Kapitel 9
In seiner kurzen Herrschaft hatte es für Friedrich von Österreich bisher nicht viele Tage gegeben, die unangenehmer waren als dieser. Zuerst erhielt er Nachricht von einem gewissen Diepold von Schweinspeunt, dem es offenbar gelungen war, sich vom Ministerialen eines bayerischen Grafen zum Vertrauensmann Kaiser Heinrichs aufzuschwingen und dabei selbst einen Grafentitel einzuheimsen. Er würde morgen mit der Prinzessin von Byzanz eintreffen und rechne mit angemessener Gastfreundschaft sowie Pferden und Vorräten für die Weiterreise nach Frankfurt. Das bedeutete außerdem ein Hoffest, denn die Prinzessin war nicht nur die zukünftige Schwägerin des Kaisers, nein, man musste sie als Verwandte betrachten: Friedrichs Großmutter war eine byzantinische Kaisertochter gewesen, und er hatte vor, eine Base der Prinzessin zu heiraten, möglichst schon auf dem Weg ins Heilige Land, wo ihre Mitgift an Gold und Männern sehr hilfreich sein würde. Das bedeutete, dass er diese Irene empfangen musste, als sei ihre Ankunft seit Monaten geplant gewesen, mit allem Prunk, die sein Hof bieten konnte, obwohl dort derzeit alles für den Kreuzzug vorbereitet wurde.
Dergleichen Schwierigkeiten mochten Kopfzerbrechen verursachen, doch was als Nächstes anstand, verdarb ihm vollends den Magen. In der Stadt waren Unruhen ausgebrochen, bei denen der Münzmeister Salomon und fünfzehn weitere Juden erschlagen worden waren. Um den Juden, der sein Amt immer höchst gewissenhaft verrichtet hatte, war es schade, doch fast genauso ärgerlich war es, dass dadurch der Eindruck entstand, Friedrich habe Recht und Ordnung in seiner eigenen Stadt und unter seinen Leuten nicht mehr unter Kontrolle, denn mehrere der Beteiligten waren Kreuzfahrer. Außerdem gab ihm die anstehende Ankunft der Prinzessin nicht die Zeit für lange Gerichtsverhandlungen. Die Stadt musste wieder ruhig sein, wenn sie eintraf.
»Ihr könntet die ganze Sache auch übergehen«, schlug einer seiner Ministerialen vor. »Münzmeister oder nicht, ist das Leben von ein paar Juden wirklich das eines Christen wert? Wofür kämpfen wir denn im Heiligen Land?«
»Für die Sache Gottes«, sagte Friedrich streng. »Und Gott will, dass die Juden ihren Irrtum erkennen und bekehrt werden. Was in der Stadt geschehen ist, war Raub und Mord, das steht keinem Christenmenschen an. Wenn ich dergleichen durchgehen lasse, dann wird bald jeder Jude ausgeraubt und erschlagen, der sich in Wien niederlässt, und sind solche Sitten erst einmal eingerissen, dann greifen solche Räubereien um sich. Nein, die Rädelsführer werden gehängt. Auf Mord steht nun einmal der Strang.«
»Auch die Ritter?«, fragte der Ministeriale bestürzt, nicht zuletzt, weil ein solcher das Recht auf den Tod durch die Axt oder das Schwert hatte.
