IV. Krieg

1199

Kapitel 23

Nur noch Aasfresser schienen am Leben, Krähen und Vagabunden, die sich auf die Leichen stürzen – die einen, um zu fressen, die anderen, um zu stehlen, was von den Siegern noch dagelassen worden war. Walther zügelte sein Pferd. Er hatte gehört, dass es um das Kölner Erzstift Kämpfe gegeben hatte, doch er hatte nicht erwartet, einen der Schauplätze in einem kleinen Dorf so kurz vor seinem Ziel zu durchqueren. Der Krieg zwischen Welfen und Staufen, zwischen Otto und Philipp, zwischen jedem ihrer Anhänger hatte ihn seit seiner Rückkehr aus Rom allerorts empfangen, und es gab auch nach über einem Jahr keine Anzeichen, dass er bald vorüber sein würde; er hörte selbst dann nicht auf, wenn jemand die Seiten wechselte, so wie der Landgraf von Thüringen es soeben wieder getan hatte.

Im Frühjahr sah es einmal gut für Philipp aus, als König Richard von England unverhofft gestorben war. Beinahe hätte er das Otto-treue Straßburg erobert, doch dann brandschatzte Otto Koblenz, so dass Philipp seine Belagerung abbrechen und der Stadt zu Hilfe kommen musste. Keinem von beiden war es im vergangenen Jahr gelungen, einen so großen Vorteil zu erringen, der den Gegner zum Aufgeben gezwungen hätte. All dies nützte nur einem: dem neuen Papst. Walther presste den Mund zusammen. Was er kurz vor seiner Abreise in Passau noch erfahren hatte, machte ihn wütend und froh zugleich. »Innozenz III. hat sich nach reiflicher Überlegung für Otto entschieden, was aber erst verkündet werden soll, wenn dessen Zusagen verbindlich vorliegen«, hatte es Bischof Wolfger ausgedrückt. Walther nahm an, dass Otto dem Papst also ein besseres Angebot gemacht hatte. Hugo erzählte nach einigen Bechern etwas von großen Ländereien in Mittelitalien und aus dem Territorium von Sizilien, die an den Kirchenstaat angrenzten und nun an den Papst gehen sollten. Auf staufisches Gebiet zugunsten des Papstes zu verzichten, war für Otto eine geschickte Lösung, die ihn nichts kostete.

Eine päpstliche Festlegung würde für Philipp und viele seiner Anhänger ein Schlag sein, doch soweit es Walther betraf, war es auch ein Vorteil. Bisher war jedes Mal, wenn er ein Lied vortrug, in dem er den Papst angriff, ein Teil seiner Zuhörer sehr verstört gewesen, ganz gleich, ob sie Ritter, Bürger oder Bauersleute waren, und dabei hatte jeder von ihnen bestimmt schon schlechte Erfahrungen mit gierigen, scheinheiligen und unwürdigen Kirchenmännern gemacht. Trotzdem waren sie auf den Bänken und Stühlen herumgerutscht oder aus dem Raum gegangen. Gewiss, ein Teil war geblieben, hatte gelacht und ihn sogar angefeuert, aber man spürte doch, wie eine Mehrheit fand, er ginge zu weit, und über den Stellvertreter Christi solle man nicht so sprechen. Sie hatten nicht erlebt, was er erlebt hatte, oder nicht verstanden, was er ihnen vermitteln wollte. Doch nun, wo der Papst sich nicht nur herausnahm, den König im Reich zu bestimmen, sondern auch alle Anhänger seines Gegners zu bannen, da musste der Zorn, der in Walther brannte, auch aus anderen im Lande herausschlagen. Von einem Italiener zur Hölle verurteilt zu werden, nicht, weil man sündigte, nicht, weil man gegen die Gebote Gottes verstieß, sondern nur, weil man einem deutschen Fürsten folgte, dessen Vater und Großväter deutsche Könige und Kaiser gewesen waren, das ging zu weit! Diese Ungerechtigkeit musste jedem ins Auge stechen. Der Umstand, dass Philipp ihn jetzt doch für die Lieder gegen den Papst bezahlen würde, war natürlich auch nicht zu verachten.

Walther war aus Rom zunächst nach Wien zurückgekehrt, wo die Nachricht von Friedrichs Tod inzwischen eingetroffen war, was Leopold zum alleinigen Herzog von Österreich und der Steiermark machte. Von Respektlosigkeiten gegenüber dem Heiligen Stuhl wollte er noch weniger wissen als vorher. Seither führte Walther ein Wanderleben, was zu Friedenszeiten erheblich einfacher war, doch er führte es nicht alleine.

»Wir sollten hier nicht lange bleiben«, sagte Markwart. »Die Kerle da drüben sehen nicht so aus, als ob sie vor Lebenden haltmachen, wenn sie bei den Toten nicht genügend finden.«

Die Pilgerfahrt nach Rom hatte Walther klargemacht, wie kurz das Leben sein konnte, und vielleicht war er deswegen in den einzigen Ort zurückgekehrt, den er eigentlich nie wiedersehen wollte. Er hatte damit gerechnet, seinen Vater tot zu finden, doch nein, es ging ihm gut, umso mehr, weil er erneut geheiratet und Kinder in die Welt gesetzt hatte. Die zweite Frau war ein liebenswertes Nichts, dem man nicht böse sein konnte, und blieb genau wie seine Halbgeschwister für ihn eine Unbekannte. Von Walther von der Vogelweide hatte keiner von ihnen gehört; so viel zu dem Ruhm, von dessen Reichweite Walther bis zu seiner Ankunft überzeugt gewesen war.

Die große Überraschung kam, als er abreisen wollte. »Als wir Jungen waren, musste ich dich fast knebeln und fesseln, damit du mit mir gingst«, hatte Walther ungläubig zu Markwart gesagt, der mit einem geschnürten Bündel vor ihm stand, »und du bist so schnell wie möglich wieder aus Wien verschwunden, weil dir der Hof deines Vaters wichtiger war.«

»Das war damals. Ich bin älter geworden, Walther. Den Hof führt mein Bruder. Und … und es gibt – nun, es …« Nach einigem Hin und Her hatte sich herausgestellt, dass Markwart, der in ihrer gemeinsamen Jugend immer der Zurückhaltende von ihnen gewesen war, es irgendwie fertiggebracht hatte, zwei Frauen die Ehe zu versprechen, und nicht irgendwelchen, sondern Frauen mit sehr streitlustigen, einflussreichen Verwandten, die eine saftige Strafe bei Kirche und Gericht für so etwas durchsetzen konnten.

Es hatte etwas Angenehmes, wieder mit Markwart zu leben. Dass Markwart mit seiner großen Statur auch den Eindruck erweckte, gut mit Waffen umgehen zu können, selbst wenn das nicht stimmte, war dabei noch das Geringste. Sein Freund neigte immer noch dazu, sich schnell zu beschweren, aber er konnte kochen und brachte es fertig, selbst aus einer mageren Wachtel ein köstliches Gericht zu machen, wenn es keine Burg, kein Kloster oder kein Spital gab, in dem sie die Nacht verbringen konnten. Außerdem war er der einzige Mensch, den Hildegunde auf Anhieb mochte und der selbst dann noch auf Walthers Seite stand, wenn er sein Tun für gänzlich verrückt hielt. Ausgerechnet Köln einen Besuch abzustatten, hatte Markwart trotzdem von Anfang an mit tiefem Unwohlsein erfüllt. »Warum willst du das tun? Ich dachte, du stehst auf Philipps Seite? Sind die Kölner da nicht von ganz allein deine Feinde?«

»Ich bin auf meiner Seite, und die hält sich derzeit mehr an Philipp, das stimmt. Aber es lohnt sich nicht, Loblieder auf Philipp oder Spottlieder auf den Papst nur da zu singen, wo einem der Beifall gewiss ist. Die wahre Herausforderung liegt darin, eine feindselige Zuhörerschaft für sich zu gewinnen.«

»Du willst vor Leuten singen, die dich deswegen in Stücke reißen werden?«, rief Markwart entsetzt.

»Ich verspreche dir, keine Lieder zu singen, die mich oder dich als Einzelteile enden lassen«, erwiderte er. Es war nicht so, dass er Markwart nicht vertraute. Doch was sein Freund nicht wusste, das konnte er nicht ausplappern, und dazu gehörte sowohl Walthers Auftrag als auch das, was ihn außerdem noch nach Köln trieb. »Du solltest doch inzwischen wissen, dass ich meine Kunst immer auf die Zuhörer abstimme. Für die Kölner wird es Lieder geben, bei denen sie zu zwei Dritteln ohnehin der gleichen Meinung sind und nur in einem Drittel einer anderen. Ich werde ihnen den Stachel mit Honig versüßen. Sie werden erst dann merken, dass sie ihn geschluckt haben, wenn sie anfangen, bei der nächsten Lobpreisung Ottos Magenschmerzen zu erleiden.«

»Da ist noch etwas anderes, gib es zu«, mutmaßte Markwart und bewies, dass er seine Fähigkeit, Walther richtig einzuschätzen, noch nicht ganz verloren hatte.

»Der Erzbischof von Köln hat mich bei meinem letzten Besuch nicht hören wollen, und das liegt mir im Magen.«

»So eitel bist du nicht.«

»Doch, das bin ich. Der Erzbischof von Köln ist der wichtigste Bischof, Herr der größten Stadt im Reich, Herzog des Rheinlands und Kurfürst, das verkündet er schließlich oft genug. Wenn ich der berühmteste Sänger im Reich werden will, dann muss ich auch an seinem Hof gespielt haben. Das ist eine Frage der Zunftehre, Markwart.«

»Fahrende Ritter dürfen gar nicht Mitglied einer Zunft sein«, murrte sein Freund, »und dass es keine für euch Sänger gibt, ist sogar ein Glück, denn wenn die anderen so wie du und der alte Reinmar sind, dann würdet ihr euch bei jedem Zunftessen so lange die Ohren vollreden, bis alle Gerichte kalt geworden sind.« Er hatte sich noch einmal versprechen lassen, dass Walther nichts zu Herausforderndes singen würde, und dann die Reise nach Köln mit ihm begonnen.

