Kapitel 26
Die Lochzellen befanden sich unter dem Rathaus. Da in der Regel niemand länger als ein paar Wochen in ihnen gefangen gehalten wurde, ehe ein Urteil erging, gab es nur zwei Wächter. Judith hatte überlegt, den beiden einen Krug Bier mit einem Schlaftrunk zu bringen, doch sie kannten ihr Gesicht von all den vergeblichen Versuchen, mit Gilles zu sprechen. Als Walther nun fragte, erzählte sie ihm davon und berichtete von den Mitteln, jemanden kürzer oder länger außer Gefecht zu setzen.
»Ich hoffe, dass ich niemals wirklich krank werde. Als Ärztin seid Ihr furchteinflößend.«
»Danke«, sagte sie und klang durchaus geschmeichelt.
Walther dachte kurz nach, meinte dann aber, er habe eine bessere Idee. Markwart sollte beginnen, Judiths Habseligkeiten in Satteltaschen zu verstauen und zwei weitere Pferde zu besorgen, die bereitstehen mussten, wenn sie Erfolg hatten. »Ihr habt doch bestimmt Siegellack, um Eure Arzneifläschchen zu versiegeln?« Judith bejahte. »Und eine Münze mit dem Wappen der Welfen doch bestimmt auch?«
»Auch das, aber wollt Ihr mir nicht erzählen, was Ihr plant?«
Es war ihm anzusehen, dass er Vergnügen daran hatte, ihr seine Überlegenheit zu beweisen, und er hätte sie bestimmt noch eine Weile im Unklaren gelassen, wenn ihm nicht eine Schwachstelle in seinen Überlegungen bewusst geworden wäre. »Verdammte Schei– … entschuldigt bitte. Ohne Kettenhemd und Oberkleid mit dem Welfenwappen wird es schwierig.«
»Dann sagt mir endlich, was genau Ihr beabsichtigt, vielleicht kann ich helfen.« Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, begleitete Judith sie mit einem bewundernden Blick, der ihr nicht schwerfiel: Hilfe zu haben, war etwas Köstliches.
»Ich habe Pergament, Ihr Siegellack und Münze. Ich schreibe den Befehl des Markgrafen, dem Übermittler den Gefangenen auszuhändigen, sowie einen weiteren für die Stadtwache, vier Leuten zu jeder Zeit freien Durchlass zu geben.«
»Ihr schreibt … was?«
»Ihr habt mich durchaus recht verstanden.« Walther grinste zufrieden. »Kaum ein Kriegsknecht kann lesen und schreiben. Was ihnen glaubhaft und mit Autorität unter die Nase gehalten wird, werden sie nicht anzweifeln. Wer kennt schon den Siegelring des Markgrafen? Sein Wappen kennen aber alle in Braunschweig und werden das, was auf kostbarem Pergament damit gesiegelt ist, nie und nimmer anzweifeln. Nur unsere Kleidung, die passt nicht. Nicht bei Markwart, nicht bei mir.«
»Wir haben Gilles’ Ausrüstung«, sagte Judith schnell. »Er war bei der Stadtwache. Alles liegt noch hier. Gilles ist kaum kleiner als Euer Begleiter, und für Euch«, ihr Lächeln verschwand, »für Euch … habe ich auch eine Lösung. Ich brauche zwei Stunden.«
Judith ging einen Weg, den sie bisher immer vermieden hatte. Nicht, weil es ihr nach mehreren Monaten ihrer Bekanntschaft mit Maria immer noch unmöglich erschien, ihn zu gehen; sie war ihr eine gute Freundin geworden, doch die beiden Frauen waren übereingekommen, dass dies nicht bekannt werden musste. Maria hatte Verständnis gezeigt, dass Judith ihre Position bei der frommen Pfalzgräfin nicht gefährden wollte, und war daher nur nach Einbruch der Dunkelheit zu ihr gekommen, um zu plaudern und mit ihr Neuigkeiten auszutauschen.
Maria führte das Hurenhaus tatsächlich alleine. Ihr Mann, der es vorher als Bader geleitet hatte, war verstorben, aber sie hatte keine Schwierigkeiten damit, eine Autorität für Frauen und Männer zu sein, und von der Stadt die Erlaubnis erhalten.
Im Verlauf der Monate hatte es sich ergeben, dass Maria auch nach Mitteln fragte, die den Frauen bei ihrer Tätigkeit im Hurenhaus helfen konnten. Es stellte sich rasch heraus, dass sie selbst einige Stärkungsmittel kannte, die Judith unbekannt waren, obwohl just dies ein Thema war, über das sich männliche Ärzte aller Zeiten immer gerne schriftlich ausgelassen hatten. »Zufriedene Kunden sind häufige Kunden«, sagte Maria. So erfuhr Judith, dass nicht nur Spargel, sondern auch Sellerie, Karotten und Petersilie den Mann stärkten und dass Basilikum, Thymian, Spinat und Nüsse bei Mann und Frau die Lust auf die Lust gleichermaßen erhöhen sollten. Was alle Frauen um Maria aber am meisten interessierte, waren Mittel für die Verhütung. Darüber hatte Judith in Salerno zwar einiges erfahren – wie das Tragen der Gebärmutter einer Ziege auf dem Bauch –, doch das wenige, was ihr einigermaßen verlässlich erschien wie Zitronenschalenhüte für den Muttermund, war für eine einfache Frau nicht zu erhalten. Dafür konnte sie mit Mitteln gegen Schwellungen und Jucken in der Vagina aufwarten, wofür Eibisch und Polei-Minze in die Bäder gestreut werden sollten, genau wie mit Mitteln gegen Ausschläge. Außerdem bereitete sie für Maria Mixturen, mit denen randalierende Männer ruhiger gestimmt werden konnten oder diese ganz zum Schlafen brachten. Auch Mittel gegen Läuse und verträglichere Salben für das Gesicht sowie bessere Gleitmittel für den sicheren Eingang, welche sie selbst auch gelegentlich bei Untersuchungen brauchte, waren begehrt.
