Kapitel 43

Wolfger zeigte sich ein wenig verwundert, als Walther ihn darum bat, ihn über die Alpen begleiten zu dürfen. »Ich hätte nie gedacht, dass Ihr Rom je wiedersehen wollt, nach Euren bisherigen Erfahrungen, Herr Walther.«

»Es wird die Krönung eines Kaisers sein. Das ist eine Überwindung meiner Abneigung wert. Wann in meinem Leben werde ich je wieder die Gelegenheit haben, so etwas beizuwohnen? Ihr, Patriarch, seid unzerstörbar, doch unsereins hat im Winter sehr kalte Zehen, und es würde mich nicht wundern, wenn mich das Alter mehr früher als später einholt und es mir unmöglich macht, weiter durch die Welt zu ziehen.«

»Ihr reist im Allgemeinen auch weniger bequem als ich, ich weiß«, sagte Wolfger trocken. »Herr Walther, Ihr seid in meinem Gefolge willkommen, aber wenn es Euch nur darum geht, dass ich Herrn Otto eine Empfehlung für Euch gebe, dann kann ich das sehr wohl auch auf dieser Seite der Alpen tun.«

»Das ist sehr gütig von Euch, Euer Gnaden, doch ich meine es ernst mit der Krönung. Euer Gnaden, ich sehe mich als ein Chronist unserer Zeit, also muss ich einfach dabei sein.« Er schaute sich um, doch keiner von Wolfgers Leuten war in Hörweite, also fügte er als letztes Argument hinzu: »Wenn Ihr die Gelegenheit hättet, würdet Ihr dann nicht mit Siegfried, Gunther und Hagen nach Island gehen, um Siegfried dort gegen Brünhild kämpfen zu sehen?«

»Herr Walther«, entgegnete Wolfger, »Siegfried kämpfte nicht offen, sondern als Teil eines Betrugs, der ihm schließlich seinen Tod einbrachte.«

»Wohl wahr. Aber den Wettkampf habt Ihr trotzdem so geschildert, dass man spürt, dass Ihr gerne dabei gewesen wäret. Ihr seid ein Mann Gottes, Euer Gnaden, sprecht die Wahrheit. Wäret Ihr gerne dabei gewesen?«

»Das wäre ich.«


Beatrix und ihre Damen verließen Würzburg in Richtung Speyer, wo die junge Königin mit ihren Schwestern leben würde, bis sie ihre monatlichen Blutungen bekam, während Otto und sein Gefolge nach Augsburg reisten, wo sich sein Heer versammelte, um ihn auf dem Weg zu seiner Krönung zu begleiten. Da Judith sich während der restlichen Woche in Würzburg ständig an Beatrix’ Seite aufgehalten hatte, fand Walther nur noch eine Gelegenheit, alleine mit ihr zu sein. Es war ein seltsames Gefühl: unsicher, befreit und wund zugleich. Was sie empfand, konnte er sich kaum vorstellen.

Er begleitete sie zu dem Neumünsterstift, wo sie ihre Kräutervorräte um Sonnenhut, Salbei, Wermut, Kamille, Baldrian und Königskerze ergänzen wollte. Vielleicht fand er es zu Anfang gerade schwer, mit ihr zu sprechen, weil sie nun keine Zeugen hatten noch unter der unmittelbaren Nachwirkung von Ottos Tat standen. Es gab gleichzeitig so viel, was er sagen wollte, und zu wenig Zeit, um es auszudrücken. Er verfiel also auf die Frage nach Markwart und erfuhr, dass der Bischof von Speyer ihn zum Haushofmeister für die jüngeren Königstöchter gemacht hatte. Dann erzählte er, dass ihm Wolfger den Platz im Tross nach Rom verschafft hatte, doch auch dieses Thema überbrückte nur einen Teil des Wegs. In seinem Kopf wälzte er Fragen hin und her, und jede schien ihm voller Lasten, die in die falsche Richtung führten.

Endlich platzte er heraus: »Wie geht es dir?«

Es waren ärmliche vier Worte, und doch hatte er keine anderen gefunden. Als er nach seinen Wochen in Rom von Alpträumen heimgesucht worden war, da waren es ihre Arme und ihr warmer Körper gewesen, der bloße Klang ihrer Stimme, was ihn geheilt hatte. Er sehnte sich danach, für sie jetzt das Gleiche zu tun, aber gleichzeitig war er von der Furcht geplagt, dass sie nach ihrem Erlebnis mit Otto vor ihm zurückscheuen würde, wenn er mehr tat, als nur ihre Hand zu berühren.

Er wollte ihr sagen, dass es ihm leid um Gilles tat, und ein winziger, hartnäckiger Teil von ihm, den er entschlossen unterdrückte, wollte sie fragen, warum sie ihm nie die Wahrheit über die Gültigkeit ihrer Ehe gesagt hatte. Er wollte sie fragen, ob sie sich wirklich stark genug fühlte, um Otto wieder zu begegnen, was früher oder später der Fall sein würde, aber er befürchtete, dass es wie ein Zweifel an ihr klingen musste.

Letztendlich blieben nur diese vier Worte übrig.

»Ich bin … ich selbst«, entgegnete sie zögernd. »Ich dachte, das würde nicht so sein. Aber es ist so.«

»Wenn du dir je wünschen solltest, weniger als du und mehr wie ich zu sein«, sagte er, sich immer noch an den Spuren seiner eigenen Erinnerungen entlangtastend, »dann sag es mir, und wir überlassen das Reich und Otto einander und laufen fort. Ich bin gut im Weglaufen. Eine Ärztin hat mir das einmal bestätigt. Und manchmal kann es ein Heilmittel sein.«

Es war nicht der Versuch, von ihrem Plan zurückzutreten, sondern nur eine Art, ihr zu zeigen, dass sie eine Wahl hatte. Sie musste keine Heldin sein. Ihre Finger berührten die seinen und drückten sie, aber sie sagte nichts. Das neue Schweigen zwischen ihnen war ein behutsames, tastendes, ganz wie ihre Finger.

Im Neumünsterstift führte man Judith in den ummauerten Garten. Der würzige Geruch des Rosmarins nahm Walther einen Moment den Atem. Judith zog ihr Messer und begann, einige der Zweige abzuschneiden. Sie reichte ihm eine der blassblauen Blüten. »Rosmarin«, sagte sie, »für die Erinnerung.«

Mit einem Mal fragte er sich, was er täte, wenn sie aus dieser Welt verschwände; wenn er aus Italien zurückkehrte und sie nicht wiederfände, nirgendwo. Die vergangenen zwei Jahre waren bitter gewesen, aber er hatte immer gewusst, wo sie sich befand und dass es eine Judith gab. Sie nicht mehr auf der Welt zu wissen, war so unmöglich, wie sich die Luft zum Atmen fortzudenken. Aber auch das konnte er ihr jetzt nicht sagen, und so fiel er auf seine alte Gewohnheit zurück und machte einen Scherz daraus.

»Und ich dachte, Rosmarin sei das Mittel gegen Blähungen, solltest du das nicht wissen? Ach, diese Schule von Salerno, ich habe sie immer für ein Gerücht gehalten und gewusst, dass ihre Ärzte allesamt nichts taugen.«

Ein Lächeln stahl sich in ihr Gesicht, und er wusste, dass auch sie an ihre erste Begegnung dachte. »Es hilft bisweilen auch gegen Kopfschmerzen«, erwiderte sie, ein Echo ihres unbeschwerten, neckenden Tones in der Stimme, »wie sie von Sängern verursacht werden, die zu viel schwatzen.«

»Dann werde ich es nie benötigen, denn ich habe nie ein Wort zu viel gesprochen, und jedes Wort aus meinem Mund ist eine Perle«, er machte eine ausufernde Geste, »und daher werde ich die Blüte unzerstört an meinem Herzen wahren.«

Trotz der Übertreibung, um sie zum Lachen zu bringen, war es doch nichts als die Wahrheit: der Rosmarin, der Garten, Judith in ihrem Arbeitskittel, mit den roten Locken, die sich unter ihrer zurückgerutschten Haarbinde hervorstahlen – er wusste, dass er dieses Bild bei sich tragen würde, bis er starb.

* * *

Diepold von Schweinspeunt hatte ertragreiche Jahre im Königreich Sizilien hinter sich – bis der verwünschte Junge seinen vierzehnten Geburtstag feierte und umgehend auf den Gedanken kam, er könne nun selbst regieren. Schlimmer noch, der Papst hatte ihm die Heirat mit Constanza von Aragon vermittelt, die genügend Ritter als Mitgift mitbrachte, um zu verhindern, dass man den Jungen einfach auslachen konnte. Einer der ersten Erlässe, die Friedrich sich einfallen ließ, war, sämtliche Großgrundbesitzer im Königreich aufzufordern, ihre Besitzurkunden vorzulegen. Wenn die Übereignung von Gütern, Ämtern und Pfründen auf die Zeit nach dem Tod seiner kaiserlichen Mutter zurückging, sollten sie für ungültig erklärt werden, es sei denn, Friedrich selbst bestätige sie.