Die Leichen in dem Dorf waren nicht die ersten, die sie auf ihrem Weg gefunden hatten; sie waren vorher schon durch viele Siedlungen gekommen, die gebrannt hatten und in denen kaum noch Menschen lebten. Markwart hatte recht mit seiner Warnung vor den Plünderern, doch Walther trieb Hildegunde nicht an, sondern stieg ab.

»Was zum Teufel …«

»Markwart, ich werde die Wachen überreden müssen, mich überhaupt in die Stadt zu lassen. Wenn ich einer Familie ihren toten Sohn oder Gatten bringe, damit sie ihn bestatten können, dann wird das wesentlich einfacher werden.«

Markwart warf ihm einen merkwürdigen Blick zu, halb entsetzt, halb beeindruckt. »Du hast dich verändert«, sagte er, mehr nicht, und hielt die Pferde, während Walther zwischen den Leichen umherwanderte. Wenn Ritter darunter waren, dann hatte man sie schon längst ihrer Rüstungen beraubt. Die meisten Körper auf der Erde trugen Platen, jene Tuchröcke mit aufgenieteten Eisenplatten, die sich auch ein einfacher Handwerker oder freier Bauer leisten konnte. Der Gestank von Blut, Schweiß und Urin hing schwer in der Luft, aber noch nicht der süßliche Geruch von verwesendem Fleisch; so lange konnte das Scharmützel also nicht her sein. Trotzdem waren einige Augen bereits den Raben zum Opfer gefallen, und er blickte oft in leere Augenhöhlen. Walther erinnerte sich an die Pilger auf der italienischen Landstraße und fragte sich, warum er nur noch ein schwächeres, taubes Echo seines Zornes von damals fühlte. Vielleicht, weil es Kriegsknechte waren, die wenigstens Waffen in den Händen gehalten hatten? Trotzdem fragte er sich, wie viele von ihnen überhaupt in der Lage gewesen waren, Welfe oder Staufer zu buchstabieren, und ob es für sie einen Unterschied machte, wem sie ihre Abgaben zahlten und für wen sie starben.

Zuerst erschien es unmöglich, zwischen Kölnern und ihren Gegnern zu unterscheiden. Dann kam Walther zu dem Schluss, dass die Kölner einen kürzeren Weg hinter sich und daher weniger abgewetzte Beinlinge hatten.

»He, ich habe den zuerst gesehen!«, rief ihm einer der Leichenschänder zu, als Walther das Bein eines Toten anhob, dessen Stiefel aus feinerem Leder gemacht zu sein schienen als die der meisten anderen Toten. Er trug auch noch seinen Kalottenhelm, und als Walther unter den Platen griff, konnte er spüren, dass der Tote ein vollständiges Untergewand anhatte und darunter ein Hemd. Um den Hals trug er ein Medaillon, das die heilige Ursula zeigte, die Schutzheilige von Köln. Was Tote betraf, die aus einer besseren Kölner Familie stammten, so war dieser wohl die erste Wahl.

»Ich habe gesagt, das sind meine Stiefel!«, zischte der Fledderer, der über das Feld zu Walther gerannt war. Aus der Nähe betrachtet, stellte er sich als Mann um die dreißig heraus, dem fast alle Zähne fehlten, der dafür aber einen Spieß und eine Streitaxt mit sich führte und bunt zusammengewürfelte Sachen trug, die alle zusammengestohlen sein mussten.

»Hätte er mir sagen können, dass er sie dir versprochen hat.«

»Eh?«, gab der Leichenräuber zurück.

»Die Stiefel. Wer bin ich, um den Letzten Willen eines Mannes nicht zu respektieren? Als wir gestern unseren Schweinebraten verzehrten, da sagte Hugo zu mir, Walther, mein guter Freund, was mein ist, soll auch dein sein, bis auf meine Frau, versteht sich, und …«

»Hör auf, Blödsinn zu schwafeln«, sagte der Leichenfledderer unwirsch. »Der Kerl war viel zu geizig, um was zu teilen. Das ist Gerhard, der Sohn vom Bierbrauer. Verheiratet war er auch nicht, aber gute Stiefel hat er, und die gehören jetzt mir – glaub nicht, dass ich den Weg von Köln hierher gemacht habe, um sie dir zu überlassen!«

»Wie du wünschst«, sagte Walther mit einer Verbeugung. Er wartete, bis der Mann mit den Stiefeln und nach einem misstrauischen Blick auf Walther und Markwart zu den nächsten Leichen weitergelaufen war.

»Das hätte ins Auge gehen können«, sagte Markwart mürrisch.

»Glaubst du, mir macht das Spaß? Ganz im Gegenteil. Aber das Treffen mit dem Kerl war ein ausgesprochener Glücksfall. Markwart, hilf mir, Gerhard seiner Familie zurückzugeben.«


Die große Stadtmauer um Köln mit dem riesigen Turmbau am Eigelsteintor erschien ihnen die großartigste und gewaltigste zu sein, die auf Erden stand, obwohl die Befestigungen von Wien auch nicht zu verachten waren; aber Köln galt mit seinen fast vierzigtausend Bewohnern auch als größte Stadt im Deutschen Reich. Was Walther Sorgen machte, waren die zahlreichen Wachen, von denen einige zu unterschiedlich gekleidet waren, um Kölner Stadtwächter zu sein. Außerdem trugen zwei von ihnen das welfische Wappen über dem Kettenhemd.

»Walther«, murmelte Markwart, während sie näher ritten, beide auf Hildegunde, während die Leiche des unglückseligen Gerhard auf Markwarts Pferd festgeschnürt war, »ist das nicht das Wappen des Grafen von Poitou?«

»Vergiss nicht, solange wir uns in Köln aufhalten, ist es das Wappen des deutschen Königs«, sagte Walther grimmig.

Wie er vorausgesehen hatte, wollten die Stadtwachen zuerst wissen, warum ein Minnesänger ausgerechnet jetzt Köln besuchen wollte, und wo er herkam, nicht warum er eine Leiche mitbrachte.

»Steht die große Stadt Köln nicht allen offen, die ihr Glück suchen? Und mein Patron, der Landgraf von Thüringen, durchlebt gerade harte Zeiten.«

»Das tun alle«, sagte der Wachposten ungnädig, doch die Nennung des Landgrafen entspannte ihn etwas; Hermann hatte sich im letzten Jahr mit großem Getöse auf Ottos Seite geschlagen.

»Aber Ihr müsst zugeben, dass harte Zeiten für Könige immer noch großzügiger ausfallen als solche für Landgrafen. Doch selbst, wenn es mir nicht gelingen sollte, die Gunst des Königs zu erringen, muss ich, wie Ihr seht, in Eurer schönen Stadt eine fromme Pflicht erfüllen. Ich kam gerade noch rechtzeitig, um die letzten Worte dieses jungen Kölner Streiters zu hören. Nun möchte ich seiner Familie wenigstens den Trost bringen, dass er nicht alleine gestorben ist. Er sagte, sein Name sei Gerhard, und sein Vater sei …«

»Hubert der Bierbrauer. Ach, verflucht!« Die Stadtwache ließ sie danach nur noch Zoll für Walthers Pergament bezahlen.

Während sie durch die Gassen gingen, sagte Markwart: »Es ist herzlos, Eltern etwas über den Tod ihres Kindes vorzulügen.«

»Herzlos wäre es, wenn ich über einen Lebenden löge, er sei tot, oder über einen Toten, er sei noch am Leben. Dieser Gerhard ist tot, so oder so. Durch mich erfahren sie es, was sonst wahrscheinlich nie passiert wäre, und sie werden wissen, wo er beerdigt liegt. Wenn ich einen Sohn hätte, wäre mir das lieber, als mir vorstellen zu müssen, dass er auf einem elenden Acker nur auf Vögel und wilde Tiere als Bestatter hoffen kann.«

»Ich nehme alles zurück. Du hast dich nicht verändert«, sagte Markwart. »Du bist immer noch gut darin, eine Wildpastete zu stehlen und dem Koch zu erzählen, dass du es nur in Gedenken an das tote Reh tust.«

»Du hast damals die Pastete mit mir geteilt, also hör auf, dich zu beschweren.« Trotzdem wusste Walther, was Markwart meinte, und verschwieg, wie unwohl er sich selbst fühlte.

Als sie Hubert den Bierbrauer gefunden und die Leiche vom Pferd gehoben hatten, war es nicht mehr möglich, innerlich ruhig und unberührt zu bleiben, nicht bei den Rufen »mein Sohn, mein Sohn!« von Seiten des Bierbrauers und bei dem Anblick von Gerhards Mutter, die auf die Straße lief und nicht mehr aufhören wollte zu weinen. Aber er war ein Geschichtenerzähler; die Erzählung, die er für den Bierbrauer und seine Gemahlin spann, war so trostreich, wie Walther sie machen konnte. Er ließ sich davon hinwegtragen und fügte Kleinigkeiten hinzu wie die, dass Gerhard »Mutter« geflüstert und seine Hand gedrückt hatte, als er schließlich verblich.

Zu seiner Überraschung versiegte der Tränenfluss der Bierbrauergattin sofort, und der Bierbrauer schaute auf, Verwirrung und aufflammenden Zorn im Blick. »Mutter? Aber er kann doch nicht an diese Dirne gedacht haben! Er hat sie gar nicht gekannt!«

Etwas war ganz deutlich nicht so, wie es sein sollte, doch die Aussage zurücknehmen und zu etwas unverfänglichem wie »dir, Jesus, empfehle ich meinen Geist« verändern konnte Walther nicht, ohne sich als Lügner zu entlarven. Musste seine kleine Sünde denn wirklich gleich bestraft werden? Aus den Augenwinkeln sah er, wie Markwart die Arme verschränkte und ein Gesicht machte, als sei er zufrieden, dass Walter endlich einmal bei einer Lüge ertappt wurde; er schien nicht zu verstehen, was das für Konsequenzen haben konnte.