So erfuhr Judith mehr und mehr aus diesem Haus, ohne es je betreten zu haben. Zunächst stieg ihr noch die Röte in die Wangen, wenn Maria so ganz nebenbei erzählte, wie ein Mann drei Frauen haben wollte, bezahlt hatte und nach dem ersten Anlauf schon eingeschlafen war. Auch von merkwürdigen Sonderwünschen hörte Judith, wenn ihr auch ein Mann wie der, welcher nur durch die Füße der ihm gegenübersitzenden Frau befriedigt werden wollte, ein Rätsel blieb. Eines Tages entdeckte sie dann, dass sie über solche Dinge lachen konnte, so natürlich erzählte Maria davon, eingeflochten in ihre Gespräche über Kochrezepte, wo es Bier, Rüben und Roggen am billigsten gab oder warum Braunschweig wieder die größte Stadt Sachsens werden sollte.
Als sie nun vor dem Hurenhaus stand, war es trotzdem eine große Überwindung, einzutreten – bis sich zwei Männer, welche den gleichen Weg hatten, einfach bei ihr unterhakten und fragten, ob sie heute noch frei sei. Judiths natürliche Reaktion wäre eine Ohrfeige gewesen, aber das hätte zu Aufsehen geführt, was sie vermeiden wollte. Sie bremste sich gerade noch rechtzeitig und sagte mit ihrem freundlichsten Lächeln: »Nicht so schnell, Freunde, ich muss erst mit Maria sprechen. Wisst Ihr, wo ich sie finde?«
»Du hast noch viel zu viel an, mein Schatz, aber wir werden dir helfen, du kannst dich auf uns verlassen«, meinte einer. Das war nicht das, was sie erhofft hatte, aber was blieb ihr übrig; sie betrat zwischen ihnen das Haus. Aus dem Raum, dessen Tür ihre Begleiter gutgelaunt aufrissen, kam Musik. Als sie hineinblickte, sah sie zwei Spielleute mit Fiedel und Laute, eine Tischplatte voll mit Speisen und Getränken, mehrere freie und einige von Frauen und Männern benutzte Zuber für zwei, aber auch solche für mehr Benutzer. Die Anwesenden trugen ein loses Tuch um ihre Körper oder waren ganz nackt, bis auf Hauben bei den Frauen und häufig Hüten bei den Männern. Vollständig bekleidet war niemand, noch nicht einmal die Mägde, welche warmes Wasser nachschütteten oder Gäste auf Ruheliegen massierten. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung; alle lachten, sangen und schienen bester Laune. Nur, wenn man genauer hinblickte, sah man, dass einige der Frauen wohl starke Pflanzenmittel benutzten, um die Zeichen der Erschöpfung aus ihren Gesichtern fernzuhalten. Sie hatten die unterschiedlichsten Figuren, manche sehr üppig, andere fast knabenhaft. Einige wären sogar als Modell für die Statuen der heidnischen Götter geeignet gewesen, die Judith in Italien gesehen hatte, so ebenmäßig wirkten sie. Erst als sie bemerkte, wie eine Frau sich völlig ungezwungen das Glied eines Mannes nahm, wusste Judith nicht mehr, wohin sie schauen sollte. Als einer ihrer Begleiter »Maria!« brüllte, tat sich eine weitere Tür auf, und ihre Freundin betrat endlich den Raum. Judith war geneigt, eine Kerze zu stiften, obwohl das eine rein christliche Zeremonie war.
Maria musste ihr ansehen, dass etwas nicht stimmte; vielleicht wusste sie auch einfach nur, dass es schwerwiegende Gründe gab, wenn Judith ihr Haus besuchte. »Meine Freundin und ich müssen etwas besprechen«, sagte sie und griff nach Judiths Hand; da die beiden Männer nicht von ihr lassen wollten, fügte sie hinzu: »Fragt oben nach Brunhilde, die ist gerade frei.« Brunhilde musste etwas Besonderes zu bieten haben, denn die Männer gaben Judith ohne Maulen und mit erkennbarer Vorfreude frei und zogen ab, während Maria die Tür des Nebenraums hinter ihnen schloss.
»Ich brauche ein Kettenhemd«, begann Judith ohne Vorrede, »Wehrgehänge, Helm und Oberteil mit dem Wappen der Welfen, für einen Mann, schlank und gut einen halben Kopf größer als ich, und Männerkleider für mich. Kannst du mir das alles rasch besorgen?« Sie fügte nichts hinzu. Maria musste von Gilles gehört haben, das war Stadtgespräch.
