Kapitel 24
Philipp erhielt die Nachricht, dass der Papst sich für Otto entschieden hatte, zusammen mit den Forderungen Hermanns von Thüringen nach mehr Lehen für einen Wechsel zurück ins Lager der Staufer. Handelte es sich um einen Zufall, oder hatte der Mann bessere Quellen als Philipp und wusste bereits, dass den Staufern nun jeder Verbündete doppelt wertvoll sein musste?
Heinz von Kalden nannte Hermann einen thüringischen Halsabschneider und klang dabei so, als wäre es eine Lobpreisung. »Nordhausen, Mühlhausen, Saalfeld, Orla … das macht das Kraut wirklich fett. Aber keine Sorge: Sein Schwiegersohn war der Dummkopf, der mit der bestätigten Markgrafschaft zufrieden war, und solange Hermann den am Hals hat, kann man damit rechnen, dass er selbst immer wieder eine Suppe hat, die er auslöffeln muss.«
»Macht es dir denn gar nichts aus, dass der Stellvertreter Christi auf Erden mich zu einem Kronendieb erklärt hat, Heinz?«, fragte Philipp, für den der Reichshofmarschall mehr und mehr zu einem Freund geworden war, sosehr sie sich auch unterschieden. »Du weißt doch, was der nächste Schritt sein wird: Er wird mich bannen. Mich und alle, die mir folgen.«
Die Aussicht darauf belastete ihn. Sein Vater war mehrfach gebannt worden; sein Bruder Heinrich war im Bann gestorben, weil er seinen Kreuzzug nicht beenden konnte. Keiner von beiden war glücklich über den Kirchenbann gewesen, doch sie hatten beide die felsenfeste Überzeugung gehabt, im Recht zu sein, und sich kaum die Mühe gemacht, die päpstlichen Begründungen bis zum Ende zu lesen. Philipp dagegen hatte den Bescheid aus Rom hinsichtlich seines Thronanspruchs nur zu genau studiert. Es lag ihm im Magen, dass die Argumente des Papstes nicht aus der Luft gegriffen waren: Er war nicht am rechten Ort und vom rechten Bischof gekrönt worden. Er hatte seinen eigenen Neffen übervorteilt. Gut, der Junge war nicht getauft, gekrönt und gesalbt, seine eigene Mutter hatte für ihn sogar auf die deutsche Krone verzichtet, aber durfte sie das? Noch dazu war Konstanze nun gestorben, und der Papst hatte den kleinen Friedrich kurzerhand zu seinem Mündel erklärt. Und wenn auch Philipp die Mehrheit der weltlichen Fürsten auf sich hatte einschwören können, so war dies Otto mit Hilfe Adolfs bei den Bischöfen gelungen.
Was, flüsterte es in ihm, wenn der Griff nach der Krone wirklich eine Sünde war und du dich und die Deinen zur Hölle verdammt hast?Dergleichen Gedanken konnte er Heinz von Kalden nicht anvertrauen, der darüber gelacht und ihn womöglich als Schwächling gesehen hätte. Aber sie gingen ihm nicht aus dem Kopf. Daher war Philipp nicht in der besten Verfassung, als ihm Walther von der Vogelweide gemeldet wurde. Was der von Köln erzählte, hob seine Stimmung erst recht nicht.
