Kapitel 2

Die Weihnachtsfeiertage und die Zeit zwischen den Jahren war eigentlich ein Gottesgeschenk für Dichter und Sänger: Schließlich sorgte der Schnee dafür, dass die Menschen zusammengedrängt in einem gut geheizten Raum blieben und unterhalten werden wollten. Die langen dunklen Nächte waren außerdem nicht schlecht dafür, an neuen Versen zu feilen. Aber in diesem Moment war er mehr damit beschäftigt, das Rätsel zu lösen, das der Herzog und seine Söhne für ihn darstellten.

Wenn jemand wissen sollte, wo der Herzog den Rest des englischen Silbers aufbewahrte, dann musste es doch eigentlich sein ältester Sohn sein. Daher war es sehr wohl denkbar, dass Friedrichs Aufforderung eine Prüfung darstellte, bei der Walther nur verlieren konnte. Wenn er den wahren Aufenthaltsort nicht herausfand, dann stand er als zu dumm für solche Aufträge da; wenn er es tat, dann als nicht vertrauenswürdig, weil er bereit wäre, den Herzog an dessen Sohn zu verraten. Nur eins stand fest: Wenn der Herzog starb, und das schien mit jeder Stunde wahrscheinlicher zu werden, dann würde ihm einer seiner beiden Söhne nachfolgen, und ganz egal, was Friedrich im Schilde führen mochte, Leopold war gewiss nicht gesonnen, einen Sänger zu fördern, der ihn vor anderen verärgert hatte.

Der Herzog selbst war keine Hilfe. Nach dem Gespräch mit Bischof Wolfger war er in einen Fiebertraum gefallen, der den ganzen Tag anhielt. Als Walther einen der Diener am Abend wieder an Friedrichs Befehl erinnerte, er möge die Leiden des Herzogs durch seine Poesie und seinen Gesang lindern, drückte ihm der unverschämte Kerl das bereits stinkende Unterbein in den Arm: »Du willst helfen? Dann schaff um alles in der Welt das Ding hier fort.«

Es war nicht der Augenblick, den Herrn herauszukehren, auch deswegen nicht, weil Walther das Gefühl hatte, dass die Diener ihm den Ritterstand weniger abnahmen, als der Adel es bisher tat. Das wunde Stück Menschenfleisch auf den Abfallhaufen zu werfen, der in der Nähe der Küche lag, schien allerdings kaum angebracht. So fand Walther sich schließlich im Schlossgarten wieder, wo er den Schnee zur Seite schaufelte und mit einem Schürhaken den Boden genügend aufbrach, um das herzogliche Bein darin zu beerdigen.

Der Rückweg gestaltete sich für Walther erfreulicher: In den langen Gängen der Residenz traf er die bevorzugte Hofdame der Herzogin, Martha von Kronsheim. Walther hatte gelernt, dass sein geschickter Umgang mit Worten ihm bei Hofe nicht nur Türen öffnen, sondern hinter ebendiesen auch manche Röcke heben konnte, wovon er eifrig Gebrauch machte, wann immer sich ihm die Gelegenheit bot. Doch an dem verlockendsten Preis für seine Kunst hatte er sich bisher die Zähne ausgebissen, denn all seine Komplimente prallten an der reizvollen jungen Witwe ab wie Regentropfen an einer Rüstung. Auf sein »Seid gegrüßt, schöne Martha. Ich hoffe, Ihr langweilt Euch nicht an Tagen wie diesem« rechnete er daher wie immer mit einer frostigen Aufforderung, seiner Wege zu gehen. Doch es kam anders. Die Hofdame ließ etwas in ihrer Hand verschwinden, was sie gerade noch traurig angestarrt hatte, und sagte matt: »Schönheit ist vergänglich; die Zeit fliegt.«

Er nahm diese Vorlage nur zu gern an. »Wollt Ihr damit sagen, dass ein strahlender Tag weniger schön ist als ein Morgen? Es ist anders, aber bestimmt genauso prächtig. Wie kann denn wahre Schönheit vergänglich sein? Ihr selbst beweist doch ständig das Gegenteil, mit Eurem Aussehen, das die Begriffe für Eifersucht und Neid bei den anderen Damen am Hof täglich neu formt.«