Das war unerhört! Diepold von Schweinspeunt war nicht gesonnen, sich dergleichen bieten zu lassen. Andererseits hielt er es auch für unter seiner Würde, sich mit einem Bengel anzulegen, der von Glück sagen konnte, überhaupt auf einem Thron zu sitzen. O nein, nicht Diepold von Schweinspeunt. Stattdessen beschloss er, zur Krönung des Welfen nach Rom zu reisen. Es wurde Zeit, dass jemand dem undankbaren Frechling eine Lektion erteilte, und er konnte sich keinen Besseren vorstellen als den neuen Kaiser Otto. Was tat es schon, dass der Junge König war? Über allen Königen stand der Kaiser, und er hatte schon einmal auf der Seite eines Kaisers sein Glück gefunden.

Er kam gerade noch rechtzeitig zur Krönung an, die für den vierten Oktober angesetzt war. Ottos Heer lagerte auf dem Monte Mario vor Rom; die riesige Ansammlung an Zelten, Pferden und Männern war weithin sichtbar. Diepold war selbst mit einer nicht gerade kleinen Truppe erschienen, schließlich wollte er bei Otto den Eindruck erwecken, ein wichtiger Verbündeter zu sein. Das machte es jedoch nötig, Boten zu schicken, um sich wegen der Unterbringung zu verständigen, noch ehe er sein Anliegen vorbringen konnte. Zum Glück stellte sich heraus, dass Heinz von Kalden immer noch Reichshofmarschall war, und den kannte er aus den Zeiten unter Kaiser Heinrich. Sie waren weder Freund noch Feind, hatten nie den Fehler gemacht, einander zu unterschätzen. Da keiner von ihnen auf glanzvolle Vorfahren zurückblicken konnte, mussten sie einander auch nicht ihren eignen Aufstieg vorwerfen. Ja, mit Heinz von Kalden ließ sich verhandeln.

»Ihr könnt natürlich gerne an der Krönung teilnehmen.«

»Das will ich doch meinen, nach meiner Reise hierher. Aber was ist mit dem Empfang beim Kaiser?«

»Nach der Krönung«, sagte Heinz von Kalden. »Wie ergeht es denn dem jungen König auf Sizilien?«

Schweinspeunts Blick musste für sich gesprochen haben. Unverständlicherweise veranlasste das Heinz von Kalden zu einem Grinsen. »Ist der Sohn seines Vaters, wie?«

»Wenn es sein Vater war«, sagte Schweinspeunt giftig. Heinz von Kalden schürzte die Lippen.

»Die Kaiserin Konstanze war eine ehrliche Feindin. Sie hat den Kaiser gehasst, aber sie hätte ihn nicht betrogen.«

»Alle Frauen sind Dirnen in ihrem Herzen. Das solltet Ihr in Eurem Alter wirklich wissen. Oder seid Ihr inzwischen so alt, dass Ihr in Weibern nur noch Töchter sehen könnt?«

»Wie ich sehe, haben Euch die vergangenen Jahre nicht verändert«, sagte Heinz von Kalden und wies Schweinspeunt an, sich während der Krönung hinter ihm zu halten, dann werde er nach den Zeremonien den Kaiser auf ihn aufmerksam machen.

Vielleicht lag es daran, dass Diepold von Schweinspeunt ungeduldig war, aber für ihn zog sich die Krönung endlos hin. Eine Meile vor der Stadt leistete der Kaiser den Römereid, die Gepflogenheiten der Stadt zu achten; das hätte man sich Schweinspeunts Meinung nach sparen können, war es doch Jahrhunderte her, seit ein Kaiser des Heiligen Römischen Reiches hier residiert hatte. Der Stadtpräfekt, dem Otto diesen Eid leistete, schritt von da an mit blankem Schwert vor ihm her. Otto trug eine grüne Tunika und einen roten Mantel, was ihn von weit her erkennbar machte. Nachdem er die Porta Collina erreicht hatte, begann sein Kämmerer, Silber in die Menge zu werfen. Schweinspeunt musste seine Knechte zurückhalten, damit sie sich nicht an dem allgemeinen Gerangel beteiligten. Man hätte meinen können, er bezahle sie nicht genügend.

Auf dem Platz vor dem Petersdom empfingen die römischen Senatoren den Kaiser, der vom Pferd abstieg und es ihnen der Zeremonie gemäß zum Geschenk machte. Schweinspeunt argwöhnte, der Senat existierte nur noch für solche Anlässe. Wozu sollte er sonst nützlich sein? Die wahre Herrschaft über Rom lag bei den Pfaffen.

Auf den Stufen des Doms erwartete den Kaiser der Papst mit Kardinälen und einem Chor. Innozenz war zwei Jahre jünger als Schweinspeunt, hager und klein, aber er musste zugeben, dass die Willenskraft, die von ihm ausging, selbst aus der Entfernung zu erkennen war. Otto musste vor ihm niederknien und ihm die Füße küssen, ehe der Papst ihn aufhob, auf beide Wangen küsste und umarmte. An der Zeremonie in der Kapelle Santa Mariae in Turri, bei welcher der Kaiser neu eingekleidet wurde, durfte Schweinspeunt nicht teilnehmen, doch als er Otto in einem weißen Gewand mit rotbesticktem Kreuz vor die Kirche treten sah, hatte er ein ungutes Gefühl. Ein rotbesticktes Kreuz bedeutete eigentlich ein Kreuzzugsgelübde. Das würde ganz und gar nicht passen – er brauchte Otto hier, bei den Welschen, nicht im Heiligen Land bei den Sarazenen!

An der silbernen Pforte sprach ein Kardinal ein Gebet über Otto. Anschließend schritt der Kaiser bis zur Mitte des Doms. Zu diesem Zeitpunkt war es Schweinspeunt gelungen, sich weit genug vorzudrängen, um sehen zu können, wie Otto gesalbt wurde; auf seinen rechten Unterarm und den Rücken wurde mit geweihtem Öl ein Kreuz gestrichen. Damit hätte doch eigentlich alles vorbei sein sollen, aber nein, jetzt begann der Papst mit der Messe, und dann dauerte es noch einmal eine Ewigkeit, bis er Otto die Kaiserkrone aufs Haupt setzte und ihm Zepter und Reichsapfel in die Hände drückte, während der Chor »Christus siegt, Christus regiert, Christus ist Sieger« jubelte.

Otto legte seine Insignien wieder ab, um vom Papst die Kommunion zu empfangen, dann zog er mit ihm zum Petersdom hinaus. Er half dem Papst auf sein Pferd und hielt ihm die Steigbügel, was, wenn sich Schweinspeunt recht erinnerte, Kaiser Heinrich nicht getan hatte. Er konnte nur hoffen, dass Otto nicht wirklich pfaffenhörig war, nicht, wenn es darum ging, ihm seine Rechte in Sizilien zu bestätigen. Als Kaiser und Papst nebeneinander bis zum Stadttor ritten, atmete Schweinspeunt auf, denn das war der letzte Teil der Zeremonie. Aber dann erfuhr er zu seinem Entsetzen, dass der Papst vom Kaiser zum abendlichen Festmahl im Heerlager auf dem Monte Mario geladen war. Solange der Papst in Gesellschaft des Kaisers war, so lange würde Otto ganz gewiss niemand anderen empfangen, ganz zu schweigen davon, dass man in Gegenwart des Papstes schlecht das Gespräch auf Sizilien bringen konnte.

Schweinspeunts Stimmung hob sich erst wieder, als er auf dem Rückweg inmitten von Ottos Gefolge ein vertrautes Gesicht erspähte. Spielleute, die etwas anderes als das welsche Trallala sangen, um einem die Zeit zu verkürzen, waren selten. Also hatte er vor ein paar Jahren Walther von der Vogelweide durchaus freundlich aufgenommen, selbst, wenn der Mann darauf bestand, ein singender Ritter zu sein und daher als Herr Walther angeredet zu werden. Immerhin, die Lieder waren bissig und unterhaltsam gewesen, wie man es sonst nicht kannte.

»Herr Walther! Nein, so ein Zufall!«

Er überschüttete den Sänger mit Freundlichkeit, was bedeutete, dass er ihm kräftig auf den Rücken klopfte und gönnerhaft fragte, ob Herr Walther auch ein paar Silbermünzen ergattert habe. Dann, nachdem er so seine huldvolle Gesinnung bewiesen hatte, kam er zur Sache. »Gewiss giert Ihr schon danach, für den Kaiser und den Heiligen Vater zu singen, wie, Vogelwiese?«

»Nach dieser Ehre streben auch andere«, entgegnete der Sänger unverständlicherweise zurückhaltend.