»Das war es, werter Gevatter, was ich verstand. Ich glaube, er war wieder ein Kind und wie jeder Sterbende froh, in den Armen seiner Mutter …«

»Seine Mutter«, fiel nun auch die Frau des Bierbrauers ein, »war ein gewissenloses Weibsstück, das meinen armen Gatten allein mit drei kleinen Kindern ließ und mit einem Spielmann davonrannte. Zum Gespött der ganzen Stadt hat sie ihn auf Jahre hinaus gemacht, und genauso lange hat es gedauert, bis sein zartes Gemüt wieder in der Lage war, zu lieben!« Sie kniff die Augen zusammen und schaute auf Hildegunde und die Instrumente, die an ihrem Sattel hingen. »Einem Spielmann wie Euch.«

»Ich bin Sänger und Ritter«, sagte Walther hastig. »Und gewiss hat Gerhard an Euch«, er machte eine Verbeugung vor der Bierbrauergattin, »als seine wahre Mutter gedacht?« Wenn er sich die Frau allerdings näher anschaute, so war sie höchstens zehn Jahre älter als der tote Gerhard, was bedeutete, dass sie noch nicht lange die Ehefrau des Bierbrauers sein konnte. Zu allem Überfluss färbten sich nun ihre Wangen zartrosa.

»Oh, Gerhard!«, rief sie und brach erneut in Tränen aus. »Mein Gerhard!«

»Ihr habt euch doch kaum guten Morgen und guten Abend gewünscht«, sagte der Bierbrauer misstrauisch, dann wandte er sich an Walther. »Warum fehlen meinem Jungen die Stiefel, wenn er in Euren Armen gestorben ist?«

Welcher Vater denkt denn in so einem Moment an Stiefel?, dachte Walther empört.

»Ich fand ihn, wie ich ihn Euch bringe«, sagte er würdevoll. »Als ich den Ort erreichte, waren bereits ein paar Diebe dort, doch sie rannten fort, als sie meines Knappen und meiner angesichts wurden. Seht, Eurem Sohn ist wenigstens der Anhänger der heiligen Ursula geblieben, und so war die Schutzpatronin Eurer Stadt bei ihm.«

»Das habe ich doch dir geschenkt«, schnauzte der Bierbrauer seine Gemahlin an, die wieder mitten im Schluchzen aufhörte.

»Ich dachte, als Glücksbringer«, begann sie.

Walther hielt es für angeraten, das Weite zu suchen. Falls der verstorbene Gerhard ein zu inniges Verhältnis mit seiner jungen Stiefmutter gehabt haben sollte, war das nichts, was er wissen wollte. Im Übrigen hatten Menschen die unliebsame Angewohnheit, schlechte Nachrichten häufig am Boten zu rächen.

»Ich bin nicht der Mann, der anderen sagt, er habe es gleich gewusst«, bemerkte Markwart, während sie die Pferde durch die Gassen führten, weil man innerhalb Kölns kaum reiten konnte, ohne jemanden in Gefahr zu bringen.

»Du? Niemals.«

»… aber ich habe gleich gewusst, dass es zu nichts Gutem führen kann, wenn man Eltern Lügen über den Tod ihres Kindes erzählt.«

»So, wie ich es sehe«, sagte Walther, »hat es uns in die Stadt gebracht, noch dazu ohne einen Wächter an unserer Seite.«

Markwart schüttelte unwirsch den Kopf und begann dann, sich mit großen Augen umzuschauen. Auch Walther musste einmal mehr zugestehen, dass Köln außergewöhnlich war. Das fing schon mit dem gigantischen Bollwerk von Mauer an, die bestimmt mehr als zwölf große Tore besaß, und den Straßen, die vom Rhein aus immer weiter nach Westen führten, ohne dass ein Ende erkennbar war. Die Häuser waren nicht nur einstöckig, sondern besaßen gerade um das Rathaus herum meistens zwei und sogar drei Stockwerke, was es bei Feuer bestimmt schwierig machte, sie zu löschen. Dafür befanden sich an den Straßen immer wieder Senken, die mit Löschwasser gefüllt waren. Außerdem gab es viele Plätze, nicht nur vor dem Rathaus. Auch der Dom war gewaltig lang mit Querhäusern an beiden Enden. Nur die Türme waren zu kurz und passten irgendwie nicht zu dem riesigen Bauwerk.

»Versprich mir nur, dass wir nicht als Nächstes bei einem Vater einkehren, dessen Tochter du geschwängert hast.«

»Wir kehren nicht als Nächstes bei einem Vater ein, dessen Tochter ich geschwängert habe.«

Markwart wirkte nicht beruhigter.

Nach einigem Überlegen fand Walther den Weg zu Stefans Haus und stellte fest, dass die Wächter vor dem Eingangstor neu waren. Er hatte eine lange Rede über Meister Stefans Gastfreundschaft vorbereitet, doch ehe er dazu kam, trat ein Junge vor das Tor, schaute zu Walther und rief laut: »Ihr!«

»Walther«, stöhnte Markwart.

»Ihr seid doch der Sänger«, sagte der Junge. Es dämmerte Walther, dass es der Sohn des Hauses sein musste, der im letzten Jahr noch einmal ordentlich gewachsen war.

»Das bin ich, und inzwischen ein paar Drachen mehr begegnet.«

»Herr Walther«, sagte der Junge gekränkt, »ich bin kein Kind mehr. Ich weiß, dass es keine Drachen gibt.« Dann grinste er. »Aber Löwen. Der König hat einen aus Aquitanien mitgebracht und dem Erzbischof geschenkt. Wir durften ihn alle beim letzten Umzug bewundern. Ich wette, Löwen habt Ihr noch nicht gesehen.«

Am Wiener Hof gab es zwei, die der alte Herzog aus dem Heiligen Land mitgebracht hatte, obwohl sie von dort auch nicht herkommen sollten. Doch hier galt es, eine Gelegenheit zu nutzen. »Nein«, sagte er. »Aber der römischen Wölfin bin ich begegnet, und noch ein paar anderen Ungeheuern. Wollt Ihr darüber hören?«

»Das und noch vieles mehr.« Der Junge trat einen Schritt näher. »Ich dachte, Ihr wüsstet vielleicht, was aus meiner Base Jutta geworden ist«, sagte er mit gesenkter Stimme.

Walther erstarrte. Er öffnete den Mund, um zu fragen, ob sie denn nicht hier sei, und schluckte die lächerliche Frage gerade noch rechtzeitig hinunter. Er konnte es sich nicht leisten, noch mehr Fehler zu machen.

»Ich sehe, wir haben einander eine Menge zu erzählen«, sagte er und zwang ein entwaffnendes Lächeln auf seine Lippen. »Darf ich noch einmal die Gastfreundschaft Eures Hauses für mich und meinen Knappen erhoffen?« Vom Sohn des Hauses eingeladen zu werden, ersparte langwierige Erklärungen und Bestechungsgelder bei Hauswachen, die, wie sich herausstellte, keine Kriegsknechte waren, sondern zum Gesinde gehörten und nur mit Knüppeln ausgestattet worden waren. Eine Vorsichtsmaßnahme, auf die der Hausherr bestand.

»Mein Vater sagt, man kann nie wissen in diesen Zeiten«, meinte Paul. Ob er sich dabei auf den Krieg oder auf etwas anderes bezog, ließ er offen. Er selbst plante, für Otto zu kämpfen, sobald es sein Vater ihm erlaube. »Philipp muss ein ehrloses Ungeheuer sein«, fügte er hinzu.

»Sagt das Euer Vater?«

»Nein, das kann ich selbst erkennen, wie jeder in Köln. Er hat Straßburg bereits angreifen lassen, bevor er im September in Mainz gekrönt worden ist!«

»Nun, er war gewählt, und da der Bischof von Straßburg sich für Otto … für den König erklärte …«

»Und dann«, fuhr Paul fort, »hat er Andernach verwüstet. Unser Andernach!«

»Eine der wichtigsten Festungen des Stifts«, sagte Walther zu Markwart, der immer unbehaglicher dreinblickte.

»Was mit der Nonne geschehen ist, hat aber nichts mit Festungen zu tun«, rief Paul empört. »Oder habt Ihr etwa nichts davon gehört? Eine Nonne von Andernach ist geteert, gefedert und verkehrt herum auf einem Pferd durch die Gegend geführt worden. Wer tut einer Frau Gottes so etwas an? König Otto würde seinen Mannen so ein Verhalten niemals gestatten. Er ist ein echter Ritter.«

»Wir sind auf dem Weg hierher durch Dörfer gekommen, die von König Ottos Leuten verwüstet waren«, sagte Markwart und klang, als versuche er, etwas vor sich selbst zu rechtfertigen. Die Geschichte von der Nonne klang wirklich übel, das musste Walther zugeben. Aber gerade jetzt konnte er nicht darüber nachdenken, ob sie stimmte, genauso wenig wie ihm danach war, dem Jungen zu erzählen, die Welfen hätten das Marienstift in Aachen, das schon seit Karl dem Großen kirchliches Gebiet war, seinen Thron beherbergte und schon seit ewigen Zeiten Immunität gegenüber allen weltlichen Mächten besaß, mit Gewalt erobert, nur um Otto dort krönen zu können. Die Kanoniker, so hieß es, habe man dabei zwingen wollen, Frauenkleider zu tragen. Nein, man habe sie gezwungen, im Staub zu kriechen. Nein, man habe sie gezwungen, einander die Schwänze zu lutschen. Die Geschichten wurden jedes Mal wilder und abstoßender, je öfter sie erzählt wurden. Im Grunde bewiesen diese Mären nur, dass die Anhänger von Otto und Philipp wussten, was für eine Waffe ein guter oder schlechter Ruf heutzutage war. Und das wiederum bewies, dass sie sich beide mittlerweile stark in die Enge getrieben sahen.