»Ihr bringt Eure Huldigungen einem Grabmal dar.«

Walther fand, dass Martha übertrieb, und konnte nicht umhin, sie mit Mathilde zu vergleichen, die das Ableben ihres Schankwirts gewiss nicht als Anlass gesehen hatte, sich ebenfalls für tot zu halten. »Es sind andere, die Euch beerdigen wollen, und Ihr solltet nicht auf sie hören. Ihr atmet, Ihr lebt, Ihr verzaubert die Welt durch Euer Dasein, und Ihr würdet sie noch schöner machen, wäret Ihr noch mehr ein Teil von ihr.«

Unter anderen Umständen wären diese Worte das Ende ihrer Unterhaltung gewesen: Martha hatte sich nie mehr als schöne Redensarten von ihm angehört, ehe sie in ihre glasklare Starre zurückfiel. Doch heute überraschte sie ihn. »Ein Teil der Welt zu sein ist nicht immer erstrebenswert«, entgegnete sie. Ein kurzer Schauder ging durch ihren Körper. »Ganz gleich, wie hoch man steht. Früher oder später wird alles Glück zunichte, ganz gleich, wie sicher man sich wähnt. Die Vergangenheit holt einen doch wieder ein. Selbst unsere Herrin hat das erfahren.«

Damit musste sie die Herzogin meinen, doch Walther hatte trotzdem keine Ahnung, wovon sie redete. Gewiss, derzeit herrschte eine Verstimmung zwischen dem herzoglichen Paar, aber im Allgemeinen konnte niemand leugnen, dass Helena von Österreich vom Glück gesegnet war. Sie hatte zwei überlebende Söhne, war mit einem der mächtigsten Herzöge des Reiches vermählt, gesund und reich. Nach dem verstörten Blick Marthas zählte das alles im Moment aber wohl nicht. Walther entschied, sie zu beruhigen, indem er schnell ablenkte und ein wirklich ernstgemeintes Kompliment hinzufügte: »Dann schafft man sich eben ein neues Glück. Auf mich wirkt Ihr immer noch so schön, so zart und zerbrechlich wie ein junges Mädchen, das seinen ersten Mann bekommen soll, aber für wen? Euer Enrico ist vor zwei Jahren gefallen. Warum heiratet Ihr nicht wieder?«

Sie zögerte mit einer Erwiderung, sie zögerte sogar sehr lange. »Ich will heute kein Grabmal sein«, flüsterte sie dann mehr, als sie es sprach. Und griff nach seinem Arm.

Wie in einem Traum folgte Walther ihr in eine kleine, enge Kammer, in der eine kleine Truhe stand. Sie kniete sich mit dem Gesicht zur Wand auf diese – und schlug ihr Kleid den Rücken hoch.

Als sie ein Hinterteil vor ihm entblößte, wie er es schöner noch nie erblickt hatte, wirbelte das all die Sorgen, Aufregungen und den Ärger der letzten Tage davon. Und obwohl Walther in seinen echten Träumen oft genug an dieser Stelle gestanden hatte, versagten seine Füße und Hände ihm nun den Dienst. Dann aber wiederholte Martha ihren Satz noch einmal mit fester Stimme. »Kein Grabmal, nicht heute.«

Das brach den Bann – und sein Körper reagierte. Anders als bei anderen Frauen bei Hofe oder in den Badehäusern, deren Vorzüge er genossen hatte, waren ihre Backen prall und wölbten sich ihm einladend entgegen, statt flach zu den Seiten zu fliehen. Walther streichelte, küsste und liebkoste, was ihm Köstliches geboten wurde, und das war nicht wenig. Ganz langsam, jeden Augenblick genießend, auch als sie zu zittern anfing, egal ob wegen der Kälte oder der Situation.

Bevor er die Pforte zum Paradies für sich öffnete, wollte er ihr zu gerne zeigen, wie zärtlich er sein konnte, und versuchte, ihren Kopf sanft zur Seite zu drehen, um ihre Lippen zu erreichen, sie zu küssen, wie er es vorher schon mit allem, was er haben durfte, ausgiebig getan hatte. Aber sie wollte knien und ihn nicht anblicken, und so tat er schließlich das, was von ihm erwartet wurde, und er tat es gerne.

Als er spürte, wie sie sich ihm immer heftiger entgegenwarf und sich auch sein Höhepunkt drangvoll näherte, hörte er nach all dem Keuchen und Stöhnen zwischen ihren heiseren Atemzügen einen Namen – aber es war nicht der seine. »Enrico.« Und noch einmal: »Enrico.« Der Name ihres verlorenen Mannes.

