zur Königswahl nach Köln zu bitten.
»Warum nicht nach England?«, platzte Judith heraus, weil es höflicher war als das, was sie wirklich fragen wollte.
»Oh, König Richard hält sich so gut wie nie in England auf«, sagte ihr Weggefährte Gilles aufgeräumt. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte er noch ein oder zwei Wochen in Ruhe am gleichen Ort bleiben sollen, aber Stefan hatte ihn zu seinem Reisebegleiter gemacht, wohl auch, um zu verhindern, dass er in Köln mehr plauderte, als er sollte. Gilles schien es mit Fassung zu tragen. Wenn er nicht gerade nach seinem mehrwöchigen Gewaltritt vor ihren Augen zusammenbrach, war er offenbar ein sehr gesunder Mann von etwa dreißig Jahren mit einem pfiffigen Gesichtsausdruck und einer großen, kräftigen Statur. »Er ist in Aquitanien bei seiner Mutter aufgewachsen, und die festländischen Besitzungen seines Reichs sind ihm die liebsten. Außerdem liegen er und der französische König in Dauerfehde miteinander, und die können sie hier am einfachsten austragen.«
Es gab wohl keine Möglichkeit, als direkt zu fragen: »Onkel, lass mich prüfen, ob ich dich recht verstehe: Dir war der Weltenhunger des Kaisers zu viel, aber jetzt wollen du und deine Freunde ihn durch einen Herrscher ersetzen, der dafür berühmt ist, dass er Krieg führt, seit er die Wiege verlassen hat, und der noch nicht einmal unsere Sprache spricht?«
»Nein, nein«, gab Stefan beschwichtigend zurück, »darum geht es nicht. Natürlich werden wir König Richard einladen, das entspricht der Höflichkeit, doch kein Mensch glaubt, dass er kommen wird. Nicht nur, weil er, wie Gilles richtig sagte, im Dauerkrieg liegt, sondern weil er bei seinem letzten Aufenthalt auf deutschem Boden wahrlich üble Erfahrungen gemacht hat. Der Kaiser hat ihn zum Schluss sogar noch gezwungen, ihm den Vasalleneid zu leisten und sich zum Lehnsmann des Heiligen Römischen Reiches zu erklären, ehe er und der Herzog von Österreich ihn freiließen. So etwas vergisst ein Mann mit König Richards Stolz nie. Aber er wird es unwiderstehlich finden, ebenjenen Lehnseid nun zu seinem Nutzen einsetzen zu können. Wenn er ein deutscher Vasallenfürst ist, dann hat er schließlich auch eine Stimme bei der Wahl des Königs. Noch wichtiger ist, was er außerdem noch hat: drei Neffen, die deutsche Fürsten sind, die Söhne Heinrichs des Löwen. Glaub mir, in den letzten zwanzig Jahren habe ich mehr und mehr Menschen klagen hören, die einst den Rotbart gegen den Löwen unterstützten, die Welfen wären für das Reich besser gewesen. Nun gibt es eine Gelegenheit für jedermann, den alten Fehler wiedergutzumachen.«
Zuerst sagten Judith seine Worte nichts, doch dann kam die Erinnerung zurück, die Erinnerung an jenen verwünschten Tag und an den blonden jungen Edelmann, der sie bei der Kehle gepackt und ihr mit der größten Selbstverständlichkeit mit dem Tod ihres Vaters gedroht hatte. »Und welchen der Söhne Heinrichs des Löwen«, fragte sie gepresst, »wünscht ihr euch auf den Thron, du und deine Freunde?«
»Den Pfalzgrafen Heinrich von Braunschweig, selbstverständlich«, erwiderte Stefan. Judith atmete wieder leichter, während ihr Onkel nieste; der Beifuß machte ihm noch zu schaffen. Über diesen Mann wusste sie nur, dass er der Älteste der Welfensprösslinge war und damit der Bruder jenes Otto von Poitou, mit dem sie in Österreich zu tun gehabt hatte. Trotzdem erschien es ihr merkwürdig, warum ihr Onkel solches Vertrauen in die Welfen setzte. Was machte ihn so gewiss, dass sie anders als die Staufer sein würden? Es entsprach nicht der Denkweise, die sie bei ihm kennengelernt hatte.