»Ja, aber es könnte der Höhepunkt Eures Lebens sein! Die einzige Gelegenheit, um dem Heiligen Vater einmal die Meinung zu sagen! Wollt Ihr das nicht tun? Ich dachte, Ihr seid Gottes Bote oder des Volkes Stimme oder wie auch immer Ihr das in Euren Liedern ausdrückt!«

»Ich bin auch kein Jüngling mehr«, sagte der Weichling, »und will lieber auch weiterhin vom Kaiser empfangen, statt in das kälteste Erdloch des Reiches verbannt zu werden.«

»Oh, der Kaiser wird Euch dankbar sein! Glaubt mir, der Frieden zwischen ihm und dem Papst kann nicht lange anhalten«, sagte Schweinspeunt ungeduldig. »Nicht, wenn er hört, was ich ihm vorzuschlagen habe.«

»Dann wäre es vielleicht gut, wenn Ihr Euren Vorschlag zuerst anbrächtet, Herr Diepold.«

»Nein, das wäre es nicht. Nicht in Anwesenheit des Papstes! Ich will, dass Ihr ihn veranlasst, sich zurückzuziehen, Herrgott noch mal, ist das so schwer zu verstehen?«

»Keineswegs, Herr Diepold«, entgegnete der Sänger unanständig vergnügt. »Doch Ihr müsst auch meine Sorgen um die Zukunft begreifen. Nicht, dass ich an Euch zweifle, aber es würde mich mehr ermutigen, wenn ich genau wüsste, was Ihr vorzuschlagen habt. Schließlich bin ich ein armer Sänger und kein tapferer und streitfähiger Edelmann wie Ihr.«

Er war nur ein Sänger, in der Tat, und daher war es eigentlich unwichtig, was man ihm erzählte. »Es geht darum, dem Reich zu seinen alten Rechten im Königreich Sizilien zu verhelfen.«

»Und da dachte ich, dort gäbe es schon einen Herrscher.«

»Der Kaiser ist der einzig wahre Herrscher, den es dort geben sollte. Schließlich ist er mit der letzten Stauferin verheiratet. Das undankbare Balg, das sich jetzt den Thron dort anmaßt, ist der Sohn des Schlächters von Jesi, das weiß jeder!«

»Nun, wenn Ihr es so darstellt, muss ich natürlich dafür sorgen, dass Ihr dem Reich zu seinem Recht verhelfen werdet. Ja, mehr noch, Herr Diepold, ich will das Meinige tun. Denkt Euch, als ich die Freude hatte, für Euch zu singen, da begegnete ich doch auch deutschen Edelleuten, die darauf warteten, dass König Friedrich mündig werde, weil sie ihn für den wahren Herrscher hielten. Mir scheint, da wäre ein Sänger am rechten Ort, der sie belehrt, wem diese Ehre wirklich gebührt.«

Diepold von Schweinspeunt war der Meinung, dass die Aussicht darauf, mit dem Heer Kaiser Ottos kämpfen zu können, jeden Edelmann, der seinen Verstand beisammenhatte, auf die Seite Ottos treiben würde, aber er war bereit, zuzugestehen, dass es noch schneller gehen würde, wenn man schon im Vorfeld die richtige Saat verteilte. »Lasst Euch nicht aufhalten, Herr Walther. Das wäre ein guter Gedanke.«

»Nur ist die Welt eben hart, Herr Diepold, und eine Zeit möglicher Missgunst beim Kaiser, wenn ich mich für Euch einsetze, noch härter. Etwas Silber aus Eurer edlen Hand käme da höchst gelegen …«

Jetzt endlich schlussfolgerte er, worauf der Sänger mit seinem Herumgerede die ganze Zeit hinauswollte. Er hätte es sich wirklich denken können. In dieser Welt gab es nun einmal nichts umsonst. Nun, seine Ländereien hatten immer fette Ernte abgeworfen, und da er nun sicherstellen würde, dass dies auf immer so bleiben würde, gab es keinen Grund, zu sparen. Er drückte dem Sänger genügend Silber in die Hand, um ein halbes Jahr gut davon zu leben. Walther dankte ihm gebührend beeindruckt. Dann lieferte er, für die versammelten Edlen und den Papst, was er versprochen hatte.

Noch mag, Herr Papst, ich wohl gedeihn
Da ich Euch will gehorsam sein.
Wir hörten Euch der Christenheit gebieten,
Zu sein dem Kaiser untertan,
Da Segen er von Euch empfang
Dass wir ihn hießen Herr und vor ihm knieten.
Auch sollt Ihr nicht vergessen:
Ihr spracht: »Wer dich segnet, sei gesegnet,
wer dir flucht, der sei verflucht.«
Wollt Ihr an Fluchen nun die Taten messen.
Bei Gott, bedenket dann dabei,
dass mancher noch nach Pfaffen Ehr’ und Ansehn sucht!

Schweinspeunt konnte sich an wesentlich bösere Lieder über den Papst erinnern, aber er musste zugeben, dass dieses den Vorteil hatte, mit Sicherheit Misstrauen zwischen Papst und Kaiser zu säen. Der Papst, dem die Übersetzung von Walthers Worten ins Ohr geraunt wurde, fragte sich gewiss, wie Otto zulassen konnte, dass sich ein einfacher Dichter bei einem Festmahl erdreistete, dem Heiligen Vater Verhaltensmaßregeln zu erteilen, und konnte doch nicht behaupten, dass Walther etwas Ungebührliches gesungen hätte. Als die Übersetzung beendet war, runzelte er die Stirn, sagte etwas zu Otto und erhob sich.

Diepold von Schweinspeunt beglückwünschte sich selbst. Nun war der Weg frei! Dass der Kaiser keine Anstalten machte, den Papst aufzuhalten, nahm er als gutes Omen. Es gelang ihm, sich in Ottos Nähe zu schieben. »Mein Kaiser, ich bin beglückt, Euch endlich vor meinen eigenen Augen zu sehen! Diepold von Schweinspeunt, Graf von Acerra, wirft sich Euch zu Füßen!«

Otto runzelte die Stirn. Dann klärte sich sein Gesicht auf. »Seid Ihr nicht einer von unseren Statthaltern in Sizilien?«

Erhob Otto damit nicht deutlich seinen Anspruch auf das Königreich Sizilien? Am Ende muss er gar nicht groß überredet werden, dachte Schweinspeunt, da hätte ich mir die Ausgaben für den Sänger sparen können. »So ist es, Euer Gnaden.«

»Mein Freund«, sagte Otto mit einem Lächeln, »Wir sind sehr erfreut, Euch an Unserer Seite zu finden.«

* * *

Man wusste in Speyer, wann die Krönung stattfand. Ihre Schwestern machten sich ein Vergnügen daraus, Beatrix damit zu necken, sie »Kaiserin«, »Imperatrix« und »Höchst Erhabene« zu nennen und zu fragen, ob sie die Krone tragen würde, die für ihre Großmutter, die Gemahlin des Kaisers Rotbart, angefertigt worden war. »Wirst du ihr nacheifern?«, fragte Kunigunde.

»Nein«, entgegnete Beatrix, ohne zu lächeln. »Ich werde der Kaiserin Theophanu nacheifern. Sie kam aus Byzanz, so wie unsere Mutter, und sie hat das Reich regiert. Sie und die Kaiserin Adelheid.«

Beides waren auch Kaiserinnen, die früh Witwen geworden waren, aber Judith glaubte nicht, dass die Mädchen diese Bedeutung erfassten. Sie war sich nicht einmal sicher, ob Beatrix es so meinte. Sie hatte ihr nichts über die Nacht mit Otto erzählt, und wenn sie etwas bemerkt hatte, obwohl sich Judith bemüht hatte, still zu bleiben, niemals vor Schmerzen zu schreien, dann sprach sie nicht davon. Aber es entging Judith nicht, dass Beatrix vor ihrer Ankunft in Würzburg bereit gewesen war, das Beste aus ihrer Ehe zu machen, während sie nach der Abreise von Würzburg Gesänge über die heldenhaften Taten ihres Gemahls nicht mehr hören wollte.

