Kapitel 19
Adolf von Altena war nie ein Mann gewesen, dem man vorwerfen konnte, abenteuerlich oder unbedacht zu handeln. Sein ganzes Leben hatte sich auf einer höchst vorhersehbaren Laufbahn ereignet, und er war froh darum. Als zweiter Sohn des Grafen von Berg-Altena war er von jeher für die Geistlichkeit bestimmt gewesen und dafür, der Familie den Bischofssitz zu erhalten, denn sein Onkel Bruno war bereits Erzbischof von Köln gewesen. Sorgsam achtete Adolf darauf, sich nicht leichtfertig wie gewisse Sprösslinge der Staufer zu einem Bischof machen zu lassen, ohne vorher Erfahrung in anderen Ämtern gesammelt zu haben. Er begann als Domherr, wurde danach Domdechant und schließlich Dompropst, so dass er das Erzbistum guten Gewissens übernehmen konnte, als sein Onkel Bruno aus Altersgründen abdankte. Ja, Gott hatte sich ihm gnädig gezeigt, doch Adolf fand, er konnte behaupten, sich dieser Gnade auch immer würdig erwiesen zu haben.
Als Heinrich von Hohenstaufen endlich Vater eines Sohnes wurde und sofort Anstalten machte, das Heilige Römische Reich in ein Erbreich umzuwandeln, da tat Adolf nur, was sein Gewissen ihm befahl. Es sagte ihm klar und deutlich, dass er desgleichen nicht zulassen sollte. Könige mochten im restlichen Europa ihre Söhne auf den Thron setzen, aber deutsche Könige wurden gewählt, von Fürsten, denen dieses Recht sehr wichtig war. Wenn man es ihnen nahm, was würde dann als Nächstes folgen? Ein herrliches, blühendes Erzbistum wie Köln würde nicht bedeutender sein als andere, wenn sein Erzbischof nur einer von mehreren Erzbischöfen im Reich war, statt derjenige, dessen Recht es war, deutsche Könige zu krönen, die dadurch zu Kaisern wurden und zu Beschützern der heiligen Kirche. Nein, solche Pläne durfte Adolf als guter Christ nicht zulassen, nachdem die Staufer bewiesen hatten, dass sie nicht Diener, sondern Herren der Stellvertreter Christi sein wollten.
Seine Kaufleute, die Adolf beträchtliche Summen für seine Repräsentationspflichten borgten – denn gehörte es nicht zu seinen Pflichten, dem Bischofssitz Glanz zu verleihen? –, waren der gleichen Ansicht. Auch sie hatten die Nachricht von Heinrichs später Vaterschaft mit großem Bedauern gehört und Adolf ihre Bewunderung für seine felsenfeste Stellung gegen die Zumutung, ein Kind zum König zu krönen, ausgesprochen. Sie hatten ihn auch in Verbindung mit einem Amtsbruder gebracht, den er eigentlich nicht so sehr schätzte. Alles an Wolfger von Erla, dem Bischof von Passau, war Adolf verdächtig. Angefangen damit, dass der Mann jahrelang als weltlicher Ritter lebte, verheiratet war und Kinder in die Welt setzte, statt die geistliche Laufbahn wie Adolf als Kind zu beginnen. Außerdem liebäugelte Wolfger schamlos mit dem Patriarchenstuhl von Aquileja, ein Amt, das ihn innerhalb der Kirche über jeden Erzbischof erheben würde. Und er war kein Mann klarer Worte, kein Mann eindeutiger Freundschaften wie Feindschaften. Wolfger gelang es, sowohl vom Kaiser als auch vom Papst geschätzt zu werden, und selbst sein Streit mit den Herzögen von Österreich um den Status von Wien änderte nichts daran, dass er stetig von beiden empfangen wurde.
Kurzum, man konnte Wolfger eine Menge vorwerfen, doch eines nicht: Er war kein Narr. Es musste ihm so klar wie Adolf sein, dass ein mächtigerer Kaiser und eine Erbmonarchie immer einflusslosere Fürsten bedeuten würde, weltliche und geistliche Fürsten; ganz zu schweigen davon, dass ein übermächtiger Kaiser wie einst Barbarossa versuchen würde, selbst die Papstwahl zu diktieren, und der Heilige Vater wiederum war der Stellvertreter Christi, dem alle Bischöfe gehorchen mussten. Daher war Adolf geneigt, den Ratschlag, den ihm Wolfger erteilte, nicht mit einem verächtlichen Schnauben abzulehnen. Im Gegenteil, er dachte darüber nach und sagte sich, dass es wohl wirklich besser war, sich geschmeidig zu geben und Krankheit vorzuschützen, statt den Kaiser vor den Kopf zu stoßen. Wolfger war es auch, der ihm die unschätzbare Nachricht zukommen ließ, dass der kleine Sohn des Kaisers noch nicht getauft war, was kirchenrechtlich ein Juwel für seine Argumente bedeutete.
Zweifellos hatte Wolfger seine eigenen Gründe. Adolf hielt sich für einen gutmütigen Mann, doch er war nicht so gutmütig, davon auszugehen, dass Wolfger allein von Sorge um die Kirche getrieben wurde. O nein, Wolfger träumte bestimmt davon, dass sein Schützling Philipp von Schwaben seinem Bruder nachfolgte. Ganz gewiss wollte er nicht mit der Kaiserin Konstanze um die Regentschaft für den kleinen Friedrich streiten. Jedermann wusste, was sie für eine unweibliche, harte Frau war, die sich sogar gegen ihren Ehemann erhoben hatte. Was würde sie erst Männern der Kirche antun, sollte sie die Macht dazu haben?
Adolf hatte nichts dagegen, sich von Wolfger als Waffe gebrauchen zu lassen, solange seine eigenen Wünsche auch bedient wurden. Ihm war aber klar, dass es damit aus und vorbei sein musste, wenn Kaiser Heinrich das tat, worum so viele Menschen den Allmächtigen anflehten, und er das Zeitliche segnete: Dann hatte sich zu zeigen, wer der Klügere war und wen Gott als bedeutendsten Bischof des Reiches sehen wollte. Wer das war, daran hegte Adolf nicht die geringsten Zweifel, also begann er, seine Pläne für den Fall der Fälle zu schmieden.
Am Ende verlief alles noch besser, als Adolf je gehofft hatte. Der Kaiser starb im Feldlager in Sizilien, während der übereifrige Wolfger bereits im Heiligen Land war, was bedeutete, dass der deutsche Klerus allein auf den Bischof von Köln schauen würde. Philipp von Schwaben saß in irgendeinem italienischen Nest fest, doch Adolfs Wunschkandidat war in der Nähe. Eigentlich musste er nur noch warten, bis genügend Fürsten für eine angemessene Wahl in Köln eingetroffen waren, damit er im Anschluss seinen neuen König krönen konnte.
Leider schien sich sein Glück zu wenden, als Berthold von Zähringen ihm eine gedrechselte Antwort sandte, die kein Ja und kein Nein war, statt sofort mit der Übergabe von Silbersäcken zu beginnen. Es war nicht zu fassen, dass der Mann so kleinlich war, um den Preis einer Königskrone feilschen zu wollen, denn welchen Grund konnte sein Zögern sonst haben? Ein Rivale würde ihm möglicherweise auf die Sprünge helfen. Also streckte Adolf vorsichtig Fühler in Richtung des Herzogs von Sachsen aus, der zu Weihnachten aus dem Heiligen Land zurückgekehrt war – und zu seiner Überraschung mitteilen ließ, er könne sich die Krone schlicht und einfach nicht leisten. Wahrlich, der Geiz der weltlichen Fürsten und ihr Mangel an Einsatz für das Wohl des Reiches waren betrüblich! Was stellten sich diese Tröpfe denn vor? Er brauchte das Geld doch nicht für sich, sondern für die Ehre Gottes. Es ging um den neuen Dom, der natürlich prächtiger sein sollte, als die in Worms oder Mainz es werden konnten.