Maria schaute sie einen Moment lang schweigend an, dann sagte sie: »Warte hier, ich brauche nur einen kurzen Moment. Ich kann dich dann auch gleich zur Hintertür rauslassen, du musst nicht mehr an allen Besuchern vorbei.« Judith wollte sie umarmen, aber Maria war schon aus dem Raum verschwunden.
Was folgte, erschien Judith wie eine Ewigkeit. Sie wollte nie mehr eine solche hilflose Wartezeit erleben. Sie konnte sich auch nicht setzen; von einer Wand zur anderen zu laufen, hin und her, nur das ging. So hatte sie einen Braunbären im Bärenzwinger von Köln gesehen und Mitleid mit ihm gehabt. Jetzt war sie der Bär.
Als Maria mit einem Sack wieder den Raum betrat, war Judith sicher, alle Sünden abgebüßt zu haben, die sie getan und nicht getan hatte. Sie war klatschnass, so hatte sie geschwitzt.
»Ich hoffe, du kannst das alles tragen, es ist nicht leicht«, sagte Maria. »Einige Besucher haben dein kräftigstes Schlafmittel ins Bier bekommen und dazu etwas Branntwein. So hast du eine Nacht Vorsprung, wenn meine Gäste denn je den Mut haben zuzugeben, wo sie ihre Kleider verloren haben.« Sie kniff ihr in die Wange. »Ich hoffe, wir werden uns irgendwann wiedersehen. Es war schön mit dir hier in Braunschweig. Und Judith, nie vergessen: Wer gibt, der kriegt, das gilt immer noch!«
Judith umarmte sie und hielt ihre Freundin fest umschlungen. Schließlich stammelte sie ihr ins Ohr: »Ich werde dich auch vermissen. Leb wohl.«
Der Sack war wahrlich schwer. An jedem anderen Tag hätte Judith einen Mietknecht geschickt, die Last zu holen. Heute war aber kein normaler Tag, und trotz des großen Gewichts ging sie leichten Fußes, beschwingt, als wäre die Befreiung bereits gelungen. Sie war voll neuer Hoffnung.
* * *
Natürlich hatte Markwart geunkt, dass er nicht im Kerker landen wolle und was Walther für Menschen kannte; trotzdem hatte er nicht mit einer Silbe angedeutet, dass er ihn im Stich lassen würde, und Walther hatte ihn umarmt, was er seit langer Zeit nicht getan hatte. Sein Freund machte sich dann auf den Weg, um Pferde zu kaufen.
Zwei Pergamente mit Anweisungen zu schreiben dauerte nicht lange und war nichts im Vergleich dazu, auf Judith warten zu müssen. Während das Siegel mit dem Abdruck der Münze erkaltete, nahm Walthers Nervosität von Moment zu Moment zu. Endlich tauchte Markwart mit zwei gesattelten Pferden auf. Walther war dankbar, ihn über den fürchterlichen Preis schimpfen zu hören, den er hatte zahlen müssen, denn das lenkte ihn ab.
Als Judith schließlich schwer bepackt erschien, wusste er nicht, ob er sie erleichtert an sich reißen oder fragen sollte, woher sie das weitere Kettenhemd und die andere Männerkleidung hatte. Er entschied sich gegen beides und schlüpfte mit Markwart in die Sachen. Nachdem sie die Helme aufgesetzt hatten, waren sie nicht mehr zu unterscheiden von den vielen anderen welfischen Kriegsknechten in der Stadt. »Du redest kein Wort«, schärfte er Markwart ein, aber das hätte er nicht zu sagen brauchen. Sooft Walther auch schon mit Frauen das Bett geteilt hatte, war er doch noch nie Zeuge geworden, wie sie sich zurechtmachten, und es berührte ihn eigenartig, Judith dabei zu beobachten, was nicht nur daran lag, dass sie ihrem Gesicht mit Kohle, Rinde und einem Gemisch aus weißer und roter Zaunrübe männliche Züge gab. Sie tat es mit einer Freude und Leichtigkeit, als hätte ihr der Plan, Gilles zu retten, Jahre von der Schulter genommen. Ob sie so als Mädchen gewesen war, ehe er sie kennengelernt hatte?
Die Sonne war bereits untergegangen, als Judith sie durch die dunklen Gassen direkt zum Rathaus führte. Offensichtlich waren alle Bediensteten bereits nach Hause gegangen; Walther und Markwart begegneten niemandem im Gebäude und standen bald vor der Tür, die Judith ihnen beschrieben hatte und hinter der die Lochgefängnisse lagen.
Walther klopfte und meinte, sein Herz gegen das Gewirr aus Stahlringen, das er erstmals trug, schlagen zu hören. Als aber die Tür geöffnet wurde, war alles ruhig in seiner Stimme, der er einen leichten Akzent gab: »Eine Order der Pfalzgräfin, für Euch. Eilig!« Mit einer schwungvollen Bewegung knallte er dem Wachmann sein erstes versiegeltes Pergament vor die Brust und schaute so fordernd, wie er nur konnte. Der Mann blickte von ihm zu dem Pergament und wusste offenbar nicht, was von ihm erwartet wurde. »Nun macht die Order schon auf. Es ist ein Befehl für Euch, uns den gefangenen Aquitanier zu übergeben.«
Sein Gegenüber blickte auf das Siegel, dann brach er es vorsichtig auf, um ja nichts zu beschädigen. Sein Blick in das Dokument verriet nicht, ob er es lesen konnte. Jedenfalls starrte er so lange auf die geschriebenen Wörter, als müsse er das ganze Nibelungenlied darin entziffern, so erschien es zumindest Walther. So konnte es nicht weitergehen.