»Du willst also den König von England einladen, seinen Neffen zum deutschen König wählen zu lassen. Wenn das dein Ziel ist, warum bist du dann nicht nach Braunschweig unterwegs?«
»Weil der Pfalzgraf noch auf dem Kreuzzug weilt«, warf Gilles ein und lachte. »Wahrscheinlich versucht er jetzt genauso wie die anderen Herren, ein Schiff zu bekommen, denn er war bereits im Heiligen Land. Meister Stefan weiß, dass man als einfacher Mann erheblich schneller reist denn als zukünftiger König mit Kriegsknechten und Ausrüstung.«
»Das versteht sich«, sagte ihr Onkel mit einem Lächeln, »und ich bin dir dankbar für die Geschwindigkeit, mein Freund. Du hast mich nicht geizig bei dem Lohn für deine Leistung gefunden, und wenn auch diese Reise glückt, dann wirst du die gleiche Summe noch einmal erhalten.« Zu Judith gewandt, fügte er hinzu: »Der König von England wird also eine Gesandtschaft schicken müssen, die für seinen Neffen spricht, aber dazu muss man ihn erst einladen, und der Erzbischof, dessen Aufgabe das eigentlich wäre, hat, nun … noch andere Möglichkeiten im Kopf. Wenn die englische Gesandtschaft erst in Köln ist, wird er seine Meinung ändern, da bin ich mir sicher. Solange es kein Staufer ist, wird ihm jeder König recht sein.«
Judith beließ die Angelegenheit fürs Erste auf sich, doch als sie am Abend in einem Gasthaus abstiegen, wo Stefan sie als seine Ehefrau ausgab, damit sie einen Raum erhielten, sagte sie: »Dem Erzbischof mag jeder recht sein, solange es kein Staufer ist, aber dir und deinen Freunden nicht. Ich habe immer noch nichts von dir gehört, das mir erklärt, warum euch so wichtig ist, einen Welfen auf den Thron zu heben. Ich weiß, dass Köln und England Handelsfreunde sind, aber dafür brauchst du Richard keinen Thron für seinen Neffen anzubieten.«
Er schwieg, während sie ihm ein Heilöl ins Gesicht massierte, um die Folgen des Beifußes abzumildern, und erklärte schließlich: »Wenn die Fürsten sich auf einen Mann einigen sollen, der kein Staufer ist, dann ist die Auswahl nicht so groß, wie man meinen möchte, Nichte, nicht nur, weil nur wenige von ihnen hier sind. Jeder der großen Herzöge wird dem anderen den Vorzug missgönnen und sich selbst ins Spiel bringen wollen, vor allem, wenn sie noch Fehden gegeneinander führen. Aber der Name der Welfen hat Glanz – und weil die drei Söhne des alten Löwen nicht in unseren Landen aufgewachsen sind, kennt man sie kaum. Sie haben niemanden verärgert, niemandem etwas weggenommen, dafür umstrahlt sie der Ruhm ihres Vaters und ihres Onkels. Jeder, der wählt, weiß auch, dass ein Welfe einen der mächtigsten Herrscher als Verbündeten mitbringt. Das wird viele Fürsten überzeugen.«
»Gerhard Unmaze mag der reichste Kaufmann von Köln sein, vielleicht sogar im ganzen Reich, aber er ist kein Fürst – und du auch nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Münzmeister Constantin so bezaubert vom alten Glanz des Welfennamens ist, dass er deswegen den Grimm des Erzbischofs riskiert, aber das tut ihr doch mit dieser Einladung. Was also hat dich überzeugt?«
»Du bist deines Vaters Tochter«, sagte er und nieste noch einmal. Seine Augen waren mittlerweile weniger geschwollen als noch am Morgen, nachdem sie ihn eine Nacht mit Beifuß unter dem Kissen hatte schlafen lassen, doch es war auf seinen eigenen Wunsch geschehen, also unterdrückte sie den Anflug von schlechtem Gewissen und Mitleid. »Der musste auch immer den Dingen auf den Grund gehen.«
»Ich wusste nicht, dass du meinen Vater gut genug kanntest, um das zu wissen«, sagte sie mit einer Spur Schärfe, weil sie spürte, dass er ablenken wollte.