Kein Grabmal, hatte sie gesagt, und doch hatte sie sich einem Toten geschenkt. Walther selbst war nur das Instrument dazu gewesen; das war ernüchternd. Er bezweifelte, dass sie auch nur die Farbe seiner Augen hätte nennen können. Und doch konnte er ihr nicht böse sein, sondern dankbar für eine Lektion über die Frauen, die er bisher nicht gelernt hatte. Und er fragte sich, ob er je selbst so für eine lebende Frau empfinden würde wie Martha für den längst verstorbenen Enrico.

Walther schob diese Frage entschieden beiseite, während Martha ohne ein weiteres Wort aus der Kammer schlüpfte. Was hatte sie damit gemeint: Früher oder später wird alles Glück zunichte, ganz gleich, wie sicher man sich wähnt. Die Vergangenheit holt einen doch wieder ein. Selbst unsere Herrin hat das erfahren.Ging es darum, dass der Herzog wahrscheinlich sterben würde? Aber das hatte nichts mit der Vergangenheit zu tun. Es musste da etwas anderes geben.


»Wie geht es meinem armen Herrn?«, fragte Reinmar des Morgens, als sie sich in der großen Halle mit den restlichen Höflingen ein Mahl teilten. Walther, dessen Schlaflosigkeit längst mehr durch ungelöste Aufträge als durch mangelnde Schaffenskraft bedingt war, entgegnete mit einer Grimasse: »Der größte Teil von ihm leidet noch Qualen, doch ein kleines Stück hat den ewigen Frieden unter Rosen gefunden.«

Erst, als auf seine spitze Bemerkung eisiges Schweigen folgte, dämmerte es ihm, dass er das Falsche gesagt hatte. Reinmars Mund war zu einer dünnen Linie der gekränkten Empörung geworden; auf seiner Stirn standen so viele Falten, dass sie wie ein sommerliches Ackerfeld wirkte.

»Weißt du, warum du nie ein großer Dichter werden wirst? Du hast kein Herz, Walther. Keinen Sinn für das Höhere und kein Mitleid für die Menschen. Nichts als dein eigenes Wohl kümmert dich. Wie willst du da etwas schreiben, das anderen Menschen die Herzen rührt?«

Walther hatte einen Tadel über sein Verhalten erwartet, aber nicht diese Anschuldigung. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn sein Lehrherr ihn geohrfeigt hätte. Doch Reinmar war eben ein Künstler der Worte und wusste, wie man sie setzen musste, um zu treffen. Walther sagte sich, dass nichts davon stimmte, dass Reinmar sehr wohl an sein Talent glaubte, denn sonst hätte er sich in den letzten zwei Jahren kaum mit ihm abgegeben.

Vielleicht hatte Reinmar es aber auch nur getan, weil er langsam alt wurde und es ihm die Zeit vertrieb? Vielleicht hatte er recht, und Walthers Fähigkeit, in der Krankenstube eines siechen Mannes an sein eigenes Wohl zu denken, bewies, dass er im Inneren hohl war. Vielleicht war es das, was dafür sorgte, dass seine Lieder zwar gut waren, aber eben nicht außergewöhnlich? Nichts, was nicht schon da gewesen war, in der einen oder anderen Form.

Die Zweifel plagten ihn, mehr, als es die Mischung aus Drohung und Versprechen von Friedrich getan hatte, und Walther stellte fest, dass er dieses Gefühl hasste. Nun, er konnte Reinmar zumindest zeigen, dass auch er seine Worte zu setzen verstand.

»Vielleicht blutet mein Herz nicht jedes Mal, wenn man es kratzt«, entgegnete er langsam, »aber ob ich eins habe oder nicht, das könnt Ihr gar nicht wissen. Ihr seid selbst zu sehr damit beschäftigt, auf das Eure zu hören, und wenn es nach Euren Liedern geht, dann schlägt es immer den gleichen Ton an. Ist ihm dann noch zu glauben?«

Es war für die nächsten Tage das Letzte, was er zu Reinmar sagte. Es war nicht weiter schwer, dem älteren Sänger auszuweichen, vor allem, da Walther beschloss, dass es ihn nun wirklich kümmerte, was aus dem verfluchten englischen Silber geworden war und worauf genau Friedrich hinauswollte. Da weder vom Herzog noch seinem Sohn noch irgendeiner der Damen, in deren Gunst er stand, irgendetwas zu erwarten war, musste er sich einen neuen Brunnen suchen, in der Hoffnung, dass sich an seinem Grund wirklich eine Quelle verbarg.