»Geht schon!«, herrschte er den Mann an. Als seine Worte immer noch keine Reaktion hervorriefen, packte er ihn bei den Schultern, drehte ihn einfach um und schob ihn in den Gang. Einmal in Bewegung geraten, lief er dann auch. Vor der nächsten Tür drehte er sich aber um, schaute zu ihnen beiden und fragte: »Und Ihr seid …«
»Ein Dienstmann der Pfalzgräfin.«
»Was will die denn mit einem überführten Liebhaber von Männern?« Misstrauen flackerte in seinem Blick auf.
»Ganz unter uns? Aber es muss ein Geheimnis bleiben!« Der Wächter nickte. »Er ist ein sehr alter Freund ihrer Familie. Ihrer Schwäger, wenn Ihr versteht, was ich meine.« Walther räusperte sich. »Oder ist Euch etwa nicht aufgefallen, dass er aus Aquitanien stammt, wo der Pfalzgraf mit seinen Brüdern auch … nun, ihre Jugend verbracht haben?«
»Ihr meint … bei allen Heiligen! Der Otto, gar unser Pfalzgraf?«
»Die Pfalzgräfin«, bemerkte Walther gewichtig, »macht sich große Sorgen, dass der Mann vor seiner Bestrafung und aller Ohren Dinge sagt, die am Hofe Richards geschahen und … nun, jedenfalls wünscht sie, ihn zu sehen.«
Der Wächter hatte die Augen aufgerissen. »So was aber auch!« Er rieb Walthers kostbares Pergament zwischen den Fingern und starrte wieder auf das Siegel. »Sagt der Pfalzgräfin, sie kann sich jederzeit auf mich verlassen. Kommt mit!«
Ganz egal, ob der Mann lesen konnte oder nur das Siegel erkannte: Wie einfach war es doch, Menschen mit etwas beschriebenem Pergament zu beeindrucken, wenn ihr Wissen und ihre Phantasie nicht ausreichten, um Behauptungen zu hinterfragen. Walther ließ sich das Schriftstück wieder aushändigen; er hatte noch Verwendung für das Pergament. Danach folgten Walther und Markwart ihm durch die unteren Gänge des Rathauses zum Lochgefängnis. Der zweite Wachmann saß davor und schnarchte.
»He, steh auf, wir müssen den Gefangenen übergeben.« Sein Kollege blickte nicht gescheiter daher, als er selbst es getan hatte, war aber offenbar gewohnt, zu gehorchen. Er stieß den Riegel zurück, der den runden Verschlag über dem Gefängnis zuhielt, und rief hinein: »Männerficker!«
Schweigen. Es kam Walther in den Sinn, dass Gilles glauben konnte, sein Ende sei gekommen, daher fügte er hastig hinzu: »Die Pfalzgräfin will Euch sehen, und Eure Gemahlin, und Ihr sollt singen wie ein Minnesänger.«
Seine Hoffnung ging auf: Gilles schien durch den Hinweis auf den Minnegesang seine Stimme erkannt zu haben. Es rührte sich etwas. Walther kniff die Augen zusammen und konnte einen verdreckten Mann ausmachen, der sich schwerfällig vom Boden erhob und in die Höhe reckte, um sich von den zwei Wächtern an seinen ausgestreckten Armen nach oben ziehen zu lassen. Als Gilles endlich seinem Loch entkommen war, musterte ihn Walther mit einiger Bestürzung. Der Mann war mit Hautrissen, dunklen Flecken und Beulen übersät und musste mehr als einmal zusammengeschlagen worden sein. Seiner Rolle getreu fuhr er ihn jedoch an, er solle sich nicht so anstellen und ihm folgen. Schweigend machten sie sich auf den Weg. Walther meinte die ganze Zeit, die Blicke der Wachleute im Rücken zu spüren. Gilles bewegte sich mit derart schweren, offenkundig schmerzerfüllten Bewegungen, dass er außerdem fürchtete, ihn nicht bis zu der wartenden Judith durchzubringen.
Als sie endlich die Rathaustür hinter sich gelassen hatten, ohne einer weiteren Wache begegnet zu sein, raunte er ihm zu: »Lasst uns verschwinden. Judith wartet.« Markwart und er packten ihn wie einen betrunkenen Freund unter seinen Armen; so würden sie schneller vorankommen.
Inzwischen war es tiefe Nacht, doch dank des Halbmonds konnten sie noch einigermaßen sehen. Walther entdeckte Judiths Gestalt, als sie ihnen über den Marktplatz entgegeneilte. Gilles machte sich los und umarmte sie trotz seiner Wunden mit einer Heftigkeit, die Walther an die Eifersucht erinnerte, die ihn in Köln beim ersten Anblick des Paares geplagt hatte.