Adolf sinnierte einmal mehr traurig darüber, als sich Gerhard Unmaze, der Münzmeister Constantin sowie die Kaufleute Lambert und Stefan bei ihm anmelden ließen. Nach gegenseitigen höflichen Grüßen und Geplaudere eröffneten sie ihm, ohne zu erröten, dass König Richard in seiner Eigenschaft als eingeschworener Vasall des Reiches durch eine Gesandtschaft bei der Wahl repräsentiert zu sein wünsche und dass er seinen Neffen Otto von Poitou als König vorschlage.
»Auch wir halten Graf Otto für den geeignetsten deutschen König, Euer Gnaden«, fügte der Münzmeister an.
Das war eine Unverschämtheit sondergleichen. Adolf argwöhnte, dass der permanent mit seinen Kriegen gegen den französischen König beschäftigte Richard von sich aus nie und nimmer auf die Idee gekommen wäre, sich bei der deutschen Wahl zu beteiligen, geschweige denn, einen Kandidaten vorzuschlagen. Das konnte nichts anderes bedeuten, als dass seine Pfeffersäcke, in deren Adern kein Tropfen adliges Blut floss und von denen zwei noch dazu getaufte Juden waren, es auf sich genommen hatten, sich in die Geschicke des Heiligen Römischen Reiches einzumischen. Gut, er hatte in der Vergangenheit ein, zwei Mal auf ihre Ratschläge gehört. Sie streckten ihm gelegentlich Geld vor, dessen ein Erzbischof von Köln, der seinem Stand keine Schande machen wollte, einfach bedurfte. Aber das hieß nicht, dass sie sich anmaßen sollten, sich in eine solch wichtige Angelegenheit einzumischen. König Richard musste annehmen, dass die Einladung zur Wahl von Adolf gekommen war. Wenn sein Neffe nicht König wurde, würde er es am Ende Adolf anlasten, und viel vom Kölner Handel hing von Richards Reich ab. Ganz zu schweigen davon, dass Berthold von Zähringen sich vielleicht von einem Rivalen wie dem Herzog von Sachsen doch befleißigt gefühlt hätte, nun schneller mit dem Silber herauszurücken – ein Rivale mit der Unterstützung des Königs von England, dessen Armee nicht allzu weit von Bertholds burgundischen Besitzungen entfernt stand, würde ihn bestimmt nicht motivieren.
Adolf holte tief Luft, um seine Empörung angemessen kundzutun, doch ehe er dazu kam, fügte der Kaufmann Stefan hinzu: »Graf Otto mag nicht das Vermögen des Herzogs von Zähringen besitzen, doch das größte Reich nach dem unseren steht hinter ihm. Überdies hat er alles zu gewinnen und nichts zu verlieren, wenn er sich um die Krone bemüht. Er wird denjenigen dankbar sein, die ihm helfen. Verzeiht, Euer Gnaden, doch wir bezweifeln, dass dies auch für den Herzog von Zähringen gilt.«
Zu leugnen, dass der Herzog von Zähringen sein Wunschkönig war, wäre unter Adolfs Würde, und so schluckte er zähneknirschend einen Fluch hinunter, zumal er ihn hätte beichten müssen. Außerdem fand er es beunruhigend, dass die Kaufleute von seinen Verhandlungen mit Berthold wussten; wer hatte das ausgeplaudert? Und wie konnten die Menschen, die er als seine Werkzeuge betrachtete, welche der Allmächtige ihm in seiner unendlichen Güte zur Verfügung gestellt hatte, sich für befugt halten, ihn zu manipulieren? Das erzürnte ihn, doch schlimmer, es verstörte ihn auch, denn er war sich bewusst, dass er die Kaufleute nicht hinauswerfen konnte. Er war bei ihnen allen verschuldet, und das Geld des Herzogs von Zähringen war noch nicht in seiner Hand. Wären sie Juden gewesen, hätte Adolf seine Schulden für ungültig erklären können, doch sie waren allesamt Christen, also war ihm dieser Weg versperrt.
»Graf Otto steht es natürlich frei, sich um die Krone zu bewerben, und gerne höre ich die Empfehlungen König Richards«, sagte er mit einem freudlosen Lächeln. »Doch wen die Fürsten wählen, liegt nur in Gottes Hand. Wie sollte ich da irgendwelche Versprechungen abgeben können?«
»Euer Gnaden sind zu Recht der angesehenste Bischof im Reich«, sagte Gerhard Unmaze, »und man wird auf Euch hören. Dürfen wir davon ausgehen, dass Ihr zur Wahl Graf Ottos raten und Eure eigene Stimme zu seinen Gunsten abgeben werdet?«
Wie es schien, blieb Adolf nichts anderes übrig, als deutlicher zu werden. »Nein«, sagte er ungnädig. »Gern werde ich ihn in meinem eigenen bescheidenen Haus unterbringen, sollte er selbst nach Köln kommen, denn schließlich handelt es sich um einen vaterlosen jungen Mann. Aber Herzog Berthold scheint mir bei weitem der erfahrenere Fürst. Er wird uns nicht in Kriege mit den Franzosen stürzen oder erwarten, dass wir Geld für König Richards Feldzüge aufbringen. Ist Euch überhaupt bewusst, dass das Bistum Köln heute bis zur Weser reicht, wo vorher welfisches Land war? Wie schnell wird Otto das wieder fordern, wenn er erst König ist?«
Das waren höchst vernünftige Einwände, auf die er stolz sein konnte, obwohl es bereits demütigend war, sie überhaupt machen zu müssen. Eigentlich sollte es genügen, zu sagen, er wünsche nicht, Graf Otto zu unterstützen, und damit Punktum.
»Euer Gnaden«, sagte der Münzmeister Constantin, »Graf Otto ist bereit, selbst hier zu erscheinen und den Verzicht auf das Herzogtum zu bestätigen, auch auf die Gefahr hin, durch einen Verlust der Wahl gedemütigt zu werden. Er will dafür alles geben. Könnt Ihr das von Herzog Berthold behaupten? Wie Ihr richtig bemerkt, ist er kein Jüngling mehr. Wenn er wirklich König werden wollte, wäre er nicht schon längst bei Euch oder hätte zumindest feste … Versicherungen in Eure Hände gegeben? Kann man einem Mann trauen, der Euch hinhält und den Thron Karls des Großen wie einen Kuhhandel angeht?«
Leider sprach er Dinge aus, die Adolf selbst beunruhigten. Zum ersten Mal tauchte in Adolf der unglaubliche Verdacht auf, dass Berthold von Zähringen ihn nicht nur in der Absicht hinhielt, weniger Geld zahlen zu müssen, sondern vielleicht überhaupt nicht bereit war, König zu werden. Gleich darauf verscheuchte er den Gedanken wieder. Wer wollte nicht König werden? Nun, bis auf den geizigen Herzog von Sachsen vielleicht.