Walther war nicht entgangen, dass Bischof Wolfgers Sohn durchaus dankbar für unterhaltsame Gesellschaft und für Branntwein gegen die Winterkälte war. Außerdem hatte er nicht zuletzt bei der schönen Wirtin in Erdberg gelernt, dass man im Alkohol eigentlich alles bewahren konnte, bloß keine Geheimnisse der Menschen. Tatsächlich begann der junge Hugo schon bei dem zweiten gemeinsamen Zechgelage, über die widrigen Umstände seines Lebens zu klagen.

»Es ist jedes Mal dasselbe, wenn mein Vater mich an einen Hof mitnimmt, wo man mich noch nicht kennt«, sagte er düster. »Alle denken sie, ich sei ein Bastard, eine Sünde, der man sich schämen muss, und meine arme verstorbene Mutter eine Metze. Dabei ist doch mein Vater nicht der einzige Mann, der nicht schon von Kind auf zum Priester bestimmt war und seine Berufung erst spät fand! Er hat die Welt erlebt und dann das geistliche Leben gewählt, aus freien Stücken. Wenn Ihr mich fragt, Herr Walther, dann ist dergleichen besser als das, was der Kaiser gerade mit seinem jüngsten Bruder gemacht hat. Der Philipp hat im Leben nichts anderes gelernt, als Mönch zu sein, doch dann zerrt man ihn aus dem Kloster, weil die anderen Brüder alle tot sind und der Kaiser immer noch keinen Sohn hat, und will ihn verheiraten mit einem Weib aus Byzanz. Ihr könnt darauf wetten, wenn die beiden Kinder haben, dann wird keiner sie schief anschauen und Priesterbastard denken, nein, da wird gedienert und gebuckelt. Aber bei meinem Vater, der kein Gelübde gebrochen hat und nicht erst von seinen Schwüren entbunden werden musste, den hält man für einen geilen Bock, der noch dazu so schamlos ist, der Welt seinen Bastard vorzuführen. Ach, die Welt ist ungerecht!«

»Das ist sie«, stimmte Walther zu, der über den jüngsten Bruder des Kaisers eigentlich nur wusste, dass es ihn gab, und dessen Mitleid für Hugo schon dadurch begrenzt war, dass es dem Sohn eines der mächtigsten Bischöfe des Reiches nie an Wohlstand oder Erziehung gemangelt hatte. »Aber an Eurer Stelle würde ich den Hohn des Herzogs nicht so schwer nehmen, in seinem Zustand. Er weiß ja kaum mehr, was er sagt.«

»Ha, schön wäre es! Mein Vater hat mir erzählt, dass der Mann so zäh sei, dass er noch mit einem Fuß über dem Höllenfeuer versuche, das Beste für sich auszuhandeln. Der hat sich jedes Wort genau überlegt, Euer Herzog. Er dachte, wenn er meinen Vater beschämt und ihm klarmacht, auch nur ein Sünder zu sein, dann muss er nicht mit dem Silber herausrücken. Vielleicht ist schon ein Bote nach Rom unterwegs, der den Papst über mich angeblichen Bastard mit wahrheitswidrigen Behauptungen in Kenntnis setzt. Zuzutrauen wäre es ihm. Aber wenn er das getan hat, dann hat er sich ins eigene Fleisch geschnitten, weil der Heilige Vater genau weiß, dass ich … ha! Ins eigene Fleisch! Nichts für ungut, Herr Walther, aber das ist gelungen!«

Mit einem Mal konnte sich Walther in Reinmar versetzen, ein wenig jedenfalls. »Ein Wortspiel, auf das nur Ihr kommen könntet. Vielleicht, und ich spreche hier natürlich nur aus reiner Vermutung, war der Herzog auch neidisch auf das große Vertrauen, das Euer Vater Euch entgegenbringen kann? Seine eigenen Söhne …« Walther zuckte die Schultern und seufzte vielsagend, während Hugo sich nachschenkte.