»Ich dachte, ich sei tot«, flüsterte Gilles in Judiths Haar. »Robert?«
»Er hat ein christliches Begräbnis erhalten«, sagte sie beruhigend und streichelte seinen Rücken. Als er zusammenzuckte, fügte sie mit belegter Stimme hinzu: »Gilles, du gehörst ins … du solltest …«
»Wir müssen von hier verschwinden«, ergänzte Walther scharf, »Judith, Ihr solltet die Pferde festhalten!« Sie sah ihn erschrocken an und wusste offensichtlich, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Glücklicherweise standen die Tiere immer noch dort, wo sie zurückgelassen worden waren. »Gilles, zieht schnell die frischen Sachen über, das wird helfen, aus der Stadt zu kommen. Wir müssen uns beeilen. Keine Macht auf der Welt schätzt es, wenn man ihnen Gefangene entführt, und ich glaube nicht, dass die Braunschweiger da Ausnahmen sind.«
Auch die Wachen am Stadttor ließen nicht erkennen, ob sie lesen konnten oder nicht, aber nach einer kurzen Diskussion – bei der Walther sein Talent dafür entdeckte, wütend die Stimme zu erheben, während er eigentlich das Gefühl hatte, die Luft anhalten zu müssen – hatten das gefälschte Siegel und das echte Pergament die richtige Wirkung. Die Wache, die zugab, nicht lesen zu können, das Siegel ihres Herrn auf teurem Pergament jedoch erkannte und Männer, die sich amtsgewaltig gaben, nicht durchließ, musste erst noch geboren werden.
Während Walther und die anderen langsam davonritten und den Moment herbeisehnten, wenn sie den Pferden die Sporen geben konnten, ohne verdächtig zu wirken, dachte er daran, dass er zufrieden sein konnte, die beiden Pergamente wieder sicher in seiner Tasche zu wissen. Bei der nächstbesten Gelegenheit würde er die beiden Blätter abschaben, dann waren sie wieder so gut wie neu. Manchmal, dachte Walther, war es eine gute Sache, die Vergangenheit loswerden und einen neuen Anfang machen zu können.
Ob die Braunschweiger sich überhaupt die Mühe machten, Gilles jemanden hinterherzuschicken, wusste keiner von ihnen. Sie hatten absichtlich das Westtor genommen und so getan, als ob sie in Richtung Rheinland wollten, und waren erst weit außerhalb der Sicht der Wachen nach Süden geschwenkt. Trotzdem erschien es angebracht, erst zwei Tagesritte von Braunschweig entfernt etwas länger zu verweilen. Gilles, das musste Walther zugeben, zeigte große Selbstbeherrschung und beschwerte sich nicht, obwohl er gewiss bei jedem Schritt des Pferdes litt. Auch sonst war er schweigsam, was kein Wunder war. Dass der sonst recht redselige Markwart ebenfalls ein Schweigegelübde abgelegt zu haben schien, kam überraschend. Als Walther ihn in der ersten Nacht zur Seite zog und fragte, ob etwas nicht stimmte, kratzte sich Markwart am Kopf und meinte, er wisse eben nicht, ob man Gilles trauen könne.
»Inwiefern trauen?«, fragte Walther verblüfft.
»Also, ich schlafe lieber mit meinem Hintern gegen eine Wand, wenn du verstehst, was ich meine«, entgegnete er bedeutungsvoll.
»Markwart, der Mann ist gerade dem Tod entronnen, man hat tagelang auf ihn wie auf einen Sack voll Korn eingeprügelt, und wenn ich es recht verstanden habe, dann hat er jemanden verloren, der … nun, der ihm etwas bedeutet hat. Unter solchen Umständen ist deine Tugend bestimmt nicht gefährdet.«
»Wenn jemand so abartig ist, hinter Männern statt Frauen her zu sein, dann weiß man nie«, verteidigte sich Markwart. »Außerdem ist dein Mädchen auch ganz und gar nicht so, wie ich sie mir vorgestellt habe. Sie … sie ist ja gelehrt wie eine Nonne!«
»Du wusstest doch, dass sie eine Heilerin ist.«
»Die alte Gundel bringt bei uns im Dorf alle Kinder zur Welt und braut auch Kräutertee für alle Kranken, aber ihren Namen schreiben kann sie trotzdem nicht. Weißt du, wie schwer die Bücher sind, die mein armer Gaul nun für sie zu schleppen hat? Außerdem verstehe ich nicht, warum sie so zärtlich mit dem Kerl tut, der sie betrogen und gegen Gott und die Welt gesündigt hat. Und sag nicht, dass dich das nicht auch stört! Ich kenne dich. Du schaust immer noch wie jemand, dessen Braten gerade von einem anderen gegessen wird.«
Mit dieser Beobachtung hatte er nicht ganz unrecht. Was Walther immer wieder einen Stich versetzte, war die Vertrautheit und Zuneigung zwischen Gilles und ihr, vor allem, wenn er bedachte, wie wenige Begegnungen zwischen Judith und ihm je ohne Streit geendet hatten. Gleichzeitig war er sich bewusst, wie dumm dieser Neid war, und versuchte, ihn zu unterdrücken, so gut er konnte. Die Wirklichkeit war immer anders, als man sie sich erhoffte. Zumal es in seiner Vorstellung Judith, nicht Gilles gewesen war, die er vor einer drohenden Gefahr rettete, um dann mit einem Kuss sämtliche Missverständnisse zu klären.