Mit sehr viel Glück, dachte Judith, wird Beatrix gar nicht erst in die Verlegenheit kommen, Witwe zu werden. Otto hatte recht: Solange eine Ehe nicht vollzogen war, so lange konnte sie ohne weiteres für ungültig erklärt werden, zumal die beiden entfernt miteinander verwandt waren, so dass Otto, um eine Dispensation vom Papst zu erhalten, zwei Klöster hatte stiften müssen. Wenn Otto erst mit der Kirche aneinandergeriet, dann konnte sich vielleicht die Gelegenheit ergeben, mit Beatrix von seinem Hof zu fliehen und ihre Ehe auflösen zu lassen. Deswegen erfüllten sie die ersten Anzeichen, dass ihr Schützling der Kindheit nun auch körperlich entfloh, ganz und gar nicht mit Freude. Solange Otto in Italien weilte, so lange spielte es keine Rolle, aber niemand konnte sagen, wie lange er bleiben würde. Wenn Beatrix erst ihre erste Blutung hinter sich hatte, dann würde es keinen Aufschub zum Vollzug der Ehe mehr geben.

»Theophanu war so alt wie ich, als sie heiratete, nicht wahr?«, fragte Beatrix, als sie Judith durch Speyer begleitete, zwei Wachposten mit den welfischen Farben hinter sich.

»So gut kenne ich die Fakten unserer Geschichte nicht, Euer Gnaden.«

»Nun, ich bekam Unterricht in ihr, als meine Eltern noch lebten. Könnt Ihr nicht den Kanzler überzeugen, Magistra, dass meine Stunden fortgesetzt werden?«

Der Bischof von Speyer hatte die Meinung ausgedrückt, dass nur eine Nonne mit mehr Wissen, als Beatrix ohnehin schon besaß, etwas anfangen konnte. Da Beatrix ihre Erfüllung als Frau und Mutter finden würde, sei es nicht nötig, ihr weiterhin Unterricht in anderen Dingen als höfischem Betragen und der Führung eines Haushalts zu geben. Ihren Namen schreiben zu können, genüge für eine Frau. Dass Beatrix daraufhin auf das Beispiel ihrer Leibärztin hinwies, hatte ihn nicht beeindruckt: »Die Schule von Salerno mag es Frauen weltlichen Standes gestatten, zu studieren, aber für die Dummheiten in fremden Ländern sind wir hier nicht verantwortlich.« Das war die Meinung des Mannes, als Bischof wie als Kanzler.

»Ich glaube nicht, dass er auch nur den geringsten Wert auf meine Meinung legt, Euer Gnaden. Seid Ihr nicht auch früher manchmal fortgelaufen, wenn Euer Unterricht Euch zu lang wurde, weil Ihr lieber Lieder hören wolltet?«

»Das war etwas anderes«, erwiderte Beatrix unerwartet heftig. »Ganz anders. Wenn man Euch verboten hätte zu studieren, was hättet Ihr dann getan?«

Das hätte sehr leicht geschehen können. Judith war sich jetzt noch nicht sicher, ob ihr Vater sie ausgebildet und zu seiner Nachfolgerin herangezogen hätte, wenn ihre Brüder überlebt hätten, ganz zu schweigen davon, dass er dann nicht mit ihr nach Salerno gegangen wäre. Sie stellte sich vor, nie mehr über das Heilen des menschlichen Körpers gewusst zu haben, als die Art, wie man Verbände auflegte, die ihr auch ihre Mutter hätte zeigen können, und schauderte.

»Ich wäre erstickt«, sagte sie. »Aber ich liebe die Medizin, Euer Gnaden. Seid Ihr sicher, dass Ihr die Geschichte liebt?«

Beatrix wand eine ihrer dunklen Locken um den Zeigefinger. Sie war zwar verheiratet, aber noch so jung, dass man ihr gestattete, ihr Haar offen zu tragen.

»Ich bin die Kaiserin«, sagte sie sehr ernst. »Das ist der Platz, auf den Gott mich gestellt hat. Es muss doch einen Sinn gehabt haben, Magistra, dass er mir meine Eltern genommen hat, das muss es einfach, und der einzige Sinn, den ich erkennen kann, ist der, eine gute Kaiserin zu sein! Und dazu muss ich mehr wissen als nur, wie man Kinder zur Welt bringt.«

Judith musste einen Kloß in ihrer Kehle hinunterschlucken, aber sie war nicht versucht, Beatrix etwas von ihren Plänen anzuvertrauen. Es gab nicht mehr viele Menschen, bei denen sie bereit war, zu vertrauen. Das hatte nichts mit Zuneigung zu tun; sie hatte einen Kreis um sich gezogen, und der größte Teil der Welt befand sich außerhalb. Walther wäre vielleicht auch dort gewesen, wenn sie eine Wahl gehabt hätte, doch sie war zu sehr mit ihm verwachsen. Als er sie an jenem Morgen fand, hatte sie befürchtet, in seinen Augen Verachtung zu lesen, und das hätte ihr den Rest gegeben. Sie konnte sich nur zu gut daran erinnern, wie sehr viele der geschändeten Frauen in Salerno von ihren Männern behandelt worden waren. »Wer will schon in einen beschädigten Topf pinkeln«, hatte einer zu Judith gesagt.

Aber alles, was sie in Walthers Augen las, war Liebe, und dann, im Gemach der Markgräfin, Bewunderung und Achtung. Die ganze Nacht über hatte sie die Zähne zusammengebissen und versucht, ihren Verstand von ihrem Körper zu trennen; sie hatte an alle möglichen Arten gedacht, sich an Otto zu rächen, aber es war nie ohne ein Gefühl der Ohnmacht und in dem Bewusstsein geschehen, dass es Hirngespinste waren. Erst Walther hatte ihr das Bewusstsein zurückgegeben, dass sie immer noch Judith war, die Tochter Jakobs, Ärztin von Salerno und Nichte Stefans, denn sie machte sich nichts vor: Der Vorstellung, die Geschichte des Reiches zu beeinflussen und Könige zu machen, war sie zuerst bei ihm begegnet. Stefan hatte am Ende den König bekommen, den er gewollt hatte, und bewiesen, dass es möglich war. Aber sie durfte keinen Fehler mehr machen, nicht einen, und es war so leicht, wenn man Menschen an sich heranließ und ihnen vertraute. Wenn sie Walther hätte ausschließen können, dann hätte sie es getan. Stattdessen fand sie sich damit ab, dass es ihr unmöglich war, und gestand sich ein, dass sie ihn liebte und nie damit aufgehört hatte.

Ja, Beatrix liebte sie ebenfalls, und doch war es möglich, der jungen Kaiserin nur zu zeigen, was sie sehen sollte: eine weise, zuverlässige Lehrerin. Ganz bestimmt nicht die Judith, die mittlerweile mehr Schatten in sich barg als Licht.

»Unterschätzt nicht, was man lernen muss, um Kinder auf die Welt zu bringen«, entgegnete sie daher und lenkte Beatrix’ Aufmerksamkeit auf ein anderes Gebiet. »Es dauert Jahre, bis es einem gestattet wird, und meiner Meinung nach gibt es immer noch zu wenige schriftliche Studien darüber. Ich hatte Glück, auf Trotas Werk zu stoßen, sonst hätte ich nicht gewusst, wie man mit einem Dammriss bei den Wehen umgeht.«

»Was ist ein Dammriss?« Judith erklärte es ihr. Am Ende war Beatrix ein wenig blass um die Nase und fragte stockend, ob es das war, was ihrer Mutter den Tod gebracht hatte.

»Nein«, entgegnete Judith bestürzt und versuchte, die richtigen Worte zu finden. Am Ende blieb ihr nichts als die dürre medizinische Erklärung einer Fehlgeburt, ahnend, wie ungenügend diese Irenes Tochter vorkommen musste. Dann sagte Beatrix zu ihrer Überraschung: »Ich werde selbst einmal Kinder zur Welt bringen. Also will ich von Euch alles über Geburten lernen. Und auch über das Heilen von Krankheiten. Ich will bei Euch in die Lehre gehen. Eure Gegenwart ist mir schließlich nicht verboten.«

Es war schwer, den Wall aufrechtzuerhalten, wenn er durch eine heiße Welle der Zuneigung unterwandert wurde. »Es hat bisher keine Kaiserinnen gegeben, die Ärztinnen waren, Euer Gnaden, aber wenn Ihr tatsächlich die erste werden wollt, dann werde ich Euch dazu verhelfen.«

* * *

Walther war während Judiths Aufenthalt in Salerno zu den verschiedensten Orten des Königreiches Sizilien gereist, das sich immerhin bis hin zum Patrimonium Petri erstreckte, doch auf die Insel hatten ihn seine Wege nie geführt. Das Geld Diepolds von Schweinspeunt war mehr als genug, um eine Überfahrt von Neapel nach Palermo zu bezahlen, was sein Leben erheblich vereinfachte und bequemer machte, als bis nach Reggio zu reiten und von dort aus überzusetzen. Womit er nicht gerechnet hatte, waren die teilweise sehr hohen Wellen. Walther war deutsche Flüsse gewohnt, doch die Strecke war keine Küstenschifffahrt, sondern eine Durchquerung des Meeres, wie er es noch nicht erlebt hatte. Es wurde ihm bald speiübel, und das war bereits, ehe man ihm erzählte, dass die Küstenbewohner Siziliens sich darauf verstanden, harmlose Schiffe mit falschen Leuchtfeuern ins Verderben zu locken, um sie so auszurauben.