»Ich würde gerne mehr von Ottos Ruhmestaten hören«, sagte Walther und zerbrach sich den Kopf, wie er das Gespräch wieder auf Judith lenken konnte. Anscheinend erhörte ein Schutzheiliger, den er noch gar nicht angerufen hatte, seine Hoffnung, denn Paul sagte bereitwillig: »Nun, jeder weiß, dass Otto ein so tapferer Krieger wie sein Onkel ist, aber er tut auch Edles, von dem niemand erfährt. Mein Vater hat mir erzählt, dass er die Ehe zwischen Jutta und Gilles gestiftet hat. Wisst Ihr, Gilles ist ein netter Kerl, aber eben sehr arm, und Jutta hat von ihrem Vater auch nicht viel geerbt. Als der König in Chinon von der Not der beiden hörte, als Vater sie mitgenommen hatte, um den König zur Wahl zu bitten, da hat er ihnen sogar eine Hochzeitsfeier ausrichten lassen!«

»Was für ein großzügiger Fürst«, murmelte Walther, erinnerte sich aber noch genau an die heftige Abneigung in Judiths Stimme, als sie ihm von dem Handel zwischen König Richard und ihrem Onkel um Kölner Zollprivilegien erzählte, und verstand die Welt wieder ein Stückchen weniger. Er hatte sie mit Gilles gesehen. Offenkundig empfand sie Zuneigung für ihren Gemahl. Wenn Otto wirklich ihre Ehe gestiftet hatte, warum war sie damals nicht voller Welfenbewunderung und daher unwillig gewesen, Geheimnis gegen Geheimnis zu tauschen? Vielleicht hatte Otto es für ihren Onkel getan, als zusätzlichen Gefallen und Dank für die angebotene Krone, aber wenn ein reicher Kaufmann wie Stefan einen Gemahl für seine Nichte suchte, dann bestimmt nicht einen, der von seinem Sohn gerade als sehr arm bezeichnet wurde.

Er musste zugeben, dass ihm die Möglichkeit gefiel, dass an Judiths Ehe etwas nicht stimmte, und schalt sich gleich wieder selbstsüchtig.

»Ich dachte, Jutta käme für seine Krönung zurück, als königliche Leibärztin«, sagte Paul niedergeschlagen. »Aber das tat sie nicht. Und … nun … ich dachte, vielleicht wisst Ihr mehr. Schließlich zieht Ihr durch die Lande, und sie, nun, sie kannte Euch von früher …«

»Herr Walther vom Vogelhain«, unterbrach ihn die Stimme seines Vaters, »wer hätte gedacht, dass Ihr noch einmal den Weg nach Köln findet!« Sein Gesichtsausdruck war ganz Wohlwollen. Walther war sofort auf der Hut.

»Nun, wer fände nicht gerne den Weg in eine solch schöne Stadt zurück«, sagte er vorsichtig.

»Ein Mann, der Lieder darüber schreibt, warum Philipp der wahre König der Deutschen ist?«, fragte Stefan belustigt. »Wie ging das noch gleich – Sie lachen beid’ einander an, die Krone und der junge süße Mann?«

Hinter Walther holte Markwart laut Luft.

»Fast«, sagte Walther. »Die Edelsteine, nicht die Krone. Die Krone habe ich schon ein paar Verse vorher verwendet. Aber ich finde es äußerst schmeichelhaft, dass Ihr meine Lieder kennt, besser noch als meinen Namen!«, schloss er und zauberte sein strahlendstes Lächeln hervor. Es war nicht ganz ungeheuchelt. Gewiss, nun bestand die Möglichkeit, dass er früher als erwartet aus Köln hinausgeworfen wurde, aber ein Beweis dafür, dass seine Lieder in der Hochburg der Welfen bekannt waren, war ganz und gar nicht zu verachten.

»Ihr seid für Philipp?«, fragte Paul enttäuscht.

»Ich«, gab Walther zurück, Stefan nicht aus den Augen lassend, »bin für den rechtmäßig gekrönten König, der bedürftige Menschen unterstützt, Arme, Heimatlose und natürlich fahrendes Volk.«

»Ah«, sagte Stefan und lud Walther zu einem Stockfischmahl ein. Nicht in seinem Haus, fügte er hinzu; er spüre die härteren Zeiten so wie die meisten Kölner, doch sein Freund Constantin gebe heute ein kleines Fest, wo ein Sänger mehr als willkommen sei. »Euer Knappe wird allerdings hierbleiben müssen. Mein Gesinde wird sich um ihn kümmern.«

»Nie würde es mir einfallen, Eure Gastfreundschaft auszunutzen, wenn Ihr selbst darbt«, sagte Walther. »Mein Knappe wird in einer Schenke speisen, macht Euch um ihn keine Sorgen.«

Markwart hatte nichts dagegen, bis ihn Walther beiseitezog und bedeutete, er solle ihnen unauffällig folgen, wenn sie das Haus verließen. »Walther, ich habe wirklich Hunger.«

»Und ich traue diesen Kölner Kaufleuten nicht. Wenn ich irgendwo in einem Keller eingesperrt ende, dann wüsste ich gerne, dass du mich herausholen kannst.«

»Das füllt mir den Magen nicht«, grummelte Markwart, doch Walther wusste, dass er ihn nicht im Stich lassen würde. Ob Markwart es fertigbrachte, irgendjemandem unauffällig zu folgen, war eine andere Frage.

Sie gingen bald schon gemeinsam mit zwei Knechten als Fackelträger und Geleitschutz los. Wie Walther erwartet hatte, hörte Stefan auf, Belanglosigkeiten mit ihm auszutauschen, noch ehe sie zwei Straßen weiter waren; da die Knechte gebührenden Abstand hielten, konnten sie sich mit gesenkten Stimmen unterhalten.

»Ihr seid nicht dumm, Herr Walther«, sagte Stefan. »Also verschwendet bitte nicht weiter meine Zeit. Warum seid Ihr in Köln? Der König hat bereits Sänger, die ihn lobpreisen. Noch mehr kann er sich nicht leisten, ganz gleich, wie gut Ihr Verse schmiedet.«

»Um ganz offen zu sein, Meister Stefan, ich bin Euretwegen hier, und um Eurer Kaufmannsfreunde. Ich kann ja verstehen, dass Ihr König Otto für ein besseres Geschäft als König Philipp gehalten habt, bei den englischen Verbindungen. Aber jetzt, da sein Onkel tot ist, da sieht die Sache doch wohl anders aus.«

Stefan runzelte die Stirn. »König John wird die Versprechungen seines Bruders einhalten.«

»Seid Ihr da sicher? Vielleicht trügt mich mein Gedächtnis, aber als wir in Wien alle darauf hofften, dass der englische König so bald und so reich als möglich von seiner Verwandtschaft ausgelöst werden würde, da erreichte uns die Nachricht, dass John sein Bestes gab, damit Richard gefangen bliebe. Außerdem hat doch Euer Otto selbst einmal auf die englische Krone gehofft, und König Richard hat ihn auch bevorzugt, bis Ihr ihm die deutsche Krone angeboten habt. Ihm, nicht John. Also, ich würde sagen, die Möglichkeit, dass König John König Otto die Geldmittel kürzt und zu sparen anfängt, ist beträchtlich; als Erstes bestimmt bei den Kölner Zollprivilegien, weil ihm das etwas einbringt.«

»Solltet Ihr als Sänger nicht nur an Ehre und Liebe denken, statt an so schnöde Dinge wie Geschäfte?«, fragte Stefan. Seine Mundwinkel zuckten. Doch er hatte sich nicht die Mühe gemacht, irgendetwas von dem zu widerlegen, was Walther gesagt hatte.

»Philipp kann Euch keine englischen Zollprivilegien anbieten«, sagte Walther, »aber dafür Frieden im Land. Wenn Otto Köln verliert, dann ist dieser Krieg zu Ende, und das muss doch auch Eurem Handel zugutekommen.«

»Mit anderen Worten, Ihr bietet mir gar nichts für viel an, was wir haben. Das muss sich wirklich Philipp ausgedacht haben. Nur ein schwäbischer Fürst hält so etwas für einen gerechten Handel.«

Zumindest schien Stefan noch nichts von der Entscheidung des Papstes für Otto gehört zu haben, was ein Vorteil war, der aber leider nicht mehr sehr lange halten mochte.

»Nein, was Euch angeboten wird, ist mehr statt weniger. Und weniger ist das, was Ihr bekommt, wenn Köln beim Welfen bleibt: Keine Vorzüge im Handel mit den englischen Territorien mehr, ganz gleich, ob Ihr welfisch oder staufisch schwenkt, aber mehr und mehr Bewaffnete benötigt, um Handelszüge in unseren Landen überhaupt noch durchzubringen. Wie viele Dörfer und Festen stehen im Erzstift eigentlich noch so, wie sie einst waren? Ich bin auf dem Weg hierher jedenfalls nicht mehr an vielen stattlich aussehenden Burgen und Orten vorbeigekommen.«

Die Abendluft war feucht, vielleicht des Rheines wegen. Walther konnte fast spüren, wie sich die kleinen Tröpfchen, die in der Luft hingen, in seine Kleider saugten, und sie im blassen Schein der untergehenden Herbstsonne auch auf Stefans Gesicht erkennen.

»Köln ist das Juwel in Ottos Krone«, begann Stefan.

»Die nicht die echte ist«, unterbrach ihn Walther.

»Weil Philipp die Insignien des Reiches nicht herausrücken will, obwohl sie ihm nicht zustehen«, parierte Stefan. »Otto hat uns bereits zur bevorzugten Stadt des Reiches erklärt, was nur Vorteile bringt. Wenn wir auf Philipps Seite übergingen, dann wären wir nur eine staufische Stadt mehr, und ich bezweifle, dass er die Toten wieder zum Leben erwecken kann. Um ganz offen zu sein, Herr Walther, wenn Philipp uns nicht dringend brauchen würde, dann hätte er Euch gar nicht geschickt. Warum sollten also wir Philipp brauchen?«

»Wie steht es denn um Euren Handel mit Frankreich?«, fragte Walther. Er hatte gehofft, sich dieses Argument noch etwas aufsparen zu können, bis er mehr als einen der großen Kaufleute von Köln vor sich hatte.

»Da die meisten und größten Fürstentümer Frankreichs dem König von England gehören, steht es mit unserem Handel ausgesprochen gut.«

»Hmm … das ist auch so eine Geschichte, bei der mich mein Gedächtnis trügen mag, aber ich habe noch nie gehört, dass John ein guter Feldherr sein soll. Deswegen ist er ja auch seinem toten Bruder stets unterlegen, nicht wahr? Und der französische König mag die englischen Herrscher allesamt nicht leiden. Wie lange, glaubt Ihr, kann der neue englische König sich gegen den Franzosen halten, nachdem der die volle Unterstützung der Staufer hat?«

»Länger als Ihr, wenn ich Euch den Leuten des Erzbischofs als Philipps Mann übergebe«, sagte Stefan. »Wenn Ihr dann nur geteert und gefedert werdet, um die Angelegenheit mit der Nonne wettzumachen, dann habt Ihr Glück. Gestern erst haben mehrere Familien in dieser Stadt Söhne verloren. Ich glaube, wenn man ihnen einen von Philipps Leuten anböte …« Er breitete die Arme aus und drehte die Handflächen nach oben. Walther dachte daran, wie schnell in Wien eine Menge zu Mördern geworden war. Ja, er kannte die Menschen inzwischen.