»Dachte ich mir doch, dass hier am Hof jeder darüber Bescheid weiß«, stimmte der Bischofssohn zu. »Natürlich war es für uns auch offensichtlich, so schnell, wie der Herzog einverstanden war, Friedrich für ihn auf den Kreuzzug gehen zu lassen. Ich wette, er hat nichts dagegen, dass Friedrich lange im Heiligen Land bleibt, wenn nicht bis in alle Ewigkeit, nachdem er erfahren hat, dass in seinem Sattel ein Eroberer gesessen hat, der dort nichts zu suchen hatte. Vermutlich hofft er, dass bis dahin Leopold bereit ist. Schließlich ist da auch noch die Sache mit der Steiermark …«

Walther hatte keine Ahnung, worauf sich Hugo bezog. Es kam nur darauf an, sich das nicht anmerken zu lassen, sondern vorzugeben, er wisse bereits alles. »Ja, die Steiermark«, stimmte er daher in einem bedeutungsschweren Tonfall ein, »die liegt Herrn Friedrich wirklich im Magen!«

Hugo schnaubte belustigt. »Wem ginge das nicht so, wenn der eigene Vater einen Teil des Herzogtums unverhohlen abschneidet und dem jüngeren Bruder zuschanzt? Wahrscheinlich versucht der alte Mann, ihm die Suppe zu versüßen, indem er vorgibt, das sei eine neue päpstliche Bedingung, um die Herzöge von Österreich kleiner zu halten, aber das kann ich Euch versichern, Herr Walther, daran ist kein Stück Wahrheit! Was kümmert es die Kirche, wer oder wie viele hier in Österreich regieren, solange es gute Christen sind, die sich nicht anmaßen, Bischofssitze mit eigener Hand zu besetzen?«

»Fürwahr, fürwahr«, nickte Walther, der sich bemühte, nicht zu fasziniert dreinzublicken. Wenn er Hugo recht verstand, dann hatte der Herzog also vor, Österreich zu halbieren, die Steiermark als separates Herzogtum einzurichten und sie Leopold zu geben. Nun waren Walthers Kenntnisse von adligen Erbangelegenheiten beschränkt, doch er war sich vergleichsweise sicher, dass der Herzog dies nicht ohne Unterstützung seines obersten Lehnsherrn tun konnte, des Kaisers.

»Nun, aber der Kaiser …«, gab er also vage zurück. Hugos Mundwinkel krümmten sich nach unten.

»Der Kaiser schuldet dem Herzog eine Menge. Seine Hälfte des englischen Lösegelds, um genau zu sein, das er nie bekommen hätte, wenn Euer Herzog nicht so unverfroren gewesen wäre, einen Kreuzfahrer gefangen zu nehmen. Also wird er dem Herzog den Gefallen tun, da zweifelt mein Vater überhaupt nicht, und er kennt den Staufer. Bestimmt haben die zwei sich vor zwei Monaten in Gelnhausen bereits darauf verständigt.«

»Eines habe ich nie verstanden«, gab Walther aufrichtig zu. »Warum besteht der Heilige Vater nicht darauf, dass der Kaiser sein unrechtes Gut genauso zurückgibt wie der Herzog? Nur, weil die versammelten Ritter des Kaisers so nahe bei Rom stehen?«

»Ich will nicht hoffen, dass Ihr dem Papst Feigheit vorwerft!«, brauste Hugo auf. »Auch dem Kaiser ist mit dem Bann gedroht worden, aber der hat gelobt, einen Kreuzzug zu führen, jetzt, wo die Eroberung des Königreichs Sizilien auch auf dem Festland vollständig abgeschlossen ist. Für einen solchen gottgefälligen Zweck unrechtes Gut auszugeben, ist angemessene Buße.«

Wenn du das sagst, dachte Walther, hütete sich jedoch, den Gedanken laut auszusprechen. Jetzt hatte er zwei Geheimnisse, mit denen er wuchern konnte. Die merkwürdige Bemerkung der Dame Martha über die Herzogin schien etwas zu bestätigen, was Hugo jetzt mit einem Fremden im eigenen Sattel andeutete. Das konnte der Bischof nur durch einen Bruch des Beichtgeheimnisses durch den Beichtvater der Herzogin erfahren haben. Obwohl Hugo noch etwas damit prahlte, dass ihm sein Vater versprochen habe, ihn nach Rom mitzunehmen und dort vorzustellen, gab es trotz reichlich vorhandener Getränke keine weiteren Auskünfte mehr, die für Walther von Bedeutung waren. Schließlich schleppte er den weinseligen Bischofssprössling in das Gemach, das dieser mit seinem Vater und dessen Sekretär teilte, und dachte nach.