»Ein Vorschlag zur Güte«, sagte Stefan, »um Euer Gnaden vor unlauteren Machenschaften zu schützen. Ihr solltet von Herzog Berthold verlangen, Euch Geiseln zu stellen, um für sich zu bürgen. Für sein Kommen und für seine Dankbarkeit gegenüber Euer Gnaden. Wenn er das tut, beweist er, dass er die Krone so sehr wünscht wie Graf Otto. Aber erst dann!«
»Auch, wenn er Euer Gnaden nie im gleichen Maß dankbar sein wird«, fügte Lambert hinzu. »Leider sind Herren, die schon vom Glück verwöhnt wurden, oft geneigt, Hilfe für selbstverständlich zu nehmen. Wohingegen der tapfere Otto, Sohn des so grausam verbannten Heinrich des Löwen, aufgewachsen in der herzlosen Fremde, geradezu nach dem väterlichen Rat eines Mannes wie Euer Gnaden lechzt und bereits versprochen hat, das Erzbistum Köln zum Juwel seines Reiches zu machen.«
»Ganz wie sein Onkel, der vornehmste Ritter der Christenheit, zutiefst beeindruckt vom Edelmut Euer Gnaden nach seiner Freilassung aus den Klauen des Österreichers und des Staufers war, als Ihr ihn hier in Köln so großmütig willkommen hießt«, sagte Gerhard Unmaze. »Die Stadt Köln ist ihm so unvergessen, dass er uns den Zoll für sein gesamtes Reich erlässt … falls Graf Otto unser König wird.«
Zum ersten Mal begann etwas in Adolf zu schwanken. Bisher hatte er keinen Vorteil in Otto gesehen, nur die Gefahr, das ganze Westfalen wieder abgeben zu müssen, aber Gott ging in der Tat manchmal unerforschliche Wege. Derartige Zollprivilegien waren nicht zu verachten; auch er würde durch die Steuern und Einfuhrzölle davon Gewinn ziehen. Außerdem würde sich ein junger Niemand in der Tat viel eher seiner Führung anvertrauen als jener viel zu selbstsichere Zähringer mit seinen ausweichenden Antworten.
Andererseits würde Ottos Dankbarkeit nicht sofort die klare und klingende Form annehmen, die Adolf brauchte, um seine Schulden zu begleichen und danach die Kaufleute wieder auf ihren Platz zu verweisen.
Geiseln waren keine schlechte Idee. Ja, er würde Geiseln verlangen. Und dann würde sich zeigen, ob er weiter auf Berthold bauen konnte oder einen anderen als König in Erwägung ziehen musste.
* * *
»Der Zähringer ist ein gerissener Hund«, sagte Heinz von Kalden, als er mit Philipp alleine war. »Zuerst hatte er die Stirn, für seine Hilfe das Herzogtum Schwaben zu verlangen, aber das war natürlich nur deshalb, damit ich ihn herunterhandeln konnte auf das, was er wirklich wollte, und das hört sich immer noch gewaschen an: Er will nicht nur die Vogtei über Schaffhausen als Lehen, sondern auch das Recht, die Burg Breisach zu zerstören. Anscheinend hat Euer verstorbener Bruder dort nicht nur Frauen geschändet.«
Philipp zog eine Grimasse, doch er bemerkte nichts weiter dazu. »Und?«, hakte er nach.
»Elftausend Silbermark.«
»Elftausend?«
»Ganz recht. So hoch schätzt er sein Versprechen ein, sich nicht um die Krone zu bewerben und sich für Euch als König zu erklären. Was uns natürlich auch all seine Lehnsleute und Bündnispflichtigen zuführt. Aber elftausend sind eine Menge Geld. Von dem englischen Silber ist kaum mehr etwas da, nicht nach dem letzten Kreuzzug.«
»Grundgütiger«, sagte Philipp, halb entsetzt, halb belustigt. Allmählich wurde er sich bewusst, welchen Unterschied der Tod seines Bruders machte. Um die Fürsten für die Wahl seines Neffen zu gewinnen, hatte er auch ein paar Vorteile versprechen müssen und mehr erbliche Lehen in Aussicht gestellt, aber so schamlose Forderungen waren nie erhoben worden. Hätte sein Bruder damals nicht den Kronschatz der Normannen aus Sizilien herschaffen lassen, hätte er nicht noch einen Rest des Lösegelds von Richard, ihm würden alle wirklich überzeugenden Argumente für seine Wahl fehlen. Vor Heinrich hätten sie Angst gehabt, aber vor ihm …
»Wie viele von den Fürsten sind inzwischen wieder zurück?«, fragte er. Berthold konnte mit seinem Pfund wuchern, solange er einer der wenigen Hirsche am Platz war, aber er musste wissen, dass sich dieser Umstand ändern würde, sobald der Winter vorbei war.
»Nicht sehr viel mehr als zu Weihnachten«, erwiderte Heinz von Kalden bedauernd. »Der Sachse und der Landgraf von Thüringen, aber der Rest hat noch nichts von sich hören lassen. Bis auf den Herzog von Österreich, doch da gibt es schlechte Nachrichten. Friedrich hat auch eine der Seuchen erwischt, und in der Botschaft, die uns der Bischof von Passau schickt, heißt es, dass es nicht viel Aussicht auf eine Genesung gibt.«
Das war in der Tat eine schlechte Nachricht. Friedrich von Österreich war einer der wenigen deutschen Fürsten, die reich und mächtig waren, ohne selbst den Anspruch auf die Krone erheben zu wollen, und bei denen man sich darauf verlassen konnte, dass sie das Haus Hohenstaufen unterstützten. Außerdem hatte Philipp den Herzog bei den wenigen Malen, die sie einander begegnet waren, als einen guten Mann empfunden, der es nicht verdient hatte, in der Fremde an einer Seuche zu sterben. Er bekreuzigte sich; dann fiel ihm etwas an den Worten des Reichshofmarschalls auf, das noch einer Erklärung bedurfte.
»Wie kann der Bischof von Passau uns Botschaften aus Italien schicken, wenn sich niemand über die Alpen wagt?«
»Sein Bote hat den Weg um die Alpen an der Rhone entlang genommen«, entgegnete Heinz von Kalden. »Es ist nur allzu wahrscheinlich, dass auch der Zähringer die Nachrichten hat.«
Sie sprachen vom Landgrafen von Thüringen, der es gerade noch vor Wintereinbruch zurückgeschafft und bereits klargemacht hatte, dass die Markgrafschaft Meißen für seinen Schwiegersohn nur der bescheidene Anfang von dem war, was er für seine Treue erwartete, als einer von Philipps Dienern Herrn Walther von der Vogelweide anmeldete. Philipp fiel auf, dass sein Reichshofmarschall keineswegs meinte, jetzt sei nicht die Zeit für einen Sänger. Als er danach fragte, sagte Heinz offen: »Der Dreckspatz ist nützlich. Die Sache in Frankfurt hätte ein einmaliger Treffer sein können, aber auf dem Weg von Freiburg hierher bin ich in einer Schenke abgestiegen, wo der Spielmann tatsächlich ein Lied dieses Kerls zur Königswahl zum Besten gab. Ich war nie versessen auf Reime und Lieder, aber dieses hatte einen sehr erinnerungswürdigen Schluss.« Er begann, mit seiner rauhen Stimme zu singen: »Die Fürsten dünken sich zu hehr, die armen Könige drängen dich. So setz Philipp den Waisen auf: Dann sollen sie bescheiden sich.«
»Erbarmen«, sagte Philipp mit einem Lächeln. »Ihr seid ein großer Kämpfer, Heinz, aber als Sänger …«
»Ich weiß. Aber solche Lieder höre ich lieber als welche auf Berthold von Zähringen. Ich glaube, was mir daran am besten gefällt, ist der Hinweis auf den Waisen. Es kann nicht schaden, die Menschen zu erinnern, dass wir die Kronjuwelen haben.« Philipp sagte nichts, doch er zog eine Augenbraue hoch. »Ihr«, verbesserte sich Heinz von Kalden.
Natürlich hatte sein Marschall recht: Zepter und Krone, einschließlich des legendären Kronjuwels, das man den Waisen nannte, waren im staufischen Besitz, hier in Hagenau, wo zum Glück in der Zeit zwischen Heinrichs Tod und Philipps Rückkehr niemand gewagt hatte, Hand an sie zu legen. Ganz gleich, wie stolz der Erzbischof von Köln auf sein Recht war, Könige zu krönen, über die einzig wahren Insignien dafür verfügte er nicht. Das ließ Philipp seit seiner Ankunft wieder viel ruhiger schlafen.