Und deswegen würde er dieses Spiel auch gewinnen.

»Ich erzähle Euch jetzt nicht, was man über Ottos Leute bei der Eroberung von Aachen erzählt. Was ich von Euch wissen will, ist, womit Ihr Eure Nichte aus der Stadt getrieben habt?«, fragte er abrupt und blieb stehen.

»Was?«, gab Stefan, vom jähen Wechsel überrascht, zurück.

»Euer Sohn«, sagte Walther und musste die Schärfe in seiner Stimme nicht heucheln, »hat mir erzählt, dass Graf Otto so gütig war, die Hochzeit Eurer Nichte zu stiften. Wisst Ihr, ich kann mich an Graf Otto aus seiner Zeit als Geisel in Wien noch gut erinnern. Da ist er Eurer Nichte schon einmal begegnet, und damals war er alles andere als freundlich zu ihr, aber was die Sache vollends merkwürdig macht, ist, dass Euer Welfe jetzt in Köln weilt, aber Eure Nichte und ihr Gemahl nicht mehr, und dass in Eurem Haushalt kein Mensch weiß, wo sie ist, obwohl Ihr Judiths nächster Verwandter seid.«

Wie Wetterleuchten konnte er Ärger und Sorge über Stefans Gesicht huschen sehen; das machte aus dem nagenden Unbehagen, das ihn erfüllte, seit Paul ihn nach Judith gefragt hatte, Furcht. Er hatte eigentlich erwartet, dass Stefan schnell eine gute Erklärung parat hatte, und die Sache hauptsächlich angesprochen, um den Mann aus seiner überlegenen Selbstsicherheit zu holen. Stattdessen ließ der Kaufmann Moment nach Moment verstreichen, ohne Walther zu fragen, was ihn eigentlich seine Nichte anging.

»Himmelherrgott«, sagte Walther, nun aufrichtig bestürzt. »Was habt Ihr Eurer Nichte angetan?«

Inzwischen hatte Stefan sich wieder gesammelt. »Ihr vergesst Euch, Herr Walther.«

»Und Ihr habt mich immer noch nicht den Leuten des Erzbischofs übergeben. Wisst Ihr, wenn ich es mir recht überlege, dann ist der einzige Grund, dass Ihr mir damit droht, statt es schon längst getan zu haben, der, dass Ihr etwas von mir wollt. Wenn es ein besseres Angebot von König Philipp ist, dann habt Ihr kein Glück. Gerade jetzt weiß ich nicht, ob Philipp Köln und Otto nicht einfach einander überlassen sollte, während er im Rest des Reiches regiert.«

»Mein Freund«, sagte Stefan, wieder ganz Gelassenheit, »Ihr redet Unsinn. Es gibt in der Tat einen Grund, warum ich nicht längst die Wachen auf Euch gehetzt habe, und der liegt nicht darin, dass Ihr so eine angenehme Stimme habt. Ihr scheint ein gewisses Talent dafür zu besitzen, an allen möglichen Orten aufzutauchen, wo Ihr nichts zu suchen habt. So etwas finde ich nützlich.«

Worauf immer Stefan hinauswollte, änderte nichts daran, dass etwas mit Judith geschehen war, etwas, das nicht gut sein konnte. Auf einmal erschienen ihm die Phantasien, die er bisher dazu gesponnen hatte, als kindisch und töricht.

»Wenn das ein Angebot sein soll, auch für Euch an ein paar Orten aufzutauchen, dann haben wir ein Besoldungsproblem, Meister Stefan, denn meine erste Entlohnung wäre eine Antwort auf die Frage, was zum Teufel mit Eurer Nichte geschehen ist und wo sie sich jetzt befindet.«

»Ich hatte anderes erwartet!« Stefans Stimme war voller Spott. »Etwas wie eine empörte Erklärung, dass Euer Herz nur für Philipp schlägt, oder dass Kaufleute unter Eurer Würde seien.«

»Kein Mensch, der sich meine Verse gut genug merkt, um daraus zitieren zu können, ist unter meiner Würde«, sagte Walther, ohne zu lächeln. »Was ist mit Eurer Nichte geschehen und diesmal keine Ausflüchte, bitte.«

»Das eben sollt Ihr für mich herausfinden«, sagte Stefan. »Nach dem Stockfischessen.«

Sie hatten nur noch ein paar Schritte bis zu Constantins Haus zu gehen. Walther verzichtete darauf, noch etwas zu fragen. Er wurde aus Stefan nicht schlau: Ging es dem Mann nun um ein besseres Angebot von Philipp? War er an einem Spitzel in Philipps Lager interessiert? War er wirklich um seine Nichte besorgt? Benutzte er sie nur als Vorwand, den ihm Walther durch seine besorgt klingende Frage geliefert hatte? Es hatte Momente auf dem Weg zu Constantin gegeben, in denen Stefan Walther Anlass bot, dies alles zu glauben, und nichts davon.


Constantin wirkte wie ein gemütlicher Mann, der sich nur selten bewegte und einen gut gefüllten Bauch durch die Gegend trug, aber seine Augen waren hellwach, und er tat keinen Moment so, als glaube er, dass Walther ihm ein paar Lieder vortragen wolle.

»Wenn Herr Otto«, fragte er, »dem Herzog von Schwaben den Erhalt seines Herzogtums verspräche, träte Philipp dann von seinem Anspruch auf die Krone zurück?«

Über dergleichen hätte Philipp nie mit Walther gesprochen, doch wenn man als Verhandlungspartner akzeptiert werden wollte, dann durfte man nicht zugeben, nur ein kleines Licht zu sein. Außerdem musste es sich um eine Prüfung handeln: Sollte Stefan ernsthaft beabsichtigen, Walther als Spitzel anzuwerben, dann musste er gewiss sein, nicht mit falschen Auskünften abgespeist zu werden.

»Nein«, sagte Walther. »Nicht zuletzt, weil er ein solches Angebot nie glauben würde, selbst wenn Herr Otto es mit eigenem Blut auf Kölner Pergament schriebe.« Um das zu sagen, brauchte man kein Vertrauter Philipps zu sein; der gesunde Menschenverstand genügte. Es lag nicht nur am bösen Blut zwischen Welfen und Staufern, daran, dass Philipps Vater einst das Herzogtum von Ottos Vater in einzelne Fürstentümer zerschlagen und unter seinen Anhängern verteilt hatte. Jeder wusste, dass die Welfen geschworen hatten, ein Gleiches mit dem staufischen zu tun. Philipp und Otto waren beide gewählt und gekrönt worden, der eine mit den echten Reichsinsignien von der Mehrzahl der Fürsten, der andere vom richtigen Bischof am richtigen Ort, aber mit einer Kopie von Karls Krone, Apfel und Zepter. Einen bereits einmal gekrönten König ließ man sicher nicht im Besitz eines der reichsten Herzogtümer, wenn man selbst König sein und als rechtmäßig von allen weltlichen und geistlichen Fürsten anerkannt werden wollte.

»Die Welt versinkt in Misstrauen«, seufzte Constantin. »Sogar die Kinder erfasst es.«

Beide betrachteten Walther aufmerksam, Constantin und Stefan, und er hatte das Gefühl, dass er einer weiteren Prüfung unterzogen wurde; es war eine Anspielung, die er verstehen musste. An Philipps im letzten Jahr geborene Tochter dachten sie bestimmt nicht.

Wenn man stolz auf seinen Verstand ist, dachte Walther, muss man ihn einsetzen. Kinder. Misstrauische Kinder. Von Bedeutung für Köln, oder Otto, oder beide. Wozu brauchte ein Fürst Kinder? Als Nachfolger. Legitime Kinder aus einer Ehe.

»Herr Otto«, sagte Walther, einer vagen Vermutung nachgehend, »ist immer noch Junggeselle, wie? Ich muss sagen, das überrascht mich. Wir dachten doch alle, dass der Brabanter ihn zu seinem Schwiegersohn machen würde.«

Die Kaufleute warfen sich einen Blick zu. Dann sagte Constantin: »Bis die junge Marie erwachsen ist, kann noch so manches geschehen. Vielleicht ist ihre Gesundheit nicht die stärkste. Sie scheint im letzten Jahr eine Ärztin gebraucht zu haben.«

Etwas in Walther wurde kälter.

»Und dann«, sagte Stefan, »begannen die Gerüchte, dass der Herzog von Brabant mehr als eine Tochter hat und sich vielleicht nicht nur einen welfischen Schwiegersohn wünscht. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass Herr Otto nicht glücklich war, dergleichen zu hören, zumal eine Mitgift etwas ist, das man eben nur bei der Eheschließung erhält. Dass die Ehe auf einmal davon abhängig gemacht wurde, wann er überall im Reich als König anerkannt sei, war neu und nie vereinbart gewesen.«

Constantin räusperte sich. »Herr Otto ist ein guter Fürst, doch seine englischen Verwandten sollen vom Teufel selbst abstammen, und manchmal, so scheint es fast, blitzt ein wenig von jener unseligen Erblast durch.«

»Sollte ein guter Christ denn Nachkommen des Teufels auf den Thron verhelfen?«

»Ihr vergesst«, sagte Stefan leise, »dass so mancher glaubt, dass keiner hier im Raum ein Christ ist, ob gut oder nicht … bis auf Euch, Herr Walther.«

Constantin runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts. Walther war sich nicht sicher, wie er diesen Hinweis auf die Verwundbarkeit aufnehmen sollte, die Constantin und Stefan als getaufte Juden hatten; als Vertrauensbeweis? Als Herausforderung? Und was hatte das mit Judith zu tun?