Wenn Friedrich nach seines Vaters Tod auf einmal nur mit der Hälfte seines Herzogtums dastehen würde und noch dazu in die Ferne ziehen sollte – was hieß, dass sein Bruder dann Regent für das gesamte Österreich wurde –, wäre es für ihn wahrlich von großem Nutzen zu wissen, wo der nicht verbaute Teil des englischen Lösegelds geblieben war. Ehrenmänner wie Reinmar glaubten zwar an ihre Eide, doch Walther vermutete, dass viele der immer hungrigen Höflinge bei dem Herzogssprössling bleiben würden, der großzügiger sein konnte als der andere. Er schloss sich selbst dabei nicht aus. Schließlich hatte er kein Gut, von dem er leben konnte; er war auf Gönner angewiesen, die nicht sparen mussten.

Allerdings durfte er sich nicht auf Hugo und Martha als einzige Auskunftsquellen verlassen, zumal der Bischof und sein Sohn offensichtlich auch nicht wussten, wo das Silber sein konnte. Was den Herzog selbst betraf, so erwiesen sich all die so oft erzählten Geschichten von Menschen, die sich im Schlaf die Seele erleichterten oder aber an der Schwelle des Todes das Bedürfnis verspürten, die Wahrheit zu sprechen, als schlecht zusammengereimt. Walther wurde oft genug vorgelassen, doch wenn der Herzog nicht bei Bewusstsein war, was nie länger als eine Stunde dauerte, dann stöhnte er höchstens im Schlaf, und wenn er wach war, dann wollte er entweder fünfzig Jahre alte Lieder hören, die ihn in seiner Jugend begeistert hatten, oder er diktierte Briefe an seine byzantinische Verwandtschaft auf Griechisch, so dass Walther kein Wort verstand. Er versuchte, auch den schreibenden Priester zu einem Zechgelage einzuladen, doch der schaute ihn nur verächtlich an und sagte: »Wenn Ihr glaubt, dass ich in diesen Tagen dem Teufel des Trunkes verfalle, jetzt, wo unser Herr mich mehr als je zuvor braucht, dann wisst Ihr wahrlich nicht, was es heißt, einem Edelmann zu dienen … Herr Walther.«

Mein Gott, ein Aufrechter, dachte dieser, aber ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken.

Was die Ärzte betraf, von denen mittlerweile drei immer wieder am Bett des Herzogs auftauchten, so schienen sie sich keinen anderen Rat zu wissen, als den vereiterten Beinstumpf des Herzogs zu betrachten und mit neuen Tinkturen einzupinseln, oder ihm ein Amulett mit den Hoden eines Wiesels um den Hals zu hängen, was angeblich die Schmerzen davonscheuchen sollte, von der ständigen Sterndeuterei über ungünstig stehende Gestirne ganz zu schweigen. Wenn Walther sie beobachtete, dann ertappte er sich dabei, inbrünstig zu hoffen, dass er niemals eine seiner Gliedmaßen verlor. Kein Wunder, dass der Herzog sie »Schlächter« genannt hatte. Über das englische Silber sprachen sie auch nie mit ihm, doch diese Scharlatane von Ärzten brachten Walther auf den nächsten Einfall, weil wiederholt Mägde von der Herzogin geschickt wurden, mit der Bitte, ihr doch Bericht zu erstatten, wie es um ihren lieben Herrn stünde.

Wenn es um die Verteilung von Erbe ging, hatte für gewöhnlich die Mutter ein Wörtchen mitzureden. Das war zwar nicht Gesetz, doch Walther erinnerte sich an seine eigene Familie; er vermutete, dass die Herzogin entweder wusste, was mit der beabsichtigten Teilung des Herzogtums vor sich ging, oder diese selbst angeregt hatte, als die beiden sich noch verstanden … vorausgesetzt, Hugo und die schöne Martha wussten wirklich etwas, das niemand erfahren sollte.

Als das nächste Mal eine der Mägde kam, machte er seine Verbeugung und erklärte, der Herzogin gerne Bericht vom Zustand des Herzogs erstatten zu wollen, und vielleicht auch mit ein paar Liedern ihre Sorge ein wenig zu lindern. Wie sich herausstellte, hätte er gar keine Entschuldigung vorzubringen brauchen: Die Aufmerksamkeit aller im Raum war auf einen Neuankömmling gerichtet, den neuen Medicus, der sein Glück am fiebernden Körper des Herzogs erproben wollte. Wie Schweine, wenn ein neues am Futtertrog erscheint, dachte Walther, dessen Meinung über Ärzte während der letzten Tage rapide gesunken war, und nutzte die Gelegenheit, so schnell wie möglich aus dem Gemach des Herzogs zu verschwinden.

Das Spiel der Nachtigall
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