Friedrich zögerte. »Nein«, sagte er. »Es sind Kreuzfahrer. Wir wissen – die ganze Christenheit weiß –, was das letzte Mal geschehen ist, als ein Herzog von Österreich einen Kreuzfahrer gefangen nehmen ließ. Seine Heiligkeit der Papst hat uns überaus klargemacht, welche Strafe dann droht. Aber schafft sie weg von hier. Ich will nicht, dass sie weiter in der Stadt herumlaufen, und ich will sie auch nicht länger als meine Männer betrachten. Auf solche undisziplinierten Ritter in meiner Gefolgschaft kann ich verzichten.« Ihm kam ein hervorragender Einfall, wie man ein Ärgernis benutzen konnte, um ein anderes zu vermindern. »Diepold von Schweinspeunts Bote sagte, sein Herr will so bald wie möglich nach Italien zurückkehren. Nun, wenn er die Prinzessin von Byzanz Kreuzfahrern anvertraute, die ohnehin zur Armee des Kaisers stoßen wollen und damit de facto des Kaisers Leute sind, dann kann er das tun. Ja, diese Ritter sollen die Prinzessin den Rest ihres Weges zu Herzog Philipp geleiten. Damit sind wir sie los, aber auf eine Weise, die mir keinen Kummer mit dem Heiligen Vater einbringt.« Seine Stimmung verbesserte sich etwas. »Und sagt dem Haushofmeister, er möge es bei dem Fest für die Prinzessin an nichts fehlen lassen. Ich will hoffen, dass die Sänger ein paar angemessene Lieder fertigbringen, möglichst etwas Neues, das man als Tribut für sie betrachten kann. Schickt mir Herrn Reinmar und Herrn Walther!«
Bis die beiden ihm ihre Aufwartung machten, hatte Friedrich Zeit genug, ein weiteres Urteil zu sprechen, über eine Streitfrage zwischen einem Kloster und einem Ritter über einen Weinberg. Es überraschte ihn, dass seine beiden Sänger sich bei ihrem Eintreffen nicht sofort bei ihm darum bewarben, das erste Lied singen zu dürfen; sie mussten inzwischen von der Ankunft der Prinzessin gehört haben. Mit etwas Glück hatten sie sich bereits an das Verfassen neuer Verse gemacht. Unter seinem Vater hatte der Hof zu Wien einen gewissen Ruf für die Pflege der Musen erlangt, und Friedrich war gesonnen, diesen zu erhalten.
Es entging ihm nicht, dass Walther und Reinmar es peinlichst vermieden, einander anzuschauen, als sie den Palas betraten. Ihre Rivalität fand er sowohl belustigend als auch nützlich, spornte es sie doch beide zu höchsten Leistungen an und verhinderte, dass einer von beiden auf die Idee kam, an anderen Höfen das Glück zu suchen.
Walther, der sonst immer geradezu lächerlich selbstsicher und keck wirkte, war heute sehr bleich. Wahrscheinlich eine durchzechte Nacht, dachte Friedrich mitfühlend: Manchmal bezahlte man die Freuden des Weins mit einer schweren Münze. Was ihn jedoch verblüffte und dann zu einem Lächeln veranlasste – dem ersten an diesem ganz und gar nicht erfreulichen Tag –, war, dass der biedere alte Freund seines Vaters ebenfalls weiß wie ein Laken aussah.
»Herr Reinmar«, konnte Friedrich nicht widerstehen zu fragen, »geht es Euch heute nicht gut?«
»Euer Gnaden …«, murmelte Reinmar mit gequälter Stimme. Ganz offensichtlich litt er sehr darunter, etwas so Unvollkommenes wie einen brummenden Kopf gestehen zu müssen. »Euer Gnaden, man hat Euch bestimmt bereits gemeldet, was in der gestrigen Nacht in Wien geschehen ist.«
Friedrich kniff die Augen zusammen. »Nun, selbstverständlich hat man das. Ich habe die Rädelsführer bereits zum Hängen verurteilt. Ein wirklich bedauerliches Ereignis, vor allem jetzt. Die Prinzessin steht uns nun einmal ins Haus, und ich will nicht, dass man behauptet, der Hof zu Wien habe sie in irgendeiner Hinsicht ärmlich empfangen. Nicht, dass ich Eure alten Lieder nicht schätze, doch ein oder zwei neue wären unter den gegebenen Umständen wahrlich angenehm. Beachtet nur, dass sich darin nichts Verfängliches findet. Immerhin ist sie keine Jungfrau mehr, sondern bereits Witwe. Und obwohl der Kaiser von Ostrom ihr Onkel ist, hat er doch ihren Vater gestürzt, also sollte weder der eine noch der andere direkt gepriesen werden. Etwas Allgemeines über ihre erhabene Familie, Ihr versteht?«
Walther machte ein Geräusch, als ersticke er. Wenn er sich an Ort und Stelle übergab, dann würde Friedrich ihn nicht am Gastmahl teilnehmen lassen. Ganz gleich, wie wacker ein Ritter zechte, am nächsten Tag hatte er seinen Mann zu stehen. »Herr Walther«, sagte Friedrich scharf, »für Euch gilt das Gleiche. Es sei denn, Ihr haltet Euch für unfähig, in den nächsten Tagen etwas zu tun, das diesem Hof zur Zierde gereicht!«
Walther sagte nichts. Stattdessen schüttelte er den Kopf.