»Wir sind sehr vertraut mit der Angewohnheit von anderen guten Christen, sich Sündenböcke zu suchen«, fuhr Stefan fort. »Als nun Herrn Otto zu Ohren kam, dass er, wie Ihr Euch auszudrücken beliebtet, noch länger Junggeselle sein würde als beabsichtigt, da wünschte er sich sehr einen Sündenbock, und es lag nahe, wem er die Schuld geben würde.«

»Wollt Ihr damit sagen«, unterbrach ihn Walther ungläubig, »Ihr habt Eure Nichte als Ärztin nach Brabant geschickt und sie dann Otto ausgeliefert?«

Stefan schlug mit der Handfläche auf den Tisch, dass die Holzteller klapperten, auf denen die Stockfische lagen. »Ihr seid doch dümmer, als ich dachte«, sagte er scharf. »Der Staufer war es! Euer Staufer, dem offensichtlich nicht daran gelegen ist, die rechte Hand wissen zu lassen, was die linke tut. Und es ist ihm sehr daran gelegen, Werkzeuge loszuwerden, die er nicht mehr braucht. Ihr wollt wissen, was aus meiner Nichte geworden ist? Dann kehrt zu Philipp zurück und findet es heraus. Wem, glaubt Ihr wohl, hat es genützt, dass die Brabanter auf einmal ein doppeltes Heiratsspiel betreiben können? Eurem jungen Mann, den die Kronjuwelen so anlachen in Eurem Lied, nicht Otto!«

Constantin legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Mein Freund, du weißt nicht, was geschehen ist. Gewiss geht es deiner Nichte gut.«

»Ich weiß, dass sie es gewesen ist, die Marie von Brabant behandelt hat«, sagte Stefan bitter. »Jutta aus Köln! Sie hat sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, ihren Namen zu verbergen. Ich weiß auch, dass sie danach vom Angesicht der Erde verschwunden ist!« Er wandte sich Walther zu. »Und Ihr seid schuld«, sagte er mit echten Tränen in den Augen. »Ihr habt ihr von der Byzantinerin und ihrer Schwangerschaft erzählt. Ihr habt ihr damit in den Ohren gelegen, dass Irene so allein sei. Da fühlte sie sich verantwortlich und hat die Stadt verlassen, um dieser Fürstin beizustehen, die nichts Besseres zu tun hatte, als meine Nichte als Spitzel zu missbrauchen und dann jede Verantwortung für sie zu leugnen! Verdammt, es ist Eure Pflicht und Schuldigkeit, jetzt nach ihr zu suchen.«

Er war leidenschaftlich, heftig und überzeugend, ein besorgter Onkel, und Walther glaubte ihm, einen, zwei, drei Herzschläge lang, bis ihn eine warnende Stimme in seinem Verstand an etwas erinnerte, das an Stefans Geschichte falsch klang: Wäre Judith gegangen, um Irene beizustehen, dann wüsste Paul davon; es war kein Grund, den man verheimlichen musste, selbst in einer welfisch gesinnten Stadt wie Köln nicht.

Es mochte durchaus sein, dass Judith die kleine Marie von Brabant behandelt hatte, und sogar im Auftrag der Staufer. Wenn Stefan ihm das erzählte, musste es einen Grund haben. Er wollte Walther gegen die Staufer wenden, nicht nur mit Gold, sondern auch mit seinen Gefühlen, so viel war klar. Er wollte einen Spitzel an Philipps Hof; Walthers ständiges Fragen nach Judith hatte ihm gewiss den Eindruck verschafft, dass ihm mehr an ihr gelegen war, als es sich für eine flüchtige Bekanntschaft ziemte.

Die besten Lügen, dachte Walther, der sich selbst in dieser Beziehung auskannte, sind solche, die zum größten Teil der Wahrheit entsprechen, nur eben aus einem anderen Blickwinkel.

Leider beruhigte ihn nichts an diesen Überlegungen. Ottos Hochzeitsabsichten hinsichtlich der Tochter des Brabanters hatten sich im letzten Jahr überall im Reich herumgesprochen, und sollte Judith sich in der Nähe der kleinen Marie befunden haben, dann war es in der Tat wahrscheinlich, dass Otto einen Sündenbock wollte und irgendwann auch fand. Was Philipp betraf, so bezweifelte Walther, dass der Staufer Judith als Gefangene auslösen würde. Er würde ihr einen Platz an seinem Hof geben, um seiner Gemahlin einen Gefallen zu erweisen, aber wenn ihm Otto eine Botschaft zukommen ließ, er habe eine jüdische Ärztin als seine Gefangene, dann würde Philipp wohl so tun, als habe er noch nie von Judith gehört. Geiseln waren nur wertvoll, wenn sie zur Familie eines Fürsten zählten. Ja, auch dieser Teil von Stefans Behauptungen klang wahrscheinlich genug … bis man bedachte, dass Judiths Verwandtschaft mit Stefan kein Geheimnis war, schon gar nicht für den Mann, der in Chinon ihre Ehe gestiftet hatte. Sollte ein grollender Otto sich daher für die Hinauszögerung seiner Ehe durch eine Gefangennahme und ein Goldpflaster rächen wollen, dann wäre Stefan und kein anderer der Allererste, der davon erfahren hätte.

Nichts davon drang über Walthers Lippen. Sollte Stefan glauben, dass er ihm jedes Wort abnahm. Den Kaufmann der Lüge zu bezichtigen oder gar zur Rede zu stellen, hatte sich auf der Straße als fruchtlos erwiesen und würde hier bestenfalls dazu führen, dass Walther hinausgeworfen wurde. So zu tun, als habe ihn Stefan überzeugt, würde ihm dagegen wenigstens die Möglichkeit geben, herauszufinden, ob Stefan mehr als nur eine allgemeine Anwerbung im Sinn hatte, und vielleicht auch, was wirklich mit Judith geschehen war. Also schluckte Walther, schlug die Augen nieder, verzichtete im letzten Moment darauf, die Hände zu ringen, weil er Stefan nicht durch Übertreibung misstrauisch machen wollte, und sagte: »Aber wo? Wo soll ich suchen? In Brüssel?«

»Das wäre sinnlos«, warf Constantin rasch ein. »Wir haben … Freunde am herzoglichen Hof. Wenn sich die Magistra noch dort befände, dann wüssten wir davon.«

»Da König Otto derzeit in Eurer eigenen Stadt residiert«, sagte Walther harsch, »nehme ich an, dass Ihr auch einen Freund in seiner Umgebung habt, der sich dort bereits nach der Magistra umgesehen hat.«

»Ich habe Euch gesagt, dass ich nie Zeit verschwende«, gab Stefan zurück. »Verschwendet also auch nicht die meine. Ihr wisst, wo Ihr zuerst suchen müsst: bei Philipp. Er wird wenigstens wissen, was er Jutta aufgetragen hat und wann er das letzte Mal von ihr oder über sie hörte.«

Gut möglich, dachte Walther, aber warum bin ich mir nur sicher, dass Ihr von mir Erkundigungen nach mehr als Eurer Nichte wollt? Laut sagte er: »Um ganz offen zu sein, wenn König Philipp mich das nächste Mal empfängt, wird er vor allem etwas von mir hören wollen, nämlich darüber, was die Kaufleute von Köln veranlassen könnte, ihre Unterstützung des Welfen aufzugeben. Wenn ich darauf keine Antwort weiß …«

Er ließ seinen Satz unvollendet ausklingen. Stefans Tränen waren getrocknet, und er musterte Walther mit Augen, denen keine Schwäche anzumerken war.

»Erzählt mir nicht, dass Ihr nicht mittlerweile auch die Männer in Philipps Umgebung gut genug kennt, um sie zum Sprechen zu bringen.«

Walther plante bereits, Irene nach Judith zu fragen, doch das ging Stefan nichts an. »Einige von ihnen«, gab er zurück, »kenne ich gut genug, um zu wissen, dass sie einer volleren Börse nicht abgeneigt wären. Mit leerem Magen dagegen werden sie gewiss schweigsam bleiben.«

»Herr Walther von der Vogelweide«, sagte Constantin langsam, »habt Ihr tatsächlich das Herz, einem Mann, der sich um seine Nichte sorgt, auch noch Geld abzuknüpfen dafür, dass Ihr seine Seele beruhigt seht?«

Jetzt kam es darauf an, dass er sich in seiner Einschätzung der Kölner Kaufleute nicht irrte.

»Ja«, sagte Walther, nicht mehr, nicht weniger. In Gedanken begann er zu zählen, während das Schweigen zwischen ihnen das Rumoren in den übrigen Räumen von Constantins Haus hörbar machte. Auf seinem Teller lag ein nur halb aufgezehrter Stockfisch. Walther hatte keinen Hunger, doch er begann, Teile vom Fisch und dem Brot hinunterzuwürgen. Alles in ihm war gespannt.

Als Walthers schweigendes Zählen bei neun angekommen war, verzog sich Constantins Gesicht zu einem Lächeln.

»Bei Gott, Ihr seid der Richtige. Ihr sollt Silber für Euch und für weitere Singvögel haben, wenn die ihre Fähigkeiten beweisen.«

Stefans Gesicht blieb ernst. »Wir wollen die Namen, wenn Ihr Erfolg habt«, sagte er. »Von jedem einzelnen Höfling. Wir sind keine Edelleute, Herr Walther. Wir können rechnen. Wir wollen über Ausgaben und Erfolge Bescheid wissen, erst recht, wenn da mehr Ausgaben sein sollten als Erträge.«

Das war es also, was Stefan wirklich wissen wollte: Wer in Philipps Umfeld bereit war, Geheimnisse auszuplaudern, und mit wem die Kölner Kaufleute ins Geschäft kommen konnten. Walther brauchten sie eigentlich nur als unauffälligen Zwischenträger. Aus Kölner Sicht war das überaus vernünftig, das konnte Walther sogar verstehen: Ihre Stadt und die Umgebung hatten durch die Staufer stark gelitten. Wenn sie sichere Gewährsleute an Philipps Hof finden konnten, dann würde Otto von so etwas wie der Belagerung von Straßburg nicht mehr überrascht werden, es würde ihm vielleicht sogar irgendwann – zusammen mit der Unterstützung des Papstes – zum Durchbruch verhelfen und damit Köln zum stabilen Mittelpunkt als reichste und mächtigste Stadt im Reich machen. Es gab nichts, was Philipp bieten konnte, das sich damit vergleichen ließ.