»Herr Walther, lasst mich sehen, ob ich Euch recht verstehe. Ihr seid auf meine Kosten nach Köln und wieder zurück gereist, nur um herauszufinden, was wir schon vorher wussten, nämlich dass die Stadt voller Welfenanhänger steckt?«
Der Sänger presste die Lippen zusammen. Dann sagte er mit sichtlich beherrschter Stimme: »Nein, Euer Gnaden, ich habe herausgefunden, dass die Kaufleute im Moment nicht zum Übertritt bewegt werden können. Aber beim Erzbischof dürfte es möglich sein. Er hat nach wie vor große Schulden. Herr Otto und er sind alles andere als ein Herz und eine Seele, man hat sie laut miteinander streiten hören. Wenn man dem Erzbischof also bei der richtigen Gelegenheit das Gefühl gibt, als einzigartig gewürdigt zu werden, dann sollte es auch möglich sein, ihn zu einem vergoldeten Seitenwechsel zu bewegen.«
»Adolf hasst meine gesamte Familie«, sagte Philipp düster. »Ich bezweifle, dass er seine Meinung ändern wird, nur weil Otto ihn hin und wieder anbrüllt.«
»Nun, Otto misstraut ihm bereits. Das solltet Ihr verstärken.« Walther zögerte, dann brach ein Wortschwall aus ihm heraus, der sich offenbar auf dem Weg von Köln in ihm gestaut hatte. »Warum überfallt Ihr Ortschaften und Städte und lasst zu, dass Menschen sterben, die kaum wissen, warum?« Philipp und Heinz runzelten die Stirn, aber ehe sie etwas sagen konnten, fuhr er fort: »Krieg lässt sich nur mit Geld führen, das ist nicht unbegrenzt verfügbar; Tote lassen sich dagegen durch neue Unschuldige ersetzen. Warum greift Ihr nicht da an, wo es Euren Gegnern wirklich weh tut, beim Geld? Lasst deren Kaufmannszüge überfallen, da, wo sie sich in ihrem eigenen Land noch sicher fühlen. Bezahlt meinetwegen sogar Räuber dafür, setzt Belohnungen für erfolgreiche Überfälle aus, aber wenn schon Krieg, dann doch bitte dort, wo es nur dem eigentlichen Gegner weh tut.« Er sah ihren Unmut, aber einmal wollte er das alles loswerden. Er wusste auch nicht, ob er je wieder Gelegenheit dafür haben würde, und so fuhr er fort: »Ihr könnt auch Zölle erhöhen für Waren aus deren Städten, sogar verbieten, deren Erzeugnisse zu verwenden, hier und bei allen mit Euch verbundenen Fürsten. Ihr könnt Zweifel an dem Silbergehalt ihrer Währung schüren, dass niemand diese mehr tauschen will. Ihr könnt bestimmt sogar Zwietracht zwischen ihnen säen, indem Ihr Briefe von Euch abfangen lasst, die so klingen, als ob Ihr welche bekommen und nun beantwortet hättet. So viel ist möglich, ohne dass dabei Unbewaffnete, Frauen und Kinder umkommen müssen.«
»Glaubt Ihr wirklich, dass Ihr uns beibringen könnt, wie wir Kriege zu führen haben? Was wir tun müssen, damit ein Keil zwischen Adolf und Otto getrieben wird?«, fragte Heinz von Kalden halb belustigt, halb drohend. »Ich habe schon Kriege geführt, als Ihr noch in den Windeln lagt, Bürschchen!«
»Wisst Ihr denn, warum Otto und Bischof Adolf sich heute schon mit Misstrauen begegnen?«, entgegnete Walther, dessen Stimme inzwischen so scharf geworden war, als kanzele er Schuljungen ab. »Das hat keinem Menschen das Leben gekostet.«
»Das habt Ihr bei Eurem Bericht ausgelassen«, sagte Heinz von Kalden. Jegliche Belustigung war aus seinem Gesicht verschwunden. Er sprach selbst gelegentlich mit grober Offenheit zu Philipp, doch er tat es nur, wenn sie alleine waren. »Es ist wohl zu viel zu hoffen, dass Ihr Euer Geld tatsächlich verdient und für dieses Misstrauen gesorgt habt?«
»Otto glaubt, dass seine Eheschließung mit Marie von Brabant durch eine Kölner Ärztin verzögert wurde«, sagte Walther, ohne auf Heinz von Kalden zu achten, die Augen unbeirrt auf Philipp geheftet. Es dauerte einen Moment, dann wusste dieser, von wem die Rede sein musste. Er verstand nur nicht, warum Walther seine Feststellung wie einen Vorwurf aussprach.
»Wisst Ihr, wo die Magistra Jutta sich jetzt befindet?«, fragte Walther drängend, und Philipp entschied, dass der Tonfall nun wirklich zu weit ging. Überdies begann er, sich zu fragen, warum Walther das eigentlich wissen wollte. Soweit ihm bekannt war, gab es keine Verbindung zwischen ihm und Irenes Magistra. Mehr noch, Walther war nie das gewesen, was man einen überzeugten Anhänger des Hauses Hohenstaufen nennen konnte. In einem seiner Lieder hatte er gar von Fürsten gesprochen, deren Kronen als Verzierung ihrer Häupter nur davon ablenken sollte, dass darunter kein Kopf war, auch wenn er offenließ, auf wen das zielte. Der Mann hatte einfach vor nichts Respekt! Und nun war er mit recht vagen Auskünften und äußerst merkwürdigen Vorschlägen aus Köln zurückgekehrt, gerade zu einem