Er bedeutete dem Diener, Herr Walther möge eintreten. Dem Sänger ging es offensichtlich gut; Heinz von Kalden trug derzeit abgewetztere Kleidung. Trotzdem hatte er noch den gleichen Blick, den Philipp zuerst für hungrig gehalten hatte und mittlerweile als zu neugierig, zu gewitzt empfand. Herr Walther, so schien es, spazierte durch das Leben und fragte sich ständig, was es ihm zu bieten hat. Damit stand er nicht allein, doch die anderen Menschen mit einer ähnlichen Einstellung, die Philipp kannte, gründeten sie auf Grundlagen wie Reichtum oder Macht, nicht auf die merkwürdige Mischung aus Beobachtungsgabe und einem Talent für Reimereien. Alle anderen Minnesänger, denen Philipp begegnet war, verhielten sich anders: Sie wollten alle etwas vom Leben, doch es war klar, was sie wollten – einen Gönner und einen warmen Platz. Man konnte sich deshalb auch immer auf sie verlassen. Walther dagegen mochte Lieder im Sinne Philipps geschrieben haben, aber bisher war jedem, das Philipp zu Ohren gekommen war, auch eine Prise Spott beigemischt gewesen, die Walthers höchsteigene Meinung widerzuspiegeln schien. Er wünschte sich, er hätte Friedrich von Österreich mehr nach den Eigenarten seines Schützlings befragt.
Vom plötzlichen Wunsch getrieben zu erkunden, ob Walther so etwas wie Treue zeigen konnte, auch wenn es sich für ihn nicht auszahlte, sagte Philipp: »Ihr kommt zu einer trüben Stunde. Wir haben schlechte Nachrichten erhalten, Herr Walther.«
»Und ich dachte, es sei mein höchsteigenes Privileg, die Unglückskrähe zu geben«, gab Walther zurück, offensichtlich nicht beunruhigt und in dem Versuch, Philipp neugierig auf seine eigenen Nachrichten zu machen.
»Herzog Friedrich liegt an einer Seuche danieder.«
Walthers Mund formte ein lautloses O, dann schloss er ihn wieder und schaute zu Boden. Als er wieder aufblickte, war sein Gesicht ernst, doch nicht traurig. »Ich werde für ihn beten.«
Was bleibt von uns, fragte sich Philipp und wusste selbst nicht, warum ihn derartige Grübeleien ausgerechnet jetzt befielen. Sein Vater hatte Päpste in die Knie gezwungen, doch am Ende hatte ihn ein kalter Fluss in einem fernen Land besiegt, und heute gab es niemanden mehr, der von ihm sprach. Sein Bruder Heinrich war erst wenige Monate tot. Alle Welt sprach von den Folgen, doch an Heinrich selbst dachte kaum jemand, ganz gewiss nicht die Sänger des Reiches. Philipp schloss sich selbst nicht aus. Auch er dachte weit öfter über die Folgen nach, die Heinrichs Tod für ihn und das Reich hatte, als an seinen Bruder. Wenn ich morgen sterbe, dachte Philipp, wer wird dann übermorgen noch an mich denken? Irene vielleicht. Doch niemand sonst.Es war eine verstörende Vorstellung.
»Er wird unsere Gebete brauchen«, erwiderte Philipp.
»Und er ist nicht der Einzige«, sagte Walther und kam ungefragt näher. »Der Erzbischof von Köln braucht dringend himmlischen Beistand, weil er sich offenbar unabsichtlich zwei verschiedenen edlen Herren als zukünftigen Königen verpflichtet sieht. Leider gehört Ihr nicht dazu, Euer Gnaden.«
»Der Gierschlund hat sich überfressen?«, fragte Heinz von Kalden vergnügt. »Das ist zu gut, um wahr zu sein.«
So viel zu Friedrich von Österreich, dachte Philipp. Aber er selbst war auch nicht anders. Was war ihm der Herzog von Österreich im Vergleich zum Kampf um seine Krone? Nichts.
»Zumindest dürfte ihm derzeit der Magen schwer sein«, stimmte Walther zu. »Aber leider löst sich dieses Problem für ihn sehr schnell, wenn er erst entdeckt, dass der Herzog von Zähringen ihn nur hinhält. Vielleicht ist er auch vorher schon mit dem Spatz in der Hand zufrieden, denn man könnte in diesem Fall sehr wohl von einem Täuberich sprechen.«
»Und wie lautet dessen Name?«, fragte Philipp, nicht gewillt, noch länger Ratespielchen mitzumachen. Wenn Walther zuerst eine Bezahlung haben wollte, würde er sich künftig anderer Quellen bedienen. Vielleicht war er ungerecht, doch er war jetzt nicht in der Stimmung, sich von einem wetterwendischen Sänger hinhalten zu lassen.
»Ihr seid mit ihm verwandt«, sagte Walther. »Sein Bruder ist mit Eurer Base vermählt.« Er musste an Philipps Miene abgelesen haben, dass dies nicht der Zeitpunkt für weitere Ausflüchte war, und fügte hastig hinzu: »Graf Otto von Poitou.«
»Himmelherrgott«, fluchte Heinz von Kalden, während Philipp stumm blieb. »Noch nicht einmal der Älteste der Welfenjungen?«
»Anscheinend hat König Richard auf Otto bestanden«, sagte Walther. »Vielleicht sieht man das in adligen Kreisen anders, aber wenn ich der Pfalzgraf Heinrich von Braunschweig wäre und bei meiner Rückkehr aus dem Heiligen Land hörte, dass mein jüngerer Bruder als deutscher König vorgeschlagen wurde, dann wäre ich gekränkt … und nicht gesonnen, für die Sache meines jüngeren Bruders zu streiten.«
Dietrich von Meißen und dessen verstorbener Bruder tauchten vor Philipps innerem Auge auf; auch seine eigenen toten Brüder, vor allem Konrad, dessen immer wildere Handlungen vielleicht auch darin begründet waren, sich am Ruf von Heinrich messen zu wollen. Es stimmte, brüderliche Rivalität war allgegenwärtig, und es mochte sich lohnen, dem Pfalzgrafen von Braunschweig einen Boten zu schicken. Aber das verminderte nicht die Gefahr, die sich durch Walthers Eröffnung sofort für Philipp darstellte. Ein Herzog wie Berthold war reich und mächtig, aber als Rivale nicht gefährlich, wenn er schon im Vorfeld klarmachte, dass er sich lieber für einen Verzicht auf die Krone kaufen ließ. Ähnliches galt für den Herzog von Sachsen. Aber die Welfen hatten die Fehde mit den Staufern von ihren Vätern geerbt. Sie würden sich nie durch Geld oder Drohungen abbringen lassen. Was Otto betraf, so wusste Philipp von ihm nur, dass er sich bei König Richards Feldzügen hervorgetan haben musste. Schlimmer als dergleichen Kampfesruhm war, dass Otto als Richards Neffe auch auf dessen Heer zurückgreifen konnte. Ein Welfe war genau der Rivale, den Philipp nicht hatte haben wollen.
»Inwieweit hat der Erzbischof sich auch Otto verpflichtet?«, fragte er, denn der Umstand, dass Adolf noch mit dem Zähringer in Verhandlungen war, stellte einen Vorteil dar, der aber nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen würde.