»Alles Räuber, diese Sizilianer«, sagte einer seiner Mitreisenden, ein Viehhändler, so genüsslich, als freue er sich schon auf den Kampf.

Nach drei Tagen lief das Schiff dann doch sicher in den Hafen von Palermo ein. Walthers Knie waren trotzdem weich, sein Magen entleert. Dergleichen geschah Boten in Heldenliedern nie. Der Anblick, der sich ihm bot, half immerhin, ihn abzulenken: So hatte er sich Byzanz vorgestellt, vielleicht sogar Jerusalem. Immer wieder ragten Halbkugeln als Kuppeln zwischen den Dächern hervor, leuchteten rot aus Palmengärten, wie überhaupt viel Grün zwischen den würfelförmigen Häusern zu finden war. Selbst die Zinnen der langgestreckten Kathedrale waren fremdartig.

Die Straßen waren leer. Soweit sich das dem Kauderwelsch der wenigen ansprechbaren Leute entnehmen ließ, das so gar nicht wie die Volgare klang, war eine Seuche ausgebrochen, an der bereits mehrere aragonesische Ritter gestorben wären. Was diese in Sizilien taten, wusste Walther nicht und wollte es eigentlich auch gar nicht wissen. Vielleicht war es Glück, dass sein Magen bereits so gründlich entleert war, denn ihm wurde sehr mulmig zumute; der alte Kaiser Heinrich und so mancher Deutsche waren am sizilianischen Sumpffieber gestorben.

Immerhin war er nur für sich selbst verantwortlich; seinem Knappen hatte er eine Stellung beim Patriarchen Wolfger verschafft, weil er keinen Mitwisser für sein Tun gebrauchen konnte. Das bedeutete allerdings auch, dass er jetzt selbst einen Führer finden musste, denn der König, so erklärte man ihm, halte sich der Seuche wegen nicht im Palazzo dei Normanni auf, sondern in Catania. Und das befand sich am anderen Ende der verwünschten Insel! Walther hatte die Wahl, einen Fischer zu bezahlen, ihn auf sein Boot zu lassen, oder einen Führer anzuheuern, der ihn durch die Berge brachte, die angeblich noch voller Sarazenen steckten. Das eigentliche Problem lag wohl darin, jemanden zu finden, dem er vertrauen konnte. Bei Menschen, die seine eigene Sprache sprachen, kannte Walther sich aus; war mit den kleinen Zeichen vertraut, die Betonung und Körper dem reinen Wortlaut hinzufügten. Aber die Abart einer Sprache, welche er ohnehin nie in ihren Tiefen ausgelotet hatte, machte ihn hilflos.

Zum Glück ließ ihn aber sein Verstand nicht im Stich. Es gab eine Seuche. Wo wurden Ärzte ausgebildet? Nun, in der Schule, die Palermo am nächsten lag: Salerno. Mit etwas Glück fand er einen Studienkollegen von Judith. Mit einem solchen Verbündeten ließ sich gewiss auch eine sichere Möglichkeit finden, nach Catania zu kommen. Außerdem konnte es nicht schaden, sich mit Arzneien auszurüsten.

Die aragonesischen Ritter, so stellte sich heraus, waren im Königspalast untergebracht, weil ihr Anführer der Bruder der neuen Königin war; so hörte Walther zum ersten Mal, dass Friedrich bereits verheiratet war.

Als er vor den Palastpforten stand, gab es dort keine Wachen – um die Ritter konnte es nicht gut bestellt sein. Stattdessen sah er, wie ein paar vermummte Gestalten Leichen hinaustrugen. Sie verstanden Walthers Frage nach einem Arzt, und so kam er an Wasserbrunnen und Gärten vorbei in den Innenhof, wo auf dem Boden mehr als hundert kranke Männer lagen und stöhnten. Dazwischen knieten oder gingen mehrere Gestalten in Ärzteroben. Einige trugen einen Turban, alle hatten ihr Gesicht verschleiert. Als einer von ihnen Walther erblickte, schrie er ihn an, ohne dass Walther ein Wort verstand.

»Ist hier jemand«, fragte er so laut und so klar wie möglich in der Volgare, »der die Medizin in Salerno studiert hat?« Drei der Männer beachteten ihn nicht, sondern kümmerten sich weiter um die Kranken; zwei schauten auf. »Kennt einer der Herren die Magistra Judith, Tochter von Josef, oder ihren Vater?«

Jetzt kam einer der Ärzte zu ihm herüber. »Wer will das wissen?«, fragte er misstrauisch.

»Ihr Gatte«, entgegnete Walther, weil alles andere zu schwer zu erklären war. Der Mann in dem dunklen Gewand nahm den Schleier, den er sich vor den Mund gebunden hatte, herunter.

»Dann wird sie wohl bald Witwe werden«, sagte er in einem zwar mit starkem Akzent behafteten, aber verständlichen Deutsch, »wenn ihr Gemahl ein solcher Narr ist, mitten in ein Haus voller Sterbender zu laufen.«

»Tun Ärzte das nicht ständig? Das Leben mit ihr hat mich eben beeinflusst«, gab Walther leichthin zurück. »Euer Deutsch ist hervorragend, Magister. Ich habe nicht damit gerechnet, hier Menschen zu begegnen, die meiner Sprache mächtig sind, und so kann ich nicht anders, als in Euch ein gutes Omen für mein Vorhaben zu sehen.«

»Deutsch war bis vor kurzem noch offizielle Hofsprache«, entgegnete der Mann unwirsch. »Es gibt viele, die es beherrschen, aber die meisten tun lieber so, als ob sie nicht dazu in der Lage sind. Eure edlen Herren haben Euch Tedesci nicht beliebter gemacht auf dieser Insel.«

Walther schluckte eine Bemerkung hinunter, obwohl er sich dachte, dass die Leute in Neapel und auf dem Handelsschiff mehr von sizilianischen Räubern, nicht von deutschen gesprochen hatten.

»Geht es Eurer Gemahlin gut?«, fragte der Mann. »Ist sie hier? Wir könnten jemanden mit ihrer Kunst gut gebrauchen. Meine Stärke waren Seuchen nie, ich kenne mich besser mit Augen aus, aber hier ist jeder Arzt gefragt.«

»Leider bin ich allein.« Etwas zupfte an Walthers Erinnerung: Arzt, Augen … »Verzeiht, aber seid Ihr etwa Meir ben Eleasar?«

»Das bin ich«, bestätigte der Mann erstaunt. »Hat sie von mir gesprochen?«

»Sie hat oft Eure Kunstfertigkeit im Starstich gerühmt«, bestätigte Walther und ließ Judiths Äußerung über Meirs anmaßendes, selbstgerechtes Verhalten fort. »Ich muss gestehen, ich bin überrascht, Euch hier vorzufinden. Nachdem wir in Salerno von dem Unglück in Byzanz hörten, fürchtete Eure Familie das Schlimmste.«

Nun wirkte Meir geradezu verlegen. »Einer der Ritter, der mit Diepold von Schweinspeunt befreundet ist und deswegen hier in Sizilien ein Gut besaß, hat mich mitgenommen, als er aus der Stadt floh. Ich, nun, es gab gewisse Umstände … kurzum, ich habe mir hier in Sizilien ein neues Leben aufgebaut.«

»Ohne Eure Familie in Salerno wissen zu lassen, was aus Euch geworden ist?«, konnte Walther nicht umhin, zu fragen.