Doch so einsichtlich das alles war, so gab es doch etwas, das Walther gleichzeitig frösteln ließ und zornig machte. Irgendetwas musste wirklich mit Judith geschehen sein. Vielleicht sagte sich Stefan, dass er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte: entdecken, was mit seiner Nichte geschehen war, und dazu ein paar nützliche Quellen an Philipps Hof finden. Vielleicht war er sogar rachsüchtig, denn wenn sie die Herzogin von Brabant und ihre Tochter beeinflussen konnte, dann hatte sie die Dinge für Stefan und seine Freunde sehr viel schwieriger gemacht. Doch ganz gleich, was in seinem Herzen vorging, er zögerte gerade nicht, seine Nichte zu benutzen, um einen seiner Pläne umzusetzen.

»Braucht Ihr die Namen in Blut?«, erkundigte Walther sich höflich. »Oder tut es einfaches Wachs?«

»Ein Siegel«, entgegnete Stefan, noch immer ohne zu lächeln. »Siegel auf Pergament. Jeder der Herren bei Hofe sollte einen Siegelring haben, und Ihr …«

Walther hatte inzwischen angefangen, das Pergament, das er ergattert hatte, zu benutzen, und nicht die geringste Absicht, seine Lieder zugunsten einiger adeliger Wappen in Siegellack abzuschaben. »Dann denkt daran, mir auch genügend Geld für Pergament zu geben«, sagte er ungerührt.

»Wir sind uns also einig?«, fragte Constantin.

»Das sind wir.« Ein paar Namen waren kein Problem, er hatte ja bei seinem eigenen genügend Phantasie gezeigt, und gern gelesene Nachrichten zu schreiben wäre auch nicht schwer. Einfache Siegel konnte man schnell aus Holz schnitzen, und die meisten Wappen hatten ohnehin nur Adler, Löwen, Helme oder Tauben, die man kaum noch unterscheiden konnte. Je nachdem, was er über Judith herausfand, würde er bestimmt sogar die Gelegenheit nutzen, um den Kölnern und damit Otto falsche Nachrichten zu vermitteln. Egal was passierte, es würde ihm nutzen, nicht ihnen. »Das sind wir«, wiederholte er, »wenn Ihr mir die Gelegenheit verschafft, vor dem Erzbischof zu singen.«

Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte er die Genugtuung, Stefan verblüfft zu erleben.

»Ist das ein Scherz?«, fragte Constantin aufrichtig neugierig.

»Nun, Meister Constantin, Meister Stefan, ich kann nicht mit leeren Händen zu den Staufern zurückgehen und erwarten, lange genug am Hof zu bleiben, um etwas über die Magistra herauszufinden, geschweige denn, mehrere edle Herren davon zu überzeugen, dass ihr Leben mit Eurer Unterstützung etwas leichter werden wird. Wenn ich aber glaubwürdig den Hof des Erzbischofs beschreiben kann, dann wird man sehen, dass ich hier nicht meine Zeit verschwendet habe.«

»Nun, der Erzbischof bittet die Domherren regelmäßig zu Tisch, da könnte man …«

»Wunderbar! Ich danke Euch.«

»Herr Walther«, sagte Stefan langsam, »ist das wirklich Euer einziger Grund, um beim Erzbischof vorgestellt zu werden?«

Walther machte ein steinernes Gesicht. »Nein.«

»Welchen anderen Grund gibt es?«

»Ich weiß nicht, warum ich das immer wiederholen muss«, sagte Walther, »aber ich bin ein fahrender Ritter und Sänger. Der Erzbischof von Köln ist auch der Herzog vom Rhein, einer der großen Herren des Reiches. Nichts für ungut, aber ganz gleich, wer der letzte König auf dem Schachbrett sein wird, ein Erzbischof bleibt ein Erzbischof.«

* * *

»Kehlstück, Kopf, Milz und Lunge – und davon auch noch wenig«, schimpfte Markwart. »Etwas anderes gab es nicht. Dabei habe ich mich hier auf einen Ranzenspanner gefreut!«

Wie sich herausstellte, hatte er an der Armenspeisung teilgenommen, weil sie neben Constantins Haus stattfand. »Das gab mir schließlich eine Entschuldigung, dort herumzulungern«, sagte er, doch Walther vermutete, dass ihn schlicht und einfach der Hunger geplagt hatte.

»Die erzbischöfliche Küche morgen ist bestimmt besser«, sagte er aufmunternd. Zum Glück hatte er zwei Lauten dabei und verbrachte den Rest der Nacht damit, Markwart die Grundgriffe beizubringen, aber auch, wie er nur so tat, als ob er spiele. Auf diese Weise konnte er Markwart zu seinem Spielmann erklären, statt ihn noch einmal zurücklassen zu müssen, und sich sicherer fühlen. Die Lektionen fanden in einem Stall statt, weil Walther die Gastfreundschaft von Constantin und Stefan dankend abgelehnt hatte und in Schenken und Spitälern sonst kein Platz mehr war, weil so viele Menschen aus dem Kölner Umland in die Stadt geflohen waren.

»Ganz wie in alten Zeiten, wie? Und ich dachte, du wärest inzwischen ein großer Herr.« Markwart seufzte, als er sich ins Stroh fallen ließ. »Also, um ein Mädchen geht es? Himmelherrgott, das hättest du mir doch gleich sagen können.« Walther hatte behauptet, Stefan wolle nur herausfinden, was mit seiner Nichte geschehen sei, und habe ihm dafür das Spielen vor dem Erzbischof ermöglicht; von dem Verrat, um den es vor allem ging, musste Markwart nichts wissen.

»Sie ist verheiratet«, sagte Walther.

»Auf mein Schweigen ist Verlass!«, schwor Markwart, erkennbar an den Grund für seine eigene Flucht aus ihrem Heimatort denkend. Seine Worte brachten Walther zu Bewusstsein, dass er sich nicht so sehr von Stefan unterschied; er benutzte ebenfalls die Wahrheit, um jemanden anzulügen.


Adolf von Altena und seine Domherren tafelten in einem Stil, der sich mit dem Hof von Wien oder Hagenau mehr als vergleichen ließ. Kein Wunder, dass er den Kirchenschatz hatte verpfänden müssen und so sehr auf seine Kaufleute angewiesen war. Als Hauptgang wurde ein Pfau aufgetischt, ein Vogel, den Walther noch nie im Leben gesehen hatte, ganz gleich, ob lebendig oder tot, und trotz allen anderen Dingen, die ihm durch den Kopf gingen, starrte er auf die bunten, schillernden Federn, die man dem Tier vor dem Braten ausgerupft und dann wieder angesteckt haben musste. Wenn man die Macht besaß, solche Tiere aus weiter Ferne herbeischaffen zu lassen, warum sie dann schlachten, wenn man gleich vor der Haustür Fasane bekommen konnte, die bestimmt genauso schmackhaft waren? Daneben hatte man noch die Auswahl zwischen einem gesottenen Aal mit Pfeffer, gesalzenem Hecht mit Petersilie und einer Ente mit roten Rüben. Mit der Vielzahl dieser Gänge wollte der Erzbischof natürlich zeigen, wer der höchste Fürst unter den Fürsten des Landes war; der Pfau hingegen sollte ihm wohl das Gefühl geben, etwas Schönes und Seltenes verschwenden zu können. Walther schauderte.

Die adligen Domherren waren alle mit Bäuchen gesegnet, die für zwei Menschen reichen würden. Die ersten Becher Wein hatten ihnen bereits eine gesunde Gesichtsfarbe beschert. Ihrem Gerede konnte Walther entnehmen, dass sich Adolf zwar noch in seiner Rolle als Königmacher sonnte, doch Otto nicht vergessen zu haben schien, dass der Erzbischof die Krone zuerst Berthold von Zähringen angeboten hatte. Daher war niemand aus Ottos Gefolge anwesend, und es herrschte auch kein reger Austausch zwischen Ottos jeweiliger Residenz und Adolf. »Immerhin hat Otto den Kirchenschatz wieder von Trier nach Köln bringen lassen und einen neuen Schrein für die Gebeine der Heiligen Drei Könige versprochen«, hörte Walther einen Domherrn in schwarzer Soutane erzählen, neben dem er weiter unten an der Tafel plaziert worden war. »Die Schulden bei den Kaufleuten haben trotzdem eher zu- als abgenommen«, tuschelte ein anderer zurück, bevor er sich in normaler Lautstärke seinem Lieblingsthema zuwandte. Walther bezweifelte, dass diese Gespräche über neue Ämter für einen Neffen oder Pfarrstellen für einen Vetter in der Nähe des Bischofs unterblieben wären; derartiges Ämtergeschachere schien hier so alltäglich wie Mehl mahlen für einen Müller, zumal immer auch erörtert wurde, dass man zusätzlich zu dem Amt natürlich genügend Hilfskräfte für die eigentliche Arbeit brauchte.

Als sie sich darüber entrüsteten, dass die Preise für eine Entbindung vom Zölibat ständig stiegen und darin zukünftig auch nicht mehr die fällige Buße und die Beichte eingeschlossen sein sollten, war er noch belustigt. Doch das Lächeln verging ihm, als auch darüber gesprochen wurde, wie man sich den Grundbesitz der freien Bauern des Dorfes, wo am Tag vorher das Scharmützel stattgefunden hatte, aneignen könne. Es ginge immerhin um Höfe im Wert von zehn bis zwanzig Silbermark. Einer empfahl, einen der Stadtjuden hinauszuschicken, der Geld für einen Wiederaufbau anbieten konnte, um dann – anders als anständige Christen – ehrlos und betrügerisch Zins zu fordern. Dann wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis man die Gehöfte billig übernehmen könnte, weil die Zinslast den Bauern erdrücken würde; zudem war der Zehnte aus den geforderten Zinsen der Juden für die Kirche in jedem Fall gewonnen. Ein anderer hielt nichts von Zeitverschwendung und wollte einen seiner geschicktesten Vikare schicken, um die Menschen dazu zu bringen, für ihre Schwerverwundeten Gelübde abzulegen, also ihren Grundbesitz der Kirche zu überschreiben, sollte der Mann genesen. Dies würde bei der Angst der Eltern um ihre Söhne bei jedem Zweiten klappen, ohne dass dann mehr als einige Gebete dafür gesprochen werden mussten. Walther bekreuzigte sich, was er außerhalb von Kirchen selten tat.

Sie sprachen aber auch ungeniert darüber, dass man ihrer Ansicht nach mit dem Zähringer besser gefahren wäre.