»Seine Geldgeber haben es«, erklärte Walther. »Einige der wichtigsten Kölner Kaufleute zögen es vor, wenn …«
»Die Pfeffersäcke nehmen es sich heraus, bei einer Königswahl mitzumischen?«, unterbrach Heinz von Kalden. »Jetzt haben wir das, was ich immer befürchtet habe! Die verfluchten Städter verdrängen die Fürsten von der Macht; erst immer mehr in Italien, jetzt hier in unseren deutschen Landen.«
»Ich fürchte, es wird bald niemanden im Reich geben, der sich das nicht herausnimmt«, sagte Philipp resigniert. »Eines steht fest, wir können es uns nicht mehr leisten, darauf zu warten, dass alle unsere Verbündeten aus dem Heiligen Land zurückkehren. Wir müssen die Wahl jetzt einberufen und dürfen keine Zeit mehr verlieren.« Er fasste Walther ins Auge. »Wisst Ihr, wohin Euch Euer Weg als Nächstes führen wird?«
»Zurück nach Köln«, sagte Walther prompt. Er schien sich dessen sehr sicher zu sein und lächelte sogar bei der Aussicht.
»Nun, ich würde vorschlagen, dass Ihr umgehend nach Wien zurückkehrt, Herr Walther«, sagte Philipp, »um Herzog Leopold in der Stunde seines drohenden Verlustes beizustehen und Eure Pflicht gegenüber Eurem Gönner zu leisten. Und bei dieser Gelegenheit könnt Ihr Leopold auch eine Nachricht von mir überbringen. Wenn Friedrich gesundet, dann stifte ich gerne ein paar Messen, doch in jedem Fall möchte ich Leopold so bald als möglich an meiner Seite sehen, mit allen Männern von Rang, die er aufbringen kann.«
* * *
»Es ist zu deinem eigenen Besten«, sagte Stefan herzlich. Judith traute ihren Ohren nicht. Sie ließ ihren Mantel sinken, an dem sie herumflickte, und starrte ihren Onkel ungläubig an.
»Dass du dein Versprechen nicht halten willst, soll zu meinem Besten sein? Das ist selbst für dich eine Verschwendung deines rednerischen Talents, Onkel.«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich dir das Geld nicht leihen werde, nur, dass ich es dir jetzt nicht leihen kann. Und offen gesprochen, Nichte, hättest du dir das denken können. Du weißt, welche Ausgaben mich zurzeit belasten.«
»Was ich weiß«, sagte Judith eisig, »ist, dass du mir ein Versprechen gegeben hast. Außerdem weiß ich, dass ich meine Versprechen dir gegenüber bisher alle erfüllt habe.«
Stefan setzte sich neben sie auf die Ofenbank und lächelte begütigend. »Niemand bestreitet das. Aber gerade der Wunsch, mitten im Winter deine Familie zu verlassen und allein mit einem Fremden in einem fremden Haus leben zu wollen, zeigt mir, wie jung du noch bist. Du brauchst die Weisheit und Leitung eines Vaters, Jutta, und da ich dein nächster Verwandter bin …«
»Es ist das Haus meines Vaters, in das ich zurückkehren möchte. Mit meinem Gatten. Nach christlichem und jüdischem Gesetz ist er es, dem ich Gehorsam schulde, Onkel, nicht du.«
»Dein Gemahl ist nicht dein Gemahl, das wissen wir beide«, sagte Stefan ruhig. »Ich nahm an, dass du froh sein würdest, wenn ich den Erzbischof ersuche, deine Ehe für ungültig zu erklären, wie du es auf unserem Rückweg von Chinon von mir gefordert hast. Du wirfst mir vor, meine Versprechen nicht zu halten, Nichte, aber inmitten der Verhandlungen, die unser aller Leben betreffen, habe ich daran gedacht, diese Bitte an den Erzbischof zu richten. Er ist einverstanden. Du musst dich nur von drei ehrbaren Frauen der Stadt untersuchen lassen, damit sie dir deine Jungfräulichkeit bestätigen.«
Es war nicht zu fassen! Sie weigerte sich zu glauben, dass er nicht genau wusste, was er da tat. Natürlich hatte sie gleich nach Chinon über die Auflösung ihrer Ehe mit ihm gesprochen, doch ehe sie ihm von den Verhandlungen des Erzbischofs mit dem Herzog von Zähringen erzählte, hatte sie ihm auch über ihre Pläne für ein Leben mit Gilles in ihrem alten Haus berichtet und seine Zustimmung und Unterstützung zugesagt bekommen. Sie hatte sogar schon mit dem Arzt Ja’akov gesprochen, der inzwischen dort wohnte, aber bereit war, es gegen eine entsprechende Summe mit ihr und Gilles zu teilen, um sich dann im Sommer ein neues Heim zu suchen.
»Warum tust du das?«, fragte sie ihren Onkel. »Es wird dir mehr Frieden in deinem eigenen Haus bringen, wenn ich es verlasse.«
»Du magst es glauben oder nicht, aber ich tue es für dich und meine Schwester, Gott sei ihrer Seele gnädig. Sieh dir an, was mit dir geschehen ist, seitdem du dein eigenes Leben bestimmst: Du verlässt Salerno, wo du doch am besten hättest als Ärztin wirken können, und reist lieber mit einem staufischen Schlagetot und einer Griechin, als einen ehrbaren Mann zu heiraten, den dein Vater für dich ausgewählt hat. Dann änderst du deine Meinung wieder und reist ab Nürnberg mit mir, obwohl ich ein Lügner und Betrüger hätte sein können, der nur vorgab, dein Onkel zu sein. Und nun hast du dich entschieden, einen unserer Söldner als deinen Gemahl zu betrachten. Jutta, wenn es je eines Beweises bedurft hat, dass Frauen nicht in der Lage sein dürfen, ihr eigenes Geschick zu betreiben, dann ist er durch dich nun erbracht.«
Sie hätte ihm nicht von Meir erzählen dürfen. Doch nein, dann hätte er einen anderen Grund gefunden, um sein Verhalten zu rechtfertigen. Stefan, dachte Judith, wäre in der Lage, den Tempel in Jerusalem Stein für Stein zu verkaufen und zu erklären, dass er es nur zum höheren Ruhme Gottes tut. Das war ihr schon seit einiger Zeit klar gewesen, doch sie fühlte sich trotzdem, als hätte er ihr einen Dolch in den Rücken gestoßen. Vielleicht hatte sie ihn tatsächlich ein wenig an der Stelle ihres Vaters gesehen, ohne sich dessen bewusst zu sein; sie hatte angenommen, dass er an sie glaubte, wie es ihr Vater getan hatte, nicht, dass er sie im Grunde für dumm und kindisch hielt.