»Was soll das heißen? Ihr seid nicht fähig, oder nein, Ihr haltet Euch nicht für unfähig? Eure Rede sei ja oder nein, Herr Walther, so heißt es in der Bibel, also haltet Euch daran.«
»Ich halte mich nicht für unfähig«, sagte Walther tonlos. Zum ersten Mal, seit er den Raum betreten hatte, schaute er direkt zu Reinmar, der wiederum zu Boden starrte. Irgendetwas war an dem Blick, das über die gewöhnliche Eifersucht und Stichelei hinauszugehen schien.
»Gibt es sonst noch etwas, das Ihr mir sagen wollt, Herr Walther?«
»Nein, Euer Gnaden.«
»Nun, dann erwarte ich Euren Einfallsreichtum beim Fest. Gehabt Euch wohl, meine Herren.«
* * *
»Walther«, begann Reinmar, nachdem sie ihre Verbeugungen gemacht hatten und den Palas hinter sich ließen, doch der schüttelte nur den Kopf und ging etwas schneller, um seinem Lehrmeister zu entkommen. Er wusste nicht, ob Reinmar ihm dafür danken wollte, dass er Herzog Friedrich nichts über ihre Anwesenheit in der Schenke erzählt hatte, oder Reue für seine Worte bekunden wollte. Oder vielleicht im Gegenteil sagen würde, dass Walther sich nicht so zimperlich anstellen solle und dass man eben spüre, wer von ihnen beiden ein Ritter war, der für die Sache Gottes im Heiligen Land gefochten hatte, und wer ein Weichling, der nur mit Worten zuschlagen konnte.
Es war nicht so, dass er noch nie Tote gesehen hatte. Den alten Herzog natürlich, auch einige aus seiner Familie und deren Freunde in dem alten Leben seiner Kindheit, das er so gründlich neu geschaffen hatte. Er hatte weiß Gott den Gebrauch von Waffen miterlebt, wie bei den Turnieren, die am herzoglichen Hof alljährlich stattfanden, und auch in der Absicht, zu verletzen, wie es bei der Gefangennahme Richards von England geschehen war. Aber was sich gestern Abend ereignet hatte, war trotzdem etwas völlig anderes gewesen.
Walther sagte sich, dass es Juden gewesen waren, Gottesmörder, aber das half nicht. Es wurde ihm immer noch speiübel, wenn er an die unverhohlene Mordlust dachte, die sich gestern ausgetobt hatte, unter Menschen, die nur kurze Zeit vorher fröhlich miteinander gezecht und Lieder gesungen hatten. Seine Lieder; auch das verursachte ihm nun Übelkeit, denn inzwischen war ihm wieder eingefallen, wie es sich angefühlt hatte, das Misstrauen der Gäste einer anderen Schenke in Erdberg auf ein kleines Häuflein fremder Gäste zu lenken. Damals hatte er nichts anderes im Sinn gehabt, als die Wirtin zu beeindrucken, und die Rufe waren »Zahlen! Zahlen!« gewesen, nicht »Schlagt den Juden tot!«. Aber es war ein gutes Gefühl gewesen, ein berauschendes Gefühl, mit nur ein paar Worten die Gefühle und das Handeln der Menschen beeinflussen zu können. Tat er das nicht jedes Mal, wenn er vortrug? Er war sogar stolz darauf, zum Meister darin geworden zu sein.