»Oder mit Hans von Brabant!«, sagte ein Domherr sehnsüchtig. »Ein Streiter im Heiligen Land und ein reicher Mann. Wenn er nur da gewesen wäre, dann hätte man ihn wählen können. Ich schwöre Euch, dann wären alle Bischöfe geschlossen auf unserer Seite geblieben, statt sich vom Staufer abspenstig machen zu lassen.«

»Nun, wird nicht Otto seine Tochter heiraten?«, fragte Walther. »Das sollte doch dann eigentlich auf das Gleiche herauskommen.«

Der Domherr runzelte die Stirn, als habe er bereits vergessen, um wen es sich bei Walther handelte, antwortete jedoch bereitwillig: »Wer’s glaubt. Das Mädchen hätte eigentlich Otto übergeben und bei einem seiner Lehnsleute leben sollen, bis es mit zwölf Jahren alt genug zum Vollzug der Ehe ist, aber stattdessen … also, ich meine, dass der Brabanter nicht glaubt, dass Otto gewinnen kann, deswegen hat er auf einmal seine Tochter bei sich behalten, bis die Verhältnisse klar sind.«

»Wenn Otto verliert, dann gnade uns Gott, uns und dem Erzbischof«, sagte ein anderer Domherr beunruhigt. »Es sähe Philipp ähnlich, unsere Pfründe diesem Kerl aus Bamberg zuzuschanzen. Oder dem Würzburger. Glaubt Ihr, ein Staufer schert sich darum, dass heutzutage in den Bistümern dergleichen nur dem Papst zusteht?«

»Ein Staufer vielleicht nicht, aber der Papst«, sagte sein Gegenüber aufgeräumt. »Freunde, wir haben nun einen neuen, starken Papst, einen, der nie zulassen wird, dass die Kirche von irgendwelchen weltlichen Herrschern unterdrückt wird, und er ist so jung, dass wir ihn noch viele Jahre haben werden.«

Es kostete Walther einiges an Selbstbeherrschung, aber er sagte nichts dazu. Stattdessen brachte er das Gespräch wieder auf Hans von Brabant. »Ich habe gehört, der Herzog von Brabant habe an seinem Hof eine Ärztin aus Köln«, sagte er beiläufig. »Da wird er der Stadt doch wohl gewogen sein.«

Der Domherr neben ihm prustete in seinen Bierkrug. »Da habe ich anderes gehört.«

»Ich auch«, stimmte der Domherr ihm gegenüber zu. »Mir hat der Schreiber des Erzbischofs erzählt, dass Otto unsern Herrn beschuldigt hat, eine Hexe nach Brabant geschickt zu haben, um seine Ehe zu verhindern. Gerade noch, dass unser Adolf ihn beruhigen und schwören konnte, nichts mit der Frau zu tun zu haben, nur weil sie aus seiner Diözese stammt.«

»Mein Vetter hatte an dem Tag bei unserm Herrn Erzbischof Dienst«, sagte Walthers Nebenmann, »und ich sage Euch, Otto war außer sich. Er wollte nicht glauben, dass Herr Adolf nichts von der Angelegenheit wusste. Ihr habt mir die Hure schon nach Chinon geschickt, hat er gebrüllt, zusammen mit ihrem Geldsack von Onkel, und jetzt fallt Ihr mir so in den Rücken?«

Lass dir nichts anmerken, befahl sich Walther, lass dir nichts anmerken.Er verschränkte seine Finger ineinander; seine Knöchel wurden weiß. »So grob hat er sich ausgedrückt? Was hat unser hochwürdigster Erzbischof darauf gesagt?«

»Was sollte er sagen? Zugeben, dass er von nichts wusste, wie üblich? Das hätte nur wieder gezeigt, dass unsere Pfeffersäcke ihm auf der Nase herumtanzen. Nein, er hat gesagt, er wäre selbst ein Opfer, sie hätte ihn bereits einmal fast vergiftet, ehe er sie aus der Stadt verbannt habe. Wenn sie sich je wieder in Köln blicken lässt, das hat er Herrn Otto geschworen, dann wird sie für ihre Taten büßen.«

»Wenn sie es nicht schon tut«, sagte Walthers Gegenüber bedeutungsvoll. »Meint Ihr wirklich, dass Herr Otto sich mit einem bloßen Versprechen zufriedengegeben hat, so wütend, wie er war?«

Adolfs Haushofmeister kam zu Walther und sagte, nun sei dem hochwürdigen Erzbischof ein Vortrag recht. Er hatte ursprünglich geplant, eines seiner harmloseren Lieder zu singen, um noch etwas länger bleiben und mehr erfahren zu können; aber nach dem, was er gerade gehört hatte, schwebte Judith in höchster Gefahr. Außerdem ritt ihn jetzt der Teufel.

Walther sah sie an, diesen selbstzufriedenen Haufen gut gefütterter Schoßhunde, die in ihrem Leben nur um ein Stück mehr vom Braten bangten, nicht weniger, und die sich nie sorgen mussten, ob überhaupt Brot auf den Tisch kam. Aber sie ließen ihren Bauern gerade mal Rüben und Kraut zum Überleben und überlegten sogar ganz offen, wie man sie bestmöglich auch noch um ihren letzten Besitz bringen konnte. Von Seelsorge, von Trost in der Not hatte nicht einer von ihnen gesprochen und bestimmt auch niemand gedacht. Keiner von diesen Männern würde je in die Verlegenheit geraten, selbst für einen König oder ihre eigene Stadt kämpfen zu müssen. Keiner von ihnen würde je von Otto als Opfer zur Besänftigung seines Zornes gefordert werden. Keiner von ihnen erweckte den Eindruck, sich um andere als ihre Neffen, Vettern und Brüder zu sorgen, um so ihre eigene Machtbasis auszubauen, anstatt darum, dass der Kampf zwischen Otto und Philipp den ihnen Schutzanempfohlenen Tod und Leid bringen musste.

Er dachte an Martins qualvollen Tod in Rom, der nicht durch Güte oder Gnade erleichtert worden war, und daran, wie die Domherren gerade die Stärke des neuen Papstes gepriesen hatten. Er dachte an Judith, und wie sie sich gegenseitig an den Kopf geworfen hatten, davonzulaufen. Es geht ihr gut, sagte er sich. Wo sie auch ist, geht es ihr gut. Ich werde sie finden, und diesmal werde ich mich nicht hinter Scherzen verstecken, nicht hinter Liedern, nicht hinter Wortgefechten.

»Mach dich bereit, den Saal zu verlassen«, flüsterte er Markwart, der hinter ihm stand, ins Ohr. »Wenn ich fertig bin, werden sie mich nicht länger hören wollen.«

»Was habt Ihr für uns, Herr Walther von den Vögeln?«, fragte Adolf wohlwollend. Sein Gesicht glänzte vor Schweißperlen. Es war warm für einen Septembertag; vielleicht lag ihm auch das Fleisch des Pfauen nicht leicht im Magen. »Ein Sommerlied? Ein Herbstlied? Ein Tagelied?«

»Ein Lied über uns alle«, sagte Walther.

Geheim konnt’ ich durchschauen
Die Männer und die Frauen,
Dass ich es hörte wohl und sah,
Was jeder tat und dachte da.
Ich hört’ in Rom belügen
Zwei Kön’ge und betrügen.
Davon entstand der größte Zwist,
Der je war oder jemals ist:
Anfingen zu entzweien
Die Pfaffen sich und Laien.
Welch eine Not vor aller Not!
Es lagen Leib und Seele tot.
Die Pfaffen stritten sehr,
Doch war der Laien mehr.
Da legten sie die Schwerter nieder
Und griffen zu der Stola wieder.
Sie bannten, die sie wollten,
Und nimmer, die sie sollten.
Die Gotteshäuser sind verstört.
In einer fernen Klaus’ ich hört’
Ein lautes Weheklagen.
Den Klausner hört’ ich sagen
Und klagen seinem Gott sein Leid:
O weh, der junge Papst liegt mir im Magen,
Hilf, Herr Gott, deiner Christenheit!

In Frankfurt hatte er gespürt, wie er seine fürstlichen Zuhörer packte; er hatte ihre Gier gegen sie selbst gewendet, aber sie genossen es, weil es ihnen auch schmeichelte. Auch hier folgten sie ihm atemlos, niemand unterbrach ihn; die Gespräche, die noch im Gange gewesen waren, als er begann, verstummten nach und nach, genau wie Markwarts Versuch, so zu tun, als spiele er die Laute. Bereits nach der ersten Strophe ließ sein alter Freund die Hand sinken und wurde zusehends bleicher.

Bis Walther endete, herrschte ungläubige Stille. Allmählich holte ihn die Wirklichkeit wieder ein, die Wirklichkeit, die sehr leicht Teeren und Federn einschließen konnte. Aber einmal hatte er es auch vor diesem Publikum sagen wollen! Das Hoch, das ihn jedes Mal erfasste, wenn er wusste, dass ihm ein Lied nicht nur bei der Ausarbeitung gelungen war, sondern auch während des Vortrages, dieses Hoch verlieh ihm den Schwung, sich nun auch noch vor dem Erzbischof zu verbeugen. Dann schritt er auf den Ausgang des Saals zu und kam fast bis zur Tür, als Markwart hinter ihm stolperte, was den Bann brach.

»Wie könnt Ihr es wagen!«, rief der Erzbischof. Unter den Domherren brach entrüstetes Schimpfen aus.

»Geh weiter«, murmelte Walther und packte Markwart am Arm. Hier im Saal befanden sich keine Wächter, nur Gesinde, um Speisen auf- und abzutragen.

»So dumm warst du nicht mehr, seit ich die Müllerssöhne deinetwegen verprügeln musste«, zischte Markwart, als sie die Schwelle überschritten. Der Erzbischof schrie noch etwas anderes, aber inzwischen zeterten die Domherren so laut, dass man nicht mehr verstehen konnte, ob Adolf nun irgendwelche Befehle gegeben hatte oder nicht.

»Die hast du auch verprügelt, weil sie dir den Esel weggesteigert hatten«, sagte Walther und entschied, dass der Würde genug gewahrt worden war. »Und jetzt lass uns rennen!«

Das Spiel der Nachtigall
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