Nun, es konnte ihr gleichgültig sein, was er dachte. Es musste ihr gleichgültig sein. Worauf es ankam, war, sich nicht länger von ihm ausnutzen zu lassen. Wenn er darauf bestand, sie weiterhin unter seinem Dach zu behalten, dann gewiss nicht aus verwandtschaftlicher Besorgnis. Um sich Zeit zu geben, darüber nachzugrübeln, was das sein könnte und wie sie ohne seine Hilfe genügend Geld für ihre Hälfte des Hauses aufbringen würde, schluckte sie ihren Groll hinunter und sagte nur: »Wenn ich nicht in der Lage bin, mein eigenes Leben zu meistern, dann sollte es dich doch beruhigen, Onkel, dass ich mich nunmehr im gottgefälligen Stand der Ehe befinde. Und da Gilles für dich arbeitet, musst du ihn für ehrlich und fähig halten; ich verstehe nicht, welche Einwände du gegen ihn erbringen könntest. Vertraust du ihm auf einmal nicht mehr?«
Stefan legte begütigend einen Arm um ihre Schultern. »Doch, das tue ich. Ich vertraue ihm so sehr, dass ich ihn als Leibwächter für die Geiseln vorgeschlagen habe, die der Herzog von Zähringen dem Erzbischof gestellt hat, als Zeichen seines guten Willens. Sie sind heute eingetroffen.« Da Stefan am guten Willen des Herzogs von Zähringen nichts liegen konnte, war das alles andere als beruhigend. »Doch das heißt nicht, dass ich ihn für würdig befinde, die Nichte eines der wichtigsten Kaufleute der Stadt zu heiraten. Wäre nicht ein unglücklicher Zufall gewesen, wäre es nie dazu gekommen, und du würdest heute keinen Gedanken mehr an ihn verschwenden.«
Ihre Hände waren so fest um ihren Mantel und die Nadel verkrampft, dass sie sich stach; noch ehe sie das kurze Aufflackern von Schmerz spürte, konnte sie Blut aus ihrem Handballen tropfen sehen. Blutstropfen waren aus guten Stoffen so gut wie nicht mehr zu entfernen; sie ließ hastig alles los, was sie hielt, und fuhr sich mit der Zunge über den Handballen. »Es war kein unglücklicher Zufall«, sagte sie schneidend, »sondern der Mann, den du zum nächsten deutschen König machen willst.«
»Umso mehr bin ich bestrebt, die Folgen unseres Besuches in Chinon zum Besseren zu wenden.« Er löste seinen Arm von ihrer Schulter und ergriff ihre Hand, die sie in die Höhe gehoben hatte, damit die Blutung schneller stoppte. »Glaub mir, ich habe über Graf Ottos Verhalten dir gegenüber nachgedacht und das, was es bedeutet. Ich bin nicht blind, Nichte. Es tat mir weh, dich als Ziel eines groben Scherzes zu sehen.«
Vor ein paar Monaten hätte Judith das als Entschuldigung aufgefasst und wäre dankbar gewesen, dass ihr Onkel endlich verstand, auf wie viele Arten ihr jener Abend in Chinon zuwider war und warum es ihr nicht nur um ihre verletzten Gefühle ging, wie er einmal behauptet hatte. Aber mittlerweile kannte sie Stefan besser; außerdem wäre eine Entschuldigung nach all dem, was er vorher gesagt hatte, die unlogischste Handlung. Nein, er musste auf etwas anderes hinauswollen.
»Deswegen«, fuhr er fort, »war ich froh, als mir klarwurde, dass es an uns ist, dem Vorkommnis eine andere Wendung zu geben. Graf Otto hat ganz offensichtlich Gefallen an dir gefunden. Er mag eine grobe Art und Weise gehabt haben, um das zu zeigen, doch man muss bedenken, dass er noch jung ist. Nichte, wenige Frauen unseres Volkes werden so verehrt wie Esther.«
Diesmal verstand sie sofort, was er meinte, und fragte sich unwillkürlich, ob er ihre Hand festhielt, damit sie ihn nicht schlagen konnte.
»Und zweifellos siehst du dich bereits als Mordechai, der Esther dem König Xerxes zuführt und als sein erster Minister endet. Nun, Onkel, es gibt Frauen, die von unserem Volk mehr verehrt werden als Esther. Ich bin nach einer von ihnen benannt.« Sie war noch nie so stolz auf diesen Umstand gewesen wie jetzt. Auch Stefan verstand sofort, was sie meinte: Die Judith der Schriften hatte den heidnischen Feldherrn Holofernes geköpft – danach, als er erschöpft eingeschlafen war.
Abrupt ließ er ihre Hand los. »Über so etwas solltest du noch nicht einmal scherzen«, sagte er kühl.
»Das Gleiche gilt für dich, Onkel. Mag sein, dass ich jung bin und Fehler bei meinen Entscheidungen begangen habe. Aber eines weiß ich genau, und das ist, dass man nicht die Schrift bemühen muss, um eine Hure eine Hure zu nennen. Genau das willst du gerade aus mir machen! Ich soll es für deinen Handel tun, nicht für unser Volk, wie Esther, denn für das jüdische Volk hast du in diesem Zusammenhang keinesfalls gesprochen.«
Sie hatte sich Mühe gegeben, ruhig zu bleiben, hatte sich angestrengt wie selten in ihrem Leben. Doch sie zitterte vor Wut, und am Ende hatte ihre Selbstbeherrschung nachgegeben. Ihre Stimme wurde lauter und lauter; den letzten Satz schrie sie. Ihr Vetter und seine Mutter, die in einer anderen Ecke der Stube saßen, starrten sie betreten an. Judith fragte sich, ob sie sich entschuldigen sollte, zumindest bei Stefans Frau, und wusste, dass sie nichts dergleichen tun würde.
»Die Dame Richildis hat mich gebeten, sie heute noch einmal zu besuchen«, log sie, raffte ihren Mantel und ihre Arzneitasche und verließ das Haus, so schnell sie konnte.
* * *
Wenn man von Hagenau aus den Weg bis Ulm nahm, konnte man von dort aus auf der Donau nach Wien kommen, ohne die Alpen riskieren zu müssen; der Fluss war selbst im Januar nicht zugefroren. Walther überredete einen der Kahnschiffer, ihn gegen ein gutes Entgelt zu befördern. Bedauerlicherweise war es für den Kahnschiffer mit Münzen allein nicht getan; für das Zugeständnis, einen Monat früher als beabsichtigt zu fahren, wollte er Walthers Pelz haben.
»Soll ich erfrieren?«, protestierte Walther. Auf dem Fluss fühlte sich die Temperatur immer noch etwas kälter an als an Land.
»Du kannst ja dein Glück mit einem anderen Schiff versuchen, Herrchen, aber kaum eines ist im Januar wegen der treibenden Eisschollen aus den Nebenflüssen unterwegs.«
Walther schimpfte in Gedanken wie ein Rohrspatz auf den Herzog, der so auf die Zeit gedrängt hatte. Am Ende verblieben sie dabei, dass Walther seinen Pelz einen Teil der Reise noch tragen durfte und sich ansonsten mit Decken behalf. Der Schiffer transportierte in erster Linie Leinen und meinte augenzwinkernd, auch das könne dabei helfen, warm zu bleiben; sein Patron rechne dann aber bestimmt damit, dass er den Ballen in Wien bezahle.
Es war kein schlechtes Leben für ein paar Tage auf dem reißenden Fluss. Walther hatte Zeit, um darüber nachzudenken, was er mit seinem Leben anfangen wollte. Es hätte ihn glücklich machen müssen, dass ihn jetzt die hohen Herren des Reiches empfingen, zu einem gewissen Grad ins Vertrauen zogen und sich von ihm manchmal, wie eine gelungene Wendung in einem Lied, an die richtige Stelle schieben ließen. Aber die verbrannten Dörfer zwischen Hagenau und Köln und die, deren Reste er inzwischen auf seinen Reisen immer wieder aus der Ferne hatte rauchen sehen, hatten ihn daran erinnert, dass die anstehende Königswahl kein Schachspiel war, bei dem nur Figuren aus Holz in Gefahr standen, vom Brett geworfen zu werden.
Sein Besuch in Köln hatte ihm gezeigt, dass er immer noch in der Lage war, Hirngespinsten nachzujagen. Er hatte deshalb auch das Haus von Stefan am nächsten Tag sofort wieder verlassen, ohne Weihnachten abzuwarten. Am Ende war es gut, dass Philipp ihn nach Wien geschickt hatte. Judith war verheiratet und schien glücklich. Was bedeutete es schon, dass er sich durch die Unterhaltung mit ihr lebendiger gefühlt hatte als durch sonst irgendetwas, außer vielleicht dem Verfassen eines außergewöhnlich guten Liedes? Er war kein armseliger Tropf wie in Reinmars Liedern, der damit zufrieden war, aus der Ferne zu schmachten, und eine Nähe zu Judith konnte es nicht geben, es sei denn, er zerstörte das neue Leben, das sie sich aufgebaut hatte. Und für was? Er wusste noch nicht einmal, ob sie mehr für ihn empfand als alten Groll und einen flüchtigen Augenblick der Nähe, der in ihren letzten Worten durchgeklungen war.