»Ich hatte meine Gründe«, erwiderte Meir spröde, »die nur mich etwas angehen. Doch bitte ich Euch, meiner Familie nicht zu erzählen, dass Ihr mich hier gefunden habt.«

»Nun, Magister«, sagte Walther gedehnt, »es gibt da einen großen Gefallen, den Ihr mir erweisen könnt …«


Der Freund Diepolds von Schweinspeunt, der Walther mit zwei seiner Knappen begleitete, war nicht gut auf den jungen Friedrich zu sprechen und schimpfte auf dem ganzen Weg nach Catania darüber, wie undankbar es von »dem Zaunkönig« sei, zu verordnen, dass man seine Besitzurkunden der königlichen Kanzlei vorzulegen habe. »Und woraus besteht die königliche Kanzlei, was meint Ihr? Aus seinem alten Lehrer, aus einem Possenreißer von Sänger – nichts für ungut –, ein, zwei Scholaren, die noch nicht einmal Normannen sind, ganz zu schweigen davon, dass sie deutsches Blut in sich hätten, und aus einem Sarazenen. Das schlägt doch dem Fass den Boden aus! Gewiss, die Mauren sind ein Teil der Insel, und man lernt, mit ihnen zu leben. Pferde züchten können sie auch, das muss ich zugeben. Aber das heißt doch nicht, dass man die gleichen Kerle, mit denen wir uns im Heiligen Land um jeden Zoll Bodens streiten, ermächtigen soll, über die Rechtmäßigkeit unserer Besitzansprüche zu urteilen. Unerhört ist das!«

»Wenn Ihr in Byzanz dabei wart, habt Ihr da auch versucht, einen Teil christlichen Besitztums …«

»Das war doch etwas ganz anderes.«

»Natürlich war es das«, stimmte Walther zu und stellte fest, dass es sich fern von Palermo ausgesprochen angenehm durch die Landschaft Siziliens reiten ließ. In seiner Heimat hätte man um diese Jahreszeit mit nasskaltem Regen oder gar Schnee rechnen müssen, hier dagegen war die Luft lieblich mild, und da sie zunächst die Uferstraße an der Küste entlangritten, brauchte er sich wegen der dunkel bewaldeten, unpassierbar erscheinenden Bergkuppen keine Sorgen zu machen. Der Ritter, der seinen Namen trotz seines Geschimpfes bereits von einem deutschen Wilhelm zu einem sizilianischen Gugliemo gemacht hatte, sagte etwas von Sarazenennestern, denen man aus dem Weg gehen müsse, doch irgendwann konnten sie es dann doch nicht mehr vermeiden, sich in das Landesinnere zu wenden. Das zu durchquerende Schilf war manchmal mannshoch; die Palmen, Lorbeerbäume und Myrten, welche folgten, gaben Walther bisweilen das Gefühl, durch den Garten Eden zu reisen. Als ihn Herr Gugliemo auf eine helle Rauchwolke über einer Bergspitze hinwies, fragte er: »Ist das der Ätna?«

»Wir nennen ihn Mongibello. Die Insel ist voller Vulkane. Deswegen gibt es hier auch den stärksten Wein des ganzen Italia: Die Asche sorgt für fruchtbaren Boden, und er ist immer warm.«

Walther hatte von Vulkanen gehört, vor allem in Salerno, denn von Rom kommend, lange vor Neapel, konnte man den Vesuv sehen, aber der hatte nie solche rauchigen Zeichen von sich gegeben oder gar noch Feuer gespuckt. »Habt Ihr schon einmal einen Vulkanausbruch erlebt?«

Herr Gugliemo lachte. »So etwas erlebt man nicht. Entweder man hat Glück und ist weit entfernt, oder man stirbt, Herr Walther.«

»Wie meistens im Leben.«

Einmal machten sie eine Rast, damit jeder sich erleichtern konnte. Statt wie alle anderen an den Straßenrand zu pinkeln, verschwand Gugliemo hinter einem Gebüsch. Einer seiner Knappen grinste und erzählte mit gesenkter Stimme, der Herr wolle verbergen, dass er sich aus Freundschaft zu seinem jüdischen Arzt von diesem hatte beschneiden lassen.

»Also, ich hatte nicht den Eindruck, dass es dem Magister darum zu tun war, das Glied unseres Herrn kürzer zu machen«, antwortete der andere Knappe mit einer Grimasse und schwieg hastig, als Gugliemo sich wieder zu ihnen gesellte. Walther begriff, was es mit Meirs Verlegenheit und seinem Bestehen darauf, dass seine Familie nicht erfahren dürfe, dass er noch am Leben sei, auf sich hatte, und tat sein Möglichstes, um nicht zu lachen. Eines fernen Tages, wenn er mit Judith in Frieden leben und von der Vergangenheit sprechen konnte, ohne alte Wunden aufzureißen, würde er sie necken, ob alle Männer, die ihr Anträge machten, Männer lieben mussten, und ob sie ihn deswegen so lange verschmäht hatte. Eines fernen Tages.


Als das grüne Dunkel des Waldes immer dichter um sie wurde und die Abenddämmerung sich auf den Spitzen der Bäume niederließ, begann Herr Gugliemo, unruhig zu werden. Walther dachte zunächst, das läge daran, dass sie vielleicht noch im Wald übernachten mussten, doch ihm lag anderes am Herzen. »Was ich über den Zaunk– … über den König geredet habe«, beschwor ihn der Ritter, »das bleibt unter uns, Herr Walther.«

»Das versteht sich, Herr Gugliemo. Doch Ihr seht mich überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr dem König eine lange Bleibe auf Sizilien zutraut.« Sein Freund Schweinspeunt tat es offensichtlich nicht.

Herr Gugliemo ließ seine Zügel von einer Hand in die andere gleiten, statt sie mit beiden Händen zu halten. »Er ist ein ungebärdiger Junge, aber es … es ist etwas an ihm. Er spricht hier jedes Kauderwelsch, das sie auf der Insel reden, sogar das Arabische. Es gibt ein paar Geschichten über ihn, nun – Ihr wisst, dass er am zweiten Weihnachtsfeiertag geboren wurde, während sein Vater hier auf der Insel den gesamten Adel umbrachte? Ich habe Knechte, die darauf schwören, dass er deswegen entweder der Antichrist ist oder der König aus den Geschichten, der König, der war, und der König, der sein wird und sein Volk erlöst. Abergläubisches Geschwätz, versteht sich, aber ich will nicht von hier vertrieben werden. Das eine missglückte Abenteuer in Byzanz genügt mir völlig.«

»Euer Geheimnis ist bei mir sicher.«

Eine Weile ritten sie schweigend weiter, dann war es Walther, der sein Pferd zügelte. »Nachtigallen«, flüsterte er begeistert, denn er hatte schon eine ganze Weile keine mehr gehört. Herr Gugliemo machte eine Miene, als wolle er »ja und?« fragen, doch zeigte sich verständig genug, um mit Walther zu lauschen. Es ist eigentlich ein Wunder, dachte Walther, dass ein so kleiner Vogel eine so süße, durchdringende Melodie aus seinem Körper zaubern kann.

Ein hässliches Krächzen ertönte, und der Gesang der Nachtigall verstummte. Walther dachte zunächst, es müsse sich um eine Eule handeln, aber dann sah er im Unterholz zwei Jungen in dem Lederwams und grünem Rock von Knappen stehen. Einer von ihnen hatte den Kopf zurückgelegt und gab noch einmal den misstönenden Laut von sich. Dann sagte er mit einem Grinsen in der Volgare: »Ich habe dir gesagt, dass ich es kann, Taddeo.«

»Was für eine stolze Leistung«, rief Walther ihm verärgert zu, denn er hätte der Nachtigall wirklich gerne weiter zugehört. »Etwas Schönem ein Ende machen, das kann jeder. Lerne erst einmal, selbst ein gutes Lied zu verfassen, dann kannst du etwas, das dir das Recht gibt, eine Nachtigall zu unterbrechen.«

Gugliemo fing an zu husten. Der Junge zog eine Augenbraue hoch. »Ich kann auch Kraniche, Reiher und Gänse nachahmen«, sagte er. »So gut, dass neulich ein Schwarm nahe genug herankam, um nach ihrem Artgenossen zu suchen.«

»Nun, die Gänse kann ich verstehen«, sagte Walther nun mit einem Lächeln. Schließlich würde es andere Nachtigallen geben; außerdem konnte er sich noch gut erinnern, wie er und Markwart in diesem Alter durch ihre heimatlichen Berge gestrolcht waren. »Vielleicht haben sie ihr Leittier vermisst. Heißt es nicht, dass nur das Leittier eines Schwarms den Weg kennt?«

Der Ritter Gugliemo hustete inzwischen so heftig, dass man meinen konnte, er ersticke. Walther fragte sich, ob er ihm auf den Rücken klopfen sollte.

»Das behauptet Aristoteles«, entgegnete der Junge lebhaft, »doch er irrt sich. Ich habe Vogelschwärme beobachtet: Sie wechseln das Leittier, wenn es müde wird, und das wäre unmöglich, wenn es nur einen Führungsvogel gäbe oder wenn nicht alle Vögel wüssten, wohin der Schwarm unterwegs ist.«

Walther hatte Aristoteles nicht gelesen; griechische Philosophen gehörten nicht zu den Autoren, die ihm am Herzen lagen, als er erst einmal Zugang zu Bibliotheken hatte. Aber er wusste, dass Aristoteles nicht irgendein Philosoph war, sondern den meisten Gelehrten als der größte von allen galt, und fand sich wider Willen von der Keckheit des Jungen beeindruckt.