Stefan setzte sich auf, verschränkte die Arme und musterte sie. »Wenn ich dir sage, was mich überzeugte, dann wirst du auch das als ärztliches Geheimnis behandeln müssen, obwohl es nichts mit Krankheit zu tun hat.«
»Onkel, du solltest endlich eine Entscheidung treffen. Entweder du vertraust mir, oder du vertraust mir nicht und versuchst weiterhin, mich als unwissendes Werkzeug zu benutzen. Doch wenn du dich für den zweiten Weg entscheidest, dann gibst du mir auch keinen Grund, das, was ich mir selbst denke, nicht in alle Winde zu schreien«, behauptete sie gereizt. Nicht, dass sie es wirklich vorhatte. Wem sollte sie schon die Geheimnisse eines Kölner Kaufmanns erzählen?
»Zollgebühren«, sagte Stefan abrupt. »Denke daran, Gerhard ist unser Zollmeister. Wir werden König Richard einen Handel anbieten: Wenn wir seinen Neffen zum König machen, erlässt er allen Handelsgütern aus Köln den Zoll in England, Aquitanien, dem Poitou, der Bretagne und in der Normandie.«
Sie dachte an den Zoll, den sie und ihr Vater hatten zahlen müssen, als sie von Köln nach Salerno reisten und dabei durch zahllose Baronien, Grafschaften, Herzogtümer, freie Reichsstädte kamen, und das, obwohl sie keine Waren mit sich führten, sondern nur ihre wenigen Besitztümer, hauptsächlich Bücher. Der ungeheure Gewinn, den diese Erleichterung für den Handel von Köln bedeuten würde, war ihr sofort klar.
Judith begann, sich das Öl in dem Wassereimer von den Händen zu waschen, den sie sich vom Hof hatte bringen lassen. Es half ihr dabei, ihren Gedanken Formen zu geben, was ihr bei ihren Gefühlen nicht gelang. »So viel zum Besten des Reiches«, sagte sie und zuckte zusammen, als sie den Klang ihrer eigenen Stimme hörte, die mit einem Mal dünn und brüchig war.
»Handel ist gut für das Reich«, gab ihr Onkel zurück. »Weit mehr als Kreuzzüge oder Versuche, Byzanz zu erobern.«
Damit hatte er natürlich recht, aber worauf es im Grunde doch hinauslief, war, dass er die Krone für denjenigen Fürsten haben wollte, der den für ihn und seine Genossen günstigsten Preis zahlen konnte. Das und nichts anderes war es, was ihn für den Welfen einnahm. Wenn Philipp ihm Zollfreiheit für England und all seine französischen Provinzen hätte zusichern können, dann wäre er jetzt nach Italien unterwegs, um den Herzog von Schwaben höchstpersönlich aus Montefiascone zu retten, dachte Judith traurig.
War es Enttäuschung, die sie fühlte? Es gab keinen Grund dafür. Ihr Onkel tat nur, was die meisten Menschen taten: Er versuchte, Gewinne für sich und die Seinen herauszuschlagen, auch wenn sein Volk dabei keine Rolle spielte. Andererseits: Ging es allen gut, hatten alle etwas davon, auch die Juden. Es war ja nicht so, dass Judith kein Entgelt erwartete, wenn sie Menschen heilte. Und hatte sie Irene nicht verlassen, weil es für sie das Beste war, obwohl es Gründe gegeben hätte, bei dem Mädchen zu bleiben? Es war unsinnig, ausgerechnet von ihrem Onkel zu erwarten, dass er der Held aus alten Geschichten sein würde, oder gar Samuel, der einen neuen König für Israel fand, weil Saul seinen Pakt mit Gott gebrochen hatte.
»Und du glaubst, dass der König von England dir gewähren wird, was du verlangst?«
»Wenn es uns gelingt, seinen Neffen wählen zu lassen.« Stefan stemmte sich erneut von dem Strohbett hoch, auf dem er gelegen hatte, kniete neben ihr nieder und erfasste ihre Hände. »Dann, Judith, dann werden ein paar Kaufleute von Köln die Welt verändert haben … nicht zuletzt dank deiner Hilfe.«
Es war das erste Mal, dass er ihren alten Namen gebrauchte. Er meinte es gut, als Dank und vielleicht auch, um ihr ein wenig den Kopf zu verdrehen, damit er ihres Schweigens noch ein Stück sicherer sein konnte. Aber eine Stimme in ihrem Kopf, eine widerspenstige Stimme, die auch bei zu sehr von den Nonnen angepriesenen Heilmitteln immer wissen wollte, woraus genau sie gemacht waren, diese Stimme ließ sich nicht unterdrücken und fragte: Und wenn der König, dem ihr auf den Thron verhelft, kein guter König wird, was dann?