Dann wieder dachte er daran, wie sich ihr Körper in seinen Armen angefühlt hatte, damals in Nürnberg, und wie sie stets jeder seiner Bemerkungen einen Gegenpart bot. Doch, er war sich sicher, dass da mehr war, mehr sein musste, und dass sie das auch spürte.
Das beste Mittel, derartige Grübeleien loszuwerden, war, einander Zoten zu erzählen. Der Schiffer kannte einige, die Walther neu waren, wie die von den Studenten, die bei dem betrügerischen Müller die Nacht verbrachten und mit der Müllerin schliefen, während er selbst, von ihnen betrunken gemacht, mit einem ausgestopften Sack im Arm schnarchte. Walther lästerte über den Erzbischof von Köln und dessen Tafelfreuden, der Schiffer schwor, den gewaltigsten Furz aller Zeiten gehört zu haben, als der Bischof von Passau einmal an ihm vorbeiritt. Doch am zweiten Tag gingen ihnen diese Geschichten aus. Stattdessen gestand der Schiffer, sich Sorgen um seine Zukunft und die seiner Familie zu machen.
»Unser Markgraf hat mit dem Herzog von Bayern und dem Kaiser selbst gestritten und ist verbannt worden. Jetzt ist er wieder zurückgekehrt, wo der Kaiser tot ist, und das heißt gewiss, dass die Fehde mit dem Herzog von Bayern erneut beginnt. Kriegsknechte trinken gerne, also versuch einmal, einen Kahn voller Weinfässer durch ein Kriegsgebiet zu lenken und am Schluss noch etwas zu besitzen. Außerdem werden alle hohen Herren nun bestimmt die Abgaben und Zölle erhöhen, um ihre leeren Börsen wieder vollzumachen. Dabei reicht der Verdienst von uns kleinen Leuten kaum für das tägliche Brot. In meinem Dorf stirbt fast jeden Monat ein Kind an Hunger. Unser Dorf wäre bald leer, wenn Kinder nicht der einzige Reichtum für uns arme Leute wären, das kannst du mir glauben. Außerdem, wenn alles so ungeklärt bleibt, dann werden es sich meine Auftraggeber dreimal überlegen, ob sie ihre Waren nicht besser in ihrer Umgebung verkaufen und meine Dienste nicht mehr brauchen.«
»Nun, es wird gewiss bald wieder einen Kaiser geben.«
»Meinst du das Kind, Bruder? Das in Apulien?«
»Sizilien, und nein, eigentlich …«
»Weh dir, o Land, dessen König ein Kind ist«, zitierte der Schiffer wie die Schankgäste von Köln. Anders als sie wollte er jedoch keinen Sachsen auf dem Thron sehen und auch keinen Zähringer. Er hatte nichts gegen Herzog Philipp, doch auch nichts für ihn, und fand, es sei Zeit, um endlich die Welfen ans Ruder des Reichsbootes zu lassen, wie er sich ausdrückte.
»Ich dachte, Ihr mögt keine Norddeutschen? Der älteste Sohn Heinrichs des Löwen ist Pfalzgraf von Braunschweig«, sagte Walther, weil er neugierig war, ob überhaupt bekannt war, dass Heinrich der Löwe mehr als einen Sohn gehabt hatte. Sein Schiffer winkte geringschätzig mit der Hand.
»Das tut nichts zur Sache. Heinrich der Löwe war auch Herzog von Bayern. Er hat einiges in die Wege geleitet bei uns, Städte wie München und Landsberg gegründet, das war immer gut für den Handel. Da müssen die Söhne etwas von den vernünftigen Eigenschaften geerbt haben!«
»Wie viele Söhne hatte er denn?«, fragte Walther beiläufig.
Der Schiffer krauste die Stirn. »Zwei oder drei? Ganz ehrlich, genau weiß ich das nicht. Einer war mit König Richard auf Kreuzzug … oder ist jetzt auf Kreuzzug? Auf jeden Fall hat ein Mann wie der alte Löwe bestimmt heldenhafte Söhne.«
Allmählich fragte sich Walther, ob der gute Ruf von Heinrich dem Löwen daher rührte, dass er die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens fern des Reiches verbracht hatte und daher auch nicht in der Lage gewesen war, irgendjemanden hier zu enttäuschen. Ähnliches galt für den Rest der Welfen. Er konnte es selbst in den Fingerspitzen zucken spüren, denn die Geschichte vom verbannten Beinahe-König und dem Welfen-Prinzen, der zurückkehrt, um endlich das Erbe seines Vaters anzutreten und das Reich zu erlösen, die hatte mehr, als es die Geschichte vom Bruder eines toten Kaisers haben konnte, der – ganz gleich, wie man es drehen oder wenden mochte – gerade dabei war, seinem vaterlosen Neffen das Erbe wegzunehmen. So jemand eignete sich in Heldenliedern bestenfalls zum Schurken, während verbannte Prinzen geradezu gemacht waren für die Heldenrollen.
Er hatte seine Pergamentbögen bei sich, die ihm Philipp überlassen hatte; sie waren immer noch unbeschrieben. Es war etwas gleichzeitig Erregendes und Besänftigendes, neues Pergament zu fühlen, nicht bereits tausendfach beschriebenes und wieder abgeschabtes, sondern frisch gegerbte, mit Bimsstein geglättete und mit Kreide geweißte Lämmerhaut. Manchmal glitt Walther mit seinen Händen darüber und malte sich aus, darauf zu schreiben, doch bisher hatte er es nicht über sich gebracht. Die Lieder, die auf diesem Pergament entstanden, sollten seine besten sein.
Es kam ihm in den Sinn, dass Herzog Friedrich tatsächlich sterben konnte. Trotz Philipps düsterer Formulierung war Walther die Möglichkeit sehr unwahrscheinlich erschienen. Der Herzog war in seinem Alter und hatte immer nur so vor Gesundheit gestrotzt. Wenn aber selbst so ein Mann wie der Herzog sterben konnte, dann konnte auch Walther sterben, nicht durch wütende Zuhörer, Räuber oder unberechenbare Ritter, sondern an einer Krankheit, jederzeit, überall.
Friedrich war nicht vollkommen, aber aus der Ferne betrachtet, erschien er Walther als der beste der großen Herren, die er bisher kennengelernt hatte. So mancher wäre angesichts dessen, was Friedrich beim Tod des alten Herzogs hatte herausfinden müssen, verbittert und hätte seine neu gewonnene Macht genützt, um dieses Gefühl am Rest der Welt auszulassen. Friedrich aber hatte sogar den Wunsch des alten Herzogs erfüllt und seinem Bruder klaglos die Steiermark überlassen. Überdies hatte er auch guten Geschmack bewiesen und Walthers Lieder von Anfang an geschätzt, noch ehe sie ihm nützen konnten, und überhaupt sehr viel mehr Vertrauen gezeigt in seines Sängers Fähigkeiten als andere Herzöge.
Wenn Friedrich seine Krankheit überlebt und nach Wien heimkehrt, dachte Walther, dann kann es sich vielleicht lohnen, ebenfalls dortzubleiben. Eine Weile jedenfalls. Wien ist weit entfernt von Köln, ganz anders als Hagenau.
* * *
Es war nicht schwer, Richildis und den Salzhändler zu überzeugen, dass sie zum Besten ihres Kindes eine Ärztin im Haus brauchten, vor allem in den letzten Schwangerschaftswochen. Schwerer war es, eine Möglichkeit zu finden, mit Gilles zu sprechen, vor allem, als sich herausstellte, dass die beiden Geiseln des Herzogs von Zähringen nach Andernach gesandt worden waren, nicht nach Köln. Eines der von Pferden gegen die Strömung gezogenen Boote, mit denen auch im Winter Waren den Rhein hochtransportiert wurden, hätte Judith wohl nach Andernach gebracht, aber danach hätte sie bestimmt nicht mehr mit Richildis rechnen können.