»Du weißt es also besser als Aristoteles, wie?«

»In manchen Dingen«, gab der Junge zurück. »Ich glaube nur, was ich selbst nachweisen kann. Und Ihr?«

»Ich fände es langweilig, nicht auch an Dinge zu glauben, von denen ich nicht die geringste Ahnung habe und die ich nie sehen werde«, sagte Walther, der sich mittlerweile sehr gut unterhielt. »Wie Drachen oder den Stein der Weisen. Oder Tarnkappen, die unsichtbar machen. All das werde ich mit Sicherheit nie zu sehen bekommen, aber in Liedern machen sie sich vorzüglich.«

»So wie sie beschrieben werden, haben Drachen das falsche Verhältnis von Körpergewicht und Flügelspanne, um sich überhaupt in die Lüfte erheben zu können«, sagte der Junge sachlich. »Was Tarnkappen betrifft, denke ich, dass man mit der richtigen Kleidung sehr unauffällig sein kann. Vielleicht gibt es auch Metall, welches das Licht so reflektiert, dass man nichts dahinter sieht, aber noch ist es nicht erfunden worden.«

»Ah, aber wenn es bereits erfunden wäre, dann würdest du es ja weder wissen noch sehen können«, sagte Walther mit einem Augenzwinkern.

Der Junge lachte. Dann sagte er ungeduldig zu Gugliemo: »Um Himmels willen, Mann, hört endlich mit dem Husten auf. Wenn Ihr so weitermacht, dann glaubt meine Königin noch, dass Ihr die Seuche hierher mitgebracht hättet.«

Abrupt verstummte der Ritter. Erst da begriff Walther, dass der Junge in der Abenddämmerung zwar wirkte, als habe er braune Haare, aber wenn man ihn genauer betrachtete, dann lag ein rötlicher Schimmer darauf, und es mochte sehr wohl sein, dass die kurzen Locken im vollen Glanz der Sonne rot waren. Stauferrot.

Zu seiner Verteidigung sagte Walther sich, dass der Junge für sein Alter kleingewachsen war; er hätte ihn eher auf dreizehn als auf bald fünfzehn geschätzt. Außerdem hatte er zwar keine bestimmte Vorstellung von Philipps Neffen gehabt, aber Vogelstimmen nachzuahmen und eine Debatte über die Glaubwürdigkeit von Aristoteles’ Naturkunde vom Zaun zu brechen, gehörte nicht dazu.

»Euer Gnaden«, sagte Gugliemo purpurrot und rutschte vom Pferd, um niederzuknien. Walther und die beiden Knappen taten es ihm nach. Friedrich bedeutete ihnen, sich zu erheben, doch er wartete damit, bis sie tatsächlich alle knieten.

»Ich würde mutmaßen, dass Ihr mir eine Botschaft des Herrn von Schweinspeunt bringt«, sagte Friedrich zu Gugliemo, »zumal er« – mit dem Kinn wies er auf Walther – »ein Deutscher ist, aber seine Boten leiden gewöhnlich an einem großen Mangel an Phantasie und Witz und beginnen sofort damit, mir gegenüber die großen Verdienste ihres Herrn um das Königreich Sizilien zu erläutern, doch das erscheint mir bei diesem Freund der Nachtigallen eher unwahrscheinlich.«

»Wenn Ihr Nachricht über den Herrn von Schweinspeunt sucht«, sagte Walther auf Deutsch, »dann kann ich Euch durchaus eine wichtige bringen.«

»Bis auf den Namen habe ich kein Wort verstanden«, entgegnete Friedrich auf Latein. »Ich spreche kein Deutsch, Herr Nachtigall.« Nach dem, was Meir über Deutsch als Amtssprache in Sizilien gesagt hatte, bezweifelte Walther das, doch es gab keine Möglichkeit, dergleichen laut auszusprechen, ohne den König einen Lügner zu nennen, was Könige keines Alters jemals gerne hörten. Es kam ihm in den Sinn, dass Friedrichs Erfahrung mit Deutschen sich bisher wohl auf Schweinspeunt und dessen Helfershelfer beschränkte, welche die Zeit seiner Minderjährigkeit ausgenutzt hatten, um sich so weit wie möglich an Sizilien zu bereichern. Gewiss, nominell war der Papst sein Vormund gewesen, aber Walther vermutete, dass dieser nie mehr getan hatte, als Lehrer aus Rom zu schicken, die gewiss auch nichts Gutes über die Deutschen erzählten. Schließlich wollte der Papst das Königreich Sizilien und das Reich getrennt halten, und jedem Gefühl von Zugehörigkeit bei Friedrich entgegenzusteuern, wäre in seinem Interesse gelegen.

Das waren keine guten Aussichten. Allmächtiger, dachte Walther. Erst Otto, der in der Normandie und in England aufgewachsen ist, und als einzig andere Möglichkeit ein Junge, der noch nicht einmal die Sprache seiner Untertanen beherrscht. Kann es wirklich eine Wendung zum Besseren geben, ihn statt Otto auf den Thron zu bringen?

Andererseits war der Junge, so weit hatte schon ihr kurzer Wortwechsel klargemacht, alles andere als dumm. Nur zu glauben, was er nachweisen konnte, war für einen Herrscher keine schlechte Einstellung, und was ihm Gugliemo über den Befehl hinsichtlich der Besitzurkunden erzählt hatte, erfüllte Walther mit einer bewundernden Schadenfreude auf Kosten der Ritter. Man würde weitersehen müssen.

Er wiederholte das, was er gesagt hatte, auf Latein und fügte gleich hinzu: »Herr Diepold hat dem neuen Kaiser seinen Lehnseid geleistet und ist im Gegenzug von ihm zum Herzog von Spoleto und Großkapitän von Apulien ernannt worden.«

»Was?«, rief Gugliemo entgeistert auf Deutsch. »Das hättet Ihr mir aber in Palermo auch schon erzählen müssen!«

»Wer hätte gedacht, dass der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches ein Pferdetäuscher ist, der mit Dingen handelt, die ihm nicht gehören«, sagte Friedrich trocken. »Und Ihr, Herr Nachtigall, wer seid Ihr? Was treibt Euch dazu, mir diese Nachricht zu überbringen?«

»Mir gefällt der Name Nachtigall zu sehr, um meine schnöde Wirklichkeit dagegenzusetzen«, entgegnete Walther mit einer schwungvollen Verbeugung. »Es zieht uns Vögel stets in den Süden, da wäre es ein Jammer, dabei nicht dem Herrn Siziliens meine Aufwartung zu machen.«

»Mit anderen Worten, Ihr seid Euch noch nicht sicher, ob Ihr mir die Wahrheit erzählen wollt«, konterte Friedrich. »Nun, für die Nachricht, die Ihr brachtet, habt Ihr auf jeden Fall Obdach für die Nacht verdient. Folgt mir.«


Der König Siziliens lebte in einem kleinen Castello, das den Namen Burg nicht verdient hatte, denn es gab nahezu keine Schutzmauer und noch nicht einmal Türme. Dafür war es in jenem morgenländischen Stil gebaut, den hier so viele Gebäude besaßen, und wirkte wie das Heim eines Patriarchen aus der Bibel, nur dass die jungen Leute, die es bewohnten, ganz und gar nichts mit der Vorstellung zu tun hatten, die sich Walther von Abraham, Isaak und Jakob gemacht hatte. Sie erschienen ihm eher wie Studenten, rührig und stets lebhaft schwatzend. Es gab auch ein paar Frauen, die Königin, von der Friedrich gesprochen hatte, und ihre Mägde. Constanza von Aragon stellte sich als anmutige Dame heraus, die gut zehn Jahre älter als ihr junger Gemahl war, ihm gegenüber aber eine zuneigungsvolle und leicht mütterliche Haltung an den Tag legte. Sie war es, die Walther die nächste Überraschung bereitete, denn natürlich bot er an, zur Unterhaltung am Abend mit ein paar Liedern beizutragen, obwohl die deutsche Sprache, in der sie verfasst waren, den Zuhörerkreis erheblich einschränkte.