Gestern dagegen, da hatte er geschwiegen. Vielleicht hätte es keinen Unterschied gemacht, aber als die Menge anfing, aus der Schenke in Richtung der Synagoge zu drängen, in deren Nähe Salomon wohnte, da hätte er versuchen können, sie aufzuhalten. Hätte so laut wie möglich brüllen können: »Gute Leute, halt! Denkt nach! Wenn der Jude seinen Diener zu Unrecht des Diebstahls beschuldigt hat, wenn er dem alten Herzog Böses wollte, dann klagt ihn vor Herzog Friedrich an! Werdet nicht selbst zu Mördern! Hört auf mich, auch ich war am Sterbebett des alten Herzogs!« Aber er hatte nichts dergleichen getan. Die Angst, die ihn beim Anblick der mordlustigen Meute gepackt hatte, war tief und namenlos gewesen und war ihm so sehr in die Knochen gefahren, dass er jetzt noch zitterte. Er hatte auf die Menschen geschaut, die gleichen, die gerade noch gefeiert hatten, die gleichen, in denen er eben noch einen dankbaren Haufen Zuhörer für seine Lieder gesehen hatte, und war überzeugt gewesen, dass sie ihn ebenfalls umbringen würden, wenn er sich ihnen in den Weg stellte. Und er war bereit gewesen, den Münzmeister Salomon der Menge und ihrem Hass zu überlassen, nur um vor der grauenhaften Gewissheit davonrennen zu können, dass in den Händen dieser Menschen auch sein Tod lauerte.
Er war ein Feigling.
Deswegen war es ihm unmöglich gewesen, etwas zu Herzog Friedrich zu sagen. Nicht, weil er Reinmar beschützen wollte. Reinmar … Walther fragte sich, ob er ihn je wirklich gekannt hatte. Der gute alte Reinmar, so hatte er ihn in Gedanken immer genannt, doch der gute alte Reinmar wusste, was es hieß, einen anderen Menschen zu töten. Bis zum gestrigen Abend hatte Walther nicht verstanden, wie tief der Groll in ihm saß, wie sehr er Reinmar verletzt haben musste mit zwei Jahren voller Spott, um die Gunst des neuen Herrschers zu gewinnen. Die zornigen Worte über jemanden, der im Angesicht des toten Herzogs nur an den Gewinn dachte, den ihm das brachte, die hatten nicht Salomon gegolten, sondern ihm. Und doch war der Jude dafür gestorben, er und fünfzehn andere Menschen, die zu seinem Haushalt und seiner Familie gehörten. Heute Morgen hatte Walther erfahren, dass fünf der Toten Frauen gewesen waren, und das fühlte sich an wie ein weiterer Schlag in den Magen. Eine bittere Scham, die ihn von innen her langsam auffraß.
»Hatte eine von ihnen rote Haare?«, hatte er den Knecht gefragt, der ihm von den Toten erzählte, doch der hatte nur den Kopf geschüttelt und zurückgegeben: »Woher soll ich das wissen?«
Gewiss war sie weit fort von hier, gesund und munter. Manchmal dachte Walther immer noch, dass sie ihm mit Salerno einen Bären aufgebunden hatte, auch wenn er inzwischen mehr über die mulieres Salernitanae wusste; nicht, dass er sich gezielt erkundigt hätte, wie es denn um Frauen als Ärzte stünde. Natürlich nicht. Doch selbst, wenn sie nicht in Salerno sein sollte, um die Heilkunst zu erlernen, dann war sie gewiss mit ihrem Vater nach Köln zurückgekehrt. Es gab keinen Grund, anzunehmen, dass sie an diesem Abend im Haus ihres Vetters gewesen war; es gab ja nicht einmal einen Grund dafür, dass er sie immer noch in Erinnerung hatte.
Fünf Frauen waren tot, und zehn Männer, die wohl nicht übler gewesen waren als der nächstbeste Mann auf der Straße. Der nächstbeste Mann, der seinen Abend in einer Schenke verbrachte und in die Nacht feierte, bis er ein paar andere Menschen ohne erkennbaren Grund einfach totschlug.