Da er mit ihr sprechen wollte, auch wenn er nicht das sagen konnte, was er sich wünschte, fragte er Judith, was es nun mit ihrem Onkel, Otto und den Staufern auf sich hatte. Zuerst wich sie ihm aus, weshalb er sich zu einem eigenen Geständnis entschloss: »Er hat versucht, mich als Spitzel anzuwerben, Euer Onkel. Mit dem Auftrag, nach Euch zu suchen, weil er sich so große Sorgen um Euch macht.«
»Und das habt Ihr ihm geglaubt?«
»Nein«, gab Walther zu. »Das heißt, ich glaube wohl, dass er sich Sorgen macht, aber ob nun Sorgen um Euch oder Sorgen darum, dass Ihr ihn in den Augen des Erzbischofs und Ottos als unzuverlässig erscheinen lasst, das weiß ich nicht. Vor allem jedoch wollte er durch mich Verbindungen zu ganz bestimmten Edelleuten an Philipps Hof knüpfen, um so ein paar gut unterrichtete Spitzel zu gewinnen.«
Judith biss sich auf die Lippen. »Das sieht ihm ähnlich«, sagte sie enttäuscht.
»Es könnte sein, dass er recht hat«, sagte Walther.
»Womit?«
»Damit, wen er unterstützt. Ich habe das Angebot Eures Onkels nicht angenommen, weil der Papst sich für Otto entschieden hat, und derjenige, der mir in diesem ganzen Spiel am meisten zuwider ist, ist dieser Innozenz. Der will nur die Weltherrschaft der Staufer durch seine eigene ersetzen. Aber sonst … Judith, soweit es Philipp und Irene betraf, hättet Ihr in Braunschweig verrotten können. Wenn mir Lucia nicht erzählt hätte, wo Ihr seid, dann würde ich jetzt noch in Hagenau auf eine Auskunft warten, wo ich Euch finden kann.«
»Woher hätten der König und seine Gemahlin denn wissen sollen, dass ich Hilfe brauche?«, fragte Judith zurück. Sie klang so, als wollte sie sich selbst überzeugen. »Was in Braunschweig geschehen ist, hatte nichts mit Staufern oder Welfen zu tun.«
»Das mag alles so sein. Aber haltet Ihr Philipp wirklich für den besseren König? Bisher kann ich keinen Unterschied zwischen ihm und Otto erkennen, was die Art, Kriege zu führen betrifft oder den Umgang mit Untergebenen.«
»Ich schon. Philipp hat keine Freude daran, Menschen zu quälen«, sagte Judith bestimmt.
»Das war der Nonne, die von seinen Leuten geteert und gefedert wurde, gewiss ein Trost«, gab Walther zurück. »Natürlich glaube ich nicht, dass Philipp persönlich den Befehl dafür gegeben hat, aber …«
»Wenn Soldaten nicht glauben würden, dass sie für so etwas belohnt statt bestraft werden, dann täten sie es nicht«, fiel Gilles überraschend ein. Seine Stimme war noch immer rauh; er klammerte sich an den Sattelknauf seines Pferdes, als müsse er sich vor dem Stürzen bewahren, doch offenbar hörte er ihrem Gespräch sehr aufmerksam zu.
»Kümmert Euch wirklich die Nonne oder dass Philipp Euch nicht genügend ehrt und vertraut?«, fragte Judith mit erkennbar angespannter Stimme, und da wusste er, dass sie selbst auch ihre Zweifel haben musste. Was nichts daran änderte, dass sie mit ihrer Vermutung mehr als ein Körnchen Wahrheit aufgelesen hatte, wenn er in sich horchte.
»Mich kümmert … manches. Was kümmert Euch?«, fragte er herausfordernd. »Wofür habt Ihr in Braunschweig und Brabant Euer Leben aufs Spiel gesetzt? Für die Sache der Staufer, oder um Otto und Eurem Onkel eins auszuwischen?«
Sie erwiderte nichts. Walther verfluchte sich, weil es ihm vorkam, als folgten seine Begegnungen mit Judith den strengen Vorschriften eines Tageliedes, ohne Abweichung: Auf Harmonie folgte Streit, so sicher wie das Amen in der Kirche. Gleichzeitig wollte er auch nichts zurücknehmen. Es war eine ehrliche Frage gewesen, und wenn sie selbst unbequeme Wahrheiten aussprach, dann musste sie auch bereit sein, solche zu hören.
»Lasst uns beide darüber nachdenken«, sagte Judith.
Danach wurde lange Zeit nichts mehr gesprochen.
In einer Nacht, als sie in einem verlassenen Dorf Quartier in einer Ruine machten, die nicht so ausgebrannt war wie die meisten anderen, um Gilles etwas Zeit zur Erholung zu geben, sprach dieser ihn überraschend an.
»Mein Freund«, sagte er, »ich habe Euch noch nicht gedankt für Eure Hilfe.«
Walther machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Ich glaube, ich wäre sonst tot«, fügte Gilles sehr ernst hinzu. »Und manchmal wünschte ich mir das sogar, nachdem Robert mich an die Wachen verraten hatte.«
»Es geschah nicht Euretwegen«, sagte Walther ehrlich, und der Aquitanier überraschte ihn.