»Das ist ein Lied Walthers von der Vogelweide«, sagte die Herrin Constanza erfreut. »Ich schätze ihn sehr.«

Es kostete ihn viel Mühe, doch Walther unterdrückte gerade noch ein Strahlen und beließ es bei einem bloßen Lächeln. »Ihr kennt die Lieder deutscher Minnesänger, Euer Gnaden?«

»Ich war einst Königin von Ungarn«, entgegnete sie, »in meiner ersten Ehe.« Ein Schatten flog über ihr Gesicht, aber ihre Stimme blieb gleichmäßig süß, als sie hinzufügte: »Dort spielte man zahlreiche deutsche Lieder, selbst bevor die Andechs-Meranier kamen. Mein verstorbener Gemahl schätzte vor allem Herrn Reinmar und Herrn Wolfram, doch mir waren ihre Weisen, das muss ich gestehen, bisweilen zu blutleer. Die Troubadoure in meiner Heimat glühen heftiger. Weil ich den Unterschied kenne, erscheint mir Herr Walther heute als der Erste unter den deutschen Sängern.«

»In diesem Fall wird es mir eine Freude sein, noch mehr seiner Lieder für Euch zu spielen, edle Herrin.«

»Herr Gugliemo«, warf der junge König ein, »mag eine Übersetzung für uns Übrige hinzufügen, damit wir etwas mehr von der Darbietung verstehen.« Gugliemo schaute drein, als könne er sich nicht entscheiden, ob er sich geschmeichelt fühlte, mit einbezogen zu werden, oder sich weit fort wünschte, damit sein Freund Schweinspeunt nichts von diesem Ausflug erfuhr und auf den Gedanken kam, sein alter Freund hinterginge ihn. Walther machte ihm das Leben erst einfach, indem er zwei Liebeslieder sang, dann schwerer, als er das Lied von den drei fehlenden Dingen im Reich hinzufügte.

»Das«, erläuterte Gugliemo, »stammt noch aus der Zeit, da es zwei Könige im Reich gab und Krieg herrschte.«

»So ganz anders als der herzerwärmende Frieden und die Gegnerlosigkeit, in der wir heute leben«, bemerkte Friedrich.

»Euer Gnaden«, stammelte Gugliemo, »gewiss wird der Kaiser Sizilien als Euer Lehen bestätigen. Ihr seid immerhin der Vetter seiner Gemahlin.«

»Herr Gugliemo, ich bin ein frommer Sohn. Meine Mutter hat mir in ihrem Letzten Willen Sizilien als ihr Erbe hinterlassen, als normannisches Königtum, nicht als Teil des Heiligen Römischen Reiches. Mich dünkt, Seine Heiligkeit in Rom sieht das genauso. Wie kann ich dem Kaiser da den Lehnseid für ein Königreich leisten, das nicht ihm gehört, sondern mir?«

Gugliemo schaute unglücklich drein und verstummte. Der junge Taddeo, der Friedrich vorhin im Wald begleitet hatte, sagte harsch: »Du magst keine andere Wahl haben, wenn noch mehr von den aragonesischen Rittern sterben. Dann hast du nämlich kein Heer mehr, und Schweinspeunt wird dir gewiss keine Ritter und Kriegsknechte zur Verfügung stellen, wenn er dem Kaiser jetzt schon schöntut.«

»Was meint Ihr, Herr Nachtigall?«, fragte Friedrich unvermittelt. »Habe ich eine Wahl?« Im Schein der großen Feuerstelle waren seine Haare eindeutig rot. Er hatte graublaue Augen mit sehr klar gezeichneten schwarzen Rändern; jetzt, wo die Pupillen geweitet waren, wirkten sie durchdringend. Neben ihm stand eine Schale mit Oliven, in die er hin und wieder griff; die Art, wie er sie sich in den Mund stopfte, war das Einzige, was daran erinnerte, wie jung er noch war.

»Wenn Ihr der Kaiser wäret«, fragte Walther prüfend zurück, »was tätet Ihr dann an seiner Stelle?«

»Mit mir? Oder mit dem Papst?«

Nein, er war eindeutig nicht auf den Kopf gefallen; ein Fechter mit Worten, bei dem sich ein Waffengang lohnte.

»Ist es denn nicht dasselbe?«, erkundigte sich Walther, und die Antwort wurde ihm wichtiger, als er für möglich gehalten hätte.

»Wer maßt sich schon an, eins mit dem Heiligen Vater zu sein? Gewiss nicht ich. Ich habe ein paar seiner Schriften gelesen, und er hat mir denn doch eine gar zu trübselige Einstellung zum menschlichen Körper, um sie teilen zu können. Was nun Herrn Otto betrifft, so hat ihm die Gunst des Heiligen Vaters in den letzten zehn Jahren nicht so viel gebracht wie das plötzliche Ableben meines Onkels Philipp, also kann ich ihm nicht verdenken, wenn er mehr auf die Gewalt von Schwertern als die Macht der Kirche vertraut, wenn es darum geht, das zu bekommen, was er haben will. Und wenn er jetzt schon Großkapitäne für meine Provinzen ernennt, will er offenkundig auch mein Königreich.«

»Der Heilige Vater wird ihn bannen!«, rief Constanza empört. »Er war dein Vormund und muss dein Erbe schützen.«

»Sehr geschützt ist es mir zeit meines Lebens nicht vorgekommen«, sagte Friedrich trocken, dann wandte er sich wieder an Walther. »Ihr habt meine Frage nicht beantwortet, Herr Nachtigall.«

»Ich nehme mein Vorbild bei einem König, Euer Gnaden – Ihr habt die meine nicht wirklich beantwortet.«

»Quid pro quo, meint Ihr? Nun gut. Auf welche Frage wollt Ihr denn eine Antwort haben?«

»Wenn Ihr Kaiser wäret«, sagte Walther und ließ den scherzhaften Ton völlig fahren, »was tätet Ihr dann mit Eurer Herrschaft?«

Auch aus Friedrichs Stimme war die Heiterkeit gänzlich geschwunden, als er sich vorlehnte und entgegnete: »Fiat justitia, ruat caelum.«

Lasst Gerechtigkeit walten, auch wenn der Himmel einstürzt. Worte sind leicht gesprochen, Taten etwas ganz anderes, sagte sich Walther, doch ohne Macht konnte man von dem Jungen auch nicht den Beweis verlangen, und Walther war nur zu vertraut mit der Gewalt von Worten. »Was ist dann Gerechtigkeit?«

»Jetzt enttäuscht Ihr mich, mein Freund. Was bedeutet es, wenn der Himmel einstürzt?, das ist die bessere Frage. Ihr habt mir doch erzählt, dass Ihr an Dinge glaubt, die Ihr nicht nachweisen könnt. Was geschieht also, wenn der Himmel einstürzt? Werden die Sphären unter dem Gewicht der Engel zusammenbrechen und wie Scherben auf die Erde stürzen? Oder wird es wie der Ausbruch eines Vulkans sein, und es wird Feuer auf uns regnen? Manchmal denke ich, es würde sich lohnen, ungerecht zu sein, nur, um das herauszufinden.«

Gugliemo starrte auf den König, gleichzeitig gebannt und zutiefst verstört, und Walther erinnerte sich daran, wie er ihm von dem Gerücht erzählt hatte, der junge Friedrich sei der Antichrist. Ein wenig konnte er es nachvollziehen; er fühlte sich selbst beunruhigt, aber auf eine Weise, die nach mehr verlangte. Auf jeden Fall war unter all den Fürsten, die Walther kennengelernt hatte, seit er in einer Schenke bei Wien den König von England und den Herzog von Österreich übereinander hatte herfallen sehen, Friedrich von Sizilien etwas völlig Neues.

»Und was geschieht mit all den Menschen, über denen der Himmel eingestürzt ist, weil Ihr neugierig wart?«, antwortete Walther. »Ich frage aus bloßem Eigennutz, denn am Ende wäre ich einer von ihnen, dann würde mir das schönste Spektakel eines eingestürzten Himmels nichts mehr nützen.«

»Die Araber«, sagte Friedrich, erneut sachlich geworden, »rechnen nicht mit den gleichen Zahlen, wie wir sie von den Römern übernommen haben. Sie haben eine Zahl, Null genannt, und die Null ist nichts und gleichzeitig alles. Ohne sie stürzt die gesamte arabische Mathematik zusammen. Das, Herr Nachtigall, ist Gerechtigkeit. Justitia, die dem Staat sein Dasein verschafft, nicht umgekehrt; der König ist lex animata in terris, das beseelte, das lebende Gesetz, oder er ist nichts, nur vielleicht etwas erfolgreicher im Rauben als die anderen Räuber. Und nun verratet mir, was für eine Wahl habe ich?«

Als er den Mund öffnete, wusste Walther, dass er seine Entscheidung gefällt hatte. »Die, welche Ihr immer hattet. Ihr seid nicht nur König von Sizilien. Ich war selbst dabei, als eine Versammlung der mächtigsten deutschen Fürsten Euch in Frankfurt zum König der Deutschen wählte, und diese Wahl kam vor der Eures Onkels und der Wahl Kaiser Ottos. Er kann nicht Kaiser sein, wenn er nicht auch rechtmäßig König der Deutschen ist. Stellt er Euren Anspruch auf Sizilien in Frage, dann wäre es wohl an der Zeit, ihn an jene ältere Wahl zu erinnern. Ihn und Euren alten Vormund, den Papst.«

Das Spiel der Nachtigall
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