Walthers Gedanken liefen wie Hunde, die nach ihrem eigenen Schwanz schnappten, wieder und wieder im Kreis. Schließlich ertappte er sich dabei, wie ihn seine Beine erneut in die Stadt trugen, auf den Weg, den er am Abend zuvor tunlichst vermieden hatte. Nun stand er vor dem Haus mit einem zerborstenen Riegel. Es war sofort als das eines wohlhabenden Mannes erkenntlich, voller waagrechter und schräger Balken, die das Dach stützten, das aus Tonziegeln war, nicht nur aus mit Lehm versetztem Flechtwerk wie die Häuser der ärmeren Leute. Walther biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte, dann klopfte er und trat durch das Tor, das in einen kleinen Innenhof führte. Dort fand er ein paar Männer dabei, den Boden zu fegen und Wasser über die dunklen Flecken zu gießen, die er sofort als Blutspuren erkannte.
»Was wollt Ihr?«, fragte einer von ihnen feindselig. »Hier gibt es nichts mehr zu stehlen!«
»Das ist nicht meine Absicht. Ich … ich wollte den Toten meine Aufwartung machen«, sagte Walther stockend.
»Sie werden gerade unter die Erde gebracht. Ihr könnt keiner von uns sein, sonst wüsstet Ihr, dass es geschehen muss, bevor die Sonne zum zweiten Mal wieder sinkt, und Ihr wüsstet auch, dass man die Familie bis zum dritten Tag der Schiwa in Ruhe lässt. Hat Euresgleichen nicht genug Schaden angerichtet? Verschwindet. Wenn sie zurückkehren, sollen sie niemanden hier finden, der ihnen noch mehr Kummer bereitet.«
»Dann – dann ist von der Familie noch jemand am Leben?«
»Meine Herrin ist die Tochter von Reb Salomon und lebt mit ihrem Mann am anderen Ende der Stadt. Sie und ihr kleiner Bruder, der sich unter einem Bett versteckt hat, sind die Einzigen, die noch am Leben sind«, sagte der Knecht feindselig. »Deswegen hat sie uns geschickt, um hier aufzuräumen. Das Gesinde von Reb Salomon ist davongelaufen oder tot, bis auf den Wilhelm, und der wird nun mit seinem Diebstahl ungeschoren davonkommen, wo niemand mehr da ist, um eine Strafe für ihn zu fordern.«
»War vielleicht eine Base Eurer Herrin hier zu Gast, aus Köln?«
Der Knecht machte einen drohenden Schritt auf ihn zu. »Seid Ihr immer noch da?«
»Ihr Vater ist Arzt und hat mich geheilt, als sie vor zwei, drei Jahren in Wien waren«, log Walther. »Deswegen wollte ich ihnen Respekt erweisen und für sie beten, wenn …«
»Ich weiß von keinen Verwandten aus Köln«, sagte der Knecht, packte Walther am Arm und schob ihn zur Tür hinaus.
Die Peterskirche war immer noch die größte Kirche, die Walther je gesehen hatte, und er betrat ihr dreischiffiges Inneres, das angeblich einmal ein römisches Kasernengebäude gewesen war, nie ohne ein Gefühl des Staunens. Gewöhnlich war er zwar nicht der Frömmste, doch er verrichtete seine Gebete mit dem Rest des Hofes und hatte im Allgemeinen den Eindruck, dass Gott ihm gewogen sein musste, wofür er ihm hin und wieder ein Preislied schrieb. Heute jedoch fehlte ihm jene an Selbstzufriedenheit grenzende Gewissheit. Stattdessen kniete er vor dem Marienaltar und sprach Gebete für die Toten, alle fünfzehn, und die Kälte und Härte des Bodens unter seinen Knien waren auf seltsame Weise beruhigend. Er konnte sich das Gesicht Salomons nicht mehr vor Augen rufen, obwohl er ihm vier oder fünf Mal im Jahr in Klosterneuburg oder Wien über den Weg gelaufen sein musste. Wie die Übrigen ausgesehen hatten, wusste er auch nicht. Da sie Juden gewesen waren, die sich nicht bekehrt hatten, konnte er nicht für ihre Seelen beten, doch er hoffte, dass der Tod für sie wenigstens schnell gekommen war, ohne lange Qualen. Er bat Gott um Frieden für ihre Familien, einschließlich des kleinen Jungen, der alles mit angesehen hatte. Und schließlich bat er Gott, die Heilerin Judith in Salerno zu behalten, weit, weit von allen Kreuzfahrern entfernt.