»Ich weiß. Aber wenn Ihr sie gewinnen wollt, dann werbt Ihr auf eigenartige Weise«, antwortete Gilles weise lächelnd. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte Walther, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. Er hatte den peinlichen Eindruck, dass er errötete wie ein Knabe. Er schluckte die erste Antwort hinunter, die ihm auf der Zunge lag, nämlich die, dass er besser wisse, wie man Frauenherzen gewänne, als ein Mann wie Gilles. Dessen Feststellung war aber so erkennbar gutmeinend, dass es beleidigend gewesen wäre, und außerdem würden sie es noch eine ganze Weile miteinander aushalten müssen. Plötzlich kam Walther ein Gedanke. Judith wusch sich gerade, und Markwart war bei den Pferden, was hieß, dass er mit Gilles alleine war.
»Was genau hat Otto ihr eigentlich angetan, und was ihr Onkel?«
Gilles musterte ihn nachdenklich. »Warum wollt Ihr das wissen? Um zu entscheiden, für wen Ihr zukünftig Eure Lieder schreibt und Eure Dienste verrichtet?«
»Nein. Um Judiths willen.«
Das meiste, was Gilles ihm erzählte, hatte Walther sich gedacht; ein paar Kleinigkeiten überraschten ihn dennoch, und er war erleichtert, dass seine schlimmste Befürchtung, Otto habe sie vergewaltigt, nicht zutraf. Er dankte Gilles und versprach, die Eröffnungen vertraulich zu behandeln.
Sie hatten eine angekohlte Bibel in dem Haus gefunden, was für ein Pfarrhaus sprach. Wenn der Pfarrer oder der Vikar eine Bibel besaß, dann gehörte er zu den wohlhabenderen, denn viele Priester in den Dörfern, die er kannte, hatten nie eine besessen. Walther bat Markwart und Gilles, das Haus doch etwas genauer zu untersuchen. »Viele Leute vergraben etwas, um bei Überfällen ihre Wertsachen nicht zu verlieren. Gerade die Feuerstelle«, sagte er ihnen, »ist ein sehr übliches Versteck.« Egal, ob sie etwas fanden, sie waren jetzt längere Zeit beschäftigt – und er wollte unbedingt allein mit Judith sprechen.
Er traf sie auf dem halben Weg zum Bach, wieder in Frauenkleidern und mit einer feuchten Haube; sie musste ihre Haare gewaschen haben.
»Ich wünschte, Ihr würdet sie offen tragen«, sagte Walther. »Wenigstens so lange, wie wir hierbleiben. Die Tiere um uns herum bringt das bestimmt nicht zum Erröten.«
Ihre Mundwinkel zuckten. »Aber wer wird Euren armen Freund vor dem Anblick meiner unbedeckten Haare schützen? Ich habe den Eindruck, dass er schon jetzt um seine Ehre fürchtet.«
Walther wusste nicht, ob sie ihn und Markwart in der ersten Nacht ihrer Flucht gehört hatte oder aus seinem Verhalten ihre eigenen Schlussfolgerungen zog, doch er musste grinsen. »Ich denke, er wird es überleben.« Weil er Markwart die Treue eines alten Freundes schuldete, fügte er etwas ernster hinzu: »Vergesst nicht, dass er jetzt ein Gesetzesbrecher ist, der einem Verbrecher geholfen hat, vor der Strafe zu fliehen. Und er hat nicht gezögert. Da fallen seine übertriebenen Vorsichtsmaßnahmen, finde ich, nicht so sehr ins Gewicht.«
Judith betrachtete ihn mit ihrem Blick, der ihm immer schärfer erschien als der bei den meisten Menschen, als hätte sie die Macht, genauso deutlich in Seelen schauen zu können, wie sie Krankheiten erkannte. Dabei wusste er, dass sie es nicht konnte; sonst hätte sie bereits in Wien gewusst, was in ihm vorging.
»Nein, das tun sie wirklich nicht«, erwiderte sie leise. »Walther, ich habe mir immer gesagt, dass ich nur tun will, was rechtens ist. Ich habe einen Eid geschworen, den Menschen zu einem erfüllten gesunden Leben zu verhelfen, nicht zu einem raschen Tod. Aber erst habe ich durch meinen Onkel Otto geholfen, danach Philipp, und nun herrscht Krieg im Reich, zu dem ich ebenfalls etwas beigetragen habe. Als ich nach Salerno kam, da habe ich mit eigenen Augen gesehen, was mit einer Stadt geschieht, die gebrandschatzt wird. Was mit den Menschen in so einer Stadt geschieht. Genau das ereignet sich jetzt jedes Mal, wenn ein Anhänger Ottos eine Stadt oder Burg von Philipps Anhängern angreift, oder wenn Philipp eine Stadt stürmen lässt, welche Otto unterstützt. Und ich – ich habe geholfen, statt es zu verhindern! Deswegen bin ich wütend geworden, über mich, als Ihr meine Gründe wissen wolltet. Wenn Ihr recht habt, wenn ich es nur getan habe, weil ich meinem Onkel grolle und weil Otto mir widerwärtig ist, dann klebt das Blut dieser Menschen an meinen Händen, nur meiner Eitelkeit wegen.«
Es war nach ihrem Geständnis, die Mörder ihrer Verwandten in Wien umbringen zu können, das zweite Mal, dass sie ihm Einblick in ihr Inneres gewährte. Walther spürte Zärtlichkeit und Mitgefühl in sich aufwallen. Jetzt kam es darauf an, nicht wieder das Falsche zu tun, richtig zu reagieren.