Von ihrem Plan, sich dem Onkel ganz zu entziehen, hatte sie sich vorerst verabschieden müssen. Judith lebte noch nicht ganz ein Jahr wieder in Köln. Sie hatte einige Patienten gefunden, aber noch nicht so viele, wie es zum Schluss in Salerno der Fall gewesen war. Dass sie eine Zeitlang Leibärztin der Byzantinerin gewesen war, gereichte ihr sogar zum Nachteil, so groß war die Ablehnung in breiten Kreisen der Bürgerschaft. Sich selbst hätte sie zur Not ernähren können, aber nicht auch noch Gilles. Ihr Onkel hatte nie etwas für Kost und Logis verlangt, und er war der Herr ihres Mannes. Nachzurechnen, wie viel Geld sie aufbringen müsste, wenn Gilles nicht mehr für Stefan arbeitete, verursachte Judith Magenschmerzen, nicht zuletzt, weil ohne Stefans Hilfe alles Geld, das sie besaß, einschließlich Irenes Ring, nicht für den Rückkauf des Hauses genügen würde.
Es galt also, vorerst bei Richildis auszuharren und zu versuchen, genau das zu vermeiden, was Stefan ihr vorgeworfen hatte: sich kopfüber und ohne nachzudenken in eine unklare neue Lage zu stürzen. Zunächst musste sie herausfinden, ob Gilles wirklich auf ihrer Seite stand oder auf der Stefans. Davon hing es ab, ob es sich lohnte, den Erzbischof um eine Audienz zu ersuchen und klarzumachen, dass sie keine Auflösung ihrer Ehe wünsche. Dann galt es, eine zweite Einkommensquelle zu finden. Richildis’ Gemahl war ihr gegenüber immer noch ein wenig misstrauisch, was es erschwerte, sich auf unverfängliche Weise zu erkundigen, ob er einen weiteren Mann in seinen Diensten gebrauchen könnte. Die Freunde Stefans kamen in dieser Situation bestimmt nicht in Frage, und der Erzbischof erhielt sein Geld von Gerhard Unmaze, Stefan, Lambert und Constantin.
Sie massierte Richildis den Rücken, braute ihr beruhigende Tränke und dachte daran, was Walther erzählt hatte. Was, wenn sie Köln verließe und Irene bäte, sie als Leibärztin wieder aufzunehmen, und Gilles als Wächter? Es würde bedeuten, ihren Stolz hinunterzuschlucken und genau dem Problem gegenüberzustehen, das sie dazu gebracht hatte, in Nürnberg mit Stefan zu gehen; ihre ärztliche Kunst auf das Wohlergehen einer einzigen Frau zu beschränken.
Mosche ben Maimon hatte sich nicht nur um Saladin und dessen Familie gekümmert; es war ihm möglich gewesen, eine Menge anderer Patienten in Kairo zu behandeln, sonst hätte er seine Fallstudien nicht schreiben können. Er musste Saladin nur zur Verfügung stehen, wenn der Sultan nach ihm verlangte. Doch Rabbi Mosche war einer der berühmtesten Männer der Welt, und da konnte man gewiss ganz andere Bedingungen stellen, als es bei einer einfachen Judith – Jutta – aus Köln der Fall war.
Dann gab es noch die Möglichkeit, als fahrende Ärztin durch die Lande zu ziehen. Kranke Menschen gab es schließlich überall und in jedem Vermögensstand. Es war sehr viel gefährlicher, als zum Haushalt einer Fürstin zu gehören, und sehr viel ungewisser, doch es würde sie auch in die Lage versetzen, niemals nur von einem Menschen abhängig zu sein. Wenn Gilles mit ihr kam, um sie als ihr Ehemann vor etwaigen Straßenräubern zu beschützen, und sie nirgendwo ein Haus erwerben mussten, dann konnten sie bestimmt zu zweit von ihrer Arbeit leben. Es sei denn, Gilles erklärte, Stefan sei sein Brotgeber, und er wolle in seinen Diensten bleiben.
Ihr junger Vetter, Stefans Sohn Paul, besuchte sie. Er würde bald fünfzehn Jahre alt werden, was ihn mündig machte, doch in mancher Hinsicht erschien er ihr immer noch wie ein Kind. Sein Vater hatte ihn gebeten, ihr auszurichten, sie könne jederzeit nach Hause kommen, wenn sie Vernunft annähme. »Aber er hat nicht gesagt, was du so Unvernünftiges tust«, fügte Paul offen hinzu. »Vor allem im Haus des Salzhändlers. Ganz ehrlich, Base, ich war enttäuscht, als ich hörte, dass du hier bist. Ich habe gedacht, du bist vielleicht mit dem Minnesänger fortgelaufen, um Drachen zu finden. Nun – keine Drachen. Die gibt es nicht, das weiß ich jetzt. Aber das Horn vom Einhorn ist doch ein Arzneimittel, nicht wahr? Also dachte ich …« Er stockte. »Ein Abenteuer. Ich dachte, du erlebst ein Abenteuer.«
Es war ausgesprochen hinterhältig von Stefan, seinen großäugigen Sohn zu schicken, dem sie weder die Wahrheit sagen noch einfach abweisen konnte. Doch auch sie konnte denken. Pauls Erwähnung von Walther war eine Hilfe. Wenn Walther, dachte Judith, von seinen Liedern leben kann, wenn er immer wieder Gönner findet, an deren Höfen er lebt, dann muss mir das mit meinem Heilwissen doch auch gelingen.
»Paul«, sagte sie, »warst du schon einmal in Andernach?«
»Einmal«, sagte er stolz, »als der Vater mich mitgenommen hat. Seine Gnaden der Erzbischof residiert manchmal dort.«
»Würdest du dir zutrauen, nach Andernach zu gehen und Gilles eine geheime Botschaft von mir zu geben? Er bewacht dort zwei Geiseln für den Erzbischof. Wenn du es dir nicht zutraust, dann verstehe ich das. Es könnte gefährlich werden, und wenn du nach Köln zurückkehrst, wird dein Vater mit Sicherheit wütend auf dich sein.«
Paul strahlte und schwor, gerne ihre Botschaft zu überbringen. Es war Judith bewusst, dass sie gerade genau das tat, was sie ihrem Onkel vorgeworfen hatte: Sie benutzte jemanden zu ihrem eigenen Vorteil. Doch im Gegensatz zu dem, was sie gerade gesagt hatte, bestand für Paul keine Gefahr. Als Sohn Stefans würde er ohne weiteres bis zu Gilles und den Geiseln vorgelassen werden, die ja keine Gefangenen im schlechten Sinn des Wortes waren und wie Gäste untergebracht sein würden. Nach seiner Rückkehr hatte er mit nicht mehr als mit väterlichem Grimm zu rechnen, wie jeder Junge in seinem Alter, der zwei Tage ohne Erlaubnis anderswo verbracht hatte.
Zuerst wollte sie ihr Wachstäfelchen opfern und Gilles schreiben, doch dann wurde ihr bewusst, dass sie gar nicht wusste, ob er lesen konnte. Es versetzte ihr einen Stich, weil es Stefans Vorwurf über ihre Unüberlegtheit und ihren Mangel an Wissen über die Menschen, denen sie sich anvertraute, bestätigte, ein wenig zumindest. Aber daran ließ sich jetzt nichts ändern. Also wählte sie sich ein paar Sätze aus, die Paul behalten konnte und die für die meisten Leute nichts weiter bedeutet hätten als das, was auf der Oberfläche lag.
»Wieso sind Stellen aus der Bibel eine wichtige geheime Botschaft?«, fragte Paul verwundert.
»Wenn du das wüsstest, wäre sie nicht mehr geheim. Aber ich verspreche dir, wenn alles vorbei ist, dann wirst du erfahren, worum es ging.«