Auf dem kleinen Pfad zum Bach lagen mehrere geschlagene Baumstämme, die von den vertriebenen Dörflern wohl für kältere Zeiten vorgesehen waren. Walther deutete auf einen von ihnen, und sie setzten sich, Judith ein Stückchen von ihm entfernt, nicht weit genug, um Misstrauen zu bedeuten, doch so, dass ein gewisser Abstand gewahrt blieb.
»Eitelkeit würde ich es nicht nennen«, entgegnete er behutsam. »Wir können alle nur nach dem urteilen, was wir wissen. Und Ihr wisst über Otto und Philipp, was Ihr bei Euren Begegnungen mit ihnen erfahren habt. Ich – nun, bei aller mangelnden Bescheidenheit, ich habe auch das Meine getan, um Philipp zu unterstützen, aber nicht, weil ich von den Staufern so beeindruckt gewesen wäre, also wundert es mich nicht, dass mir die Zweifel schneller gekommen sind als Euch. Doch glaubt Ihr ernsthaft, dass ohne uns jetzt kein Krieg toben würde? Ich habe eine hohe Meinung von mir, aber so hoch ist sie nun auch wieder nicht.«
»Ihr macht immer noch aus allem lieber einen Scherz, als Bedenken ernst zu nehmen«, sagte sie, doch sie sagte es ohne Vorwurf. Er meinte sogar, eine gewisse Zuneigung in ihrer Stimme zu hören.
»Mir ist es mit meinen Zweifeln sehr ernst«, gab er zurück. »Ich habe von keinem unserer beiden Könige eine hohe Meinung. Deswegen frage ich mich, ob es nicht besser ist, einen gegen den anderen auszuspielen und mir von beiden mein Säckel füllen zu lassen. Treue haben sie beide nicht verdient, scheint mir, und der Krieg findet in jedem Fall statt. Aber ich habe auch Dinge gesehen, die mir so zuwider waren, dass ich nicht damit zufrieden sein kann, selbst nur der lachende Dritte zu sein.«
Er erzählte ihr von den Domherren in Köln, deren einzige Sorge ihre persönliche Bereicherung war und die Nächstenliebe nicht einmal mehr buchstabieren konnten. Er sprach von Martin und dessen Tod im Herzen Roms, von der Gnadenlosigkeit des neuen Papstes und dessen Anspruch, über allem zu stehen, selbst über Gottes Gebot, zu verzeihen. Die Galle, die in ihm hochkam, als er an Martins entsetzte Augen dachte, war unverändert bitter, und er stockte ein paarmal, weil er die Übelkeit niederkämpfen musste, die ihn erfasste.
»Es tut mir leid«, sagte Judith leise, während sie eine Hand auf seine Schulter legte. »Kein Mensch sollte so sterben.«
Ihre Berührung veränderte die Stimmung zwischen ihnen, und auf einmal wusste er, dass er das Gespräch wieder weniger ernst werden lassen musste. Das, oder sie an sich ziehen … aber er wollte nicht wieder alles durch voreiliges Handeln verderben.
»Wenn jeder von uns das bekäme, was er verdient, nicht, was er glaubt, zu verdienen, dann wäre es eine andere Welt, aber ich weiß nicht, wie es mir darin erginge. Ihr würdet natürlich in Salerno als Meisterin der Heilkünste lehren, aber würde ich an den Höfen der Mächtigen die Laute zupfen oder nur irgendwo in einer Dorfschenke?«
»So schlecht sind Eure Lieder nicht«, sagte sie mit einem Lächeln und zog ihre Hand zurück.
»Schlecht?«, rief er mit nur teilweise gespielter Empörung aus. »Meine Lieder sind großartig, und wenn ich irgendwann das Zeitliche segne, dann wird mich Euer König David selbst aus dem Fegefeuer freibitten, weil er den besten Sänger an seiner Seite haben will, um zu Füßen Gottes die Harfe zu spielen.«
»Das wird er nicht«, entgegnete sie. »Wenn ich etwas gelernt habe, seit ich Euch kenne, dann, dass Ihr Sänger eifersüchtig seid und noch weniger Götter neben Euch duldet als der Allmächtige selbst.«
»Wir sind eine zutiefst missverstandene Zunft«, sagte Walther und legte eine Hand auf sein Herz. »Niemand ist so sehr darauf versessen, herauszufinden, was ein anderer Sänger kann, wie wir. Wie soll man sonst die Leistungen anderer Verseschmiede heruntersetzen?«
Diesmal brachte er sie nicht nur zum Lächeln, sondern zum Lachen, auch wenn es nur ein kurzes Prusten war. »Dann ähnelt Ihr den Ärzten mehr, als ich dachte«, gab sie zurück. »Wir sind ungeheuer versessen darauf, die Methoden anderer zu studieren, denn wie sollen wir sonst herausfinden, was sie falsch machen?«
Er spürte Gelächter in sich aufsteigen wie Luftblasen, die an die Oberfläche brechen mussten. Nicht nur wegen Scherzen, die ihm zu anderer Zeit vielleicht nur ein kurzes Grinsen entlockt hätten; nein, vor Freude, hier mit Judith zu sitzen, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, und noch einmal am Anfang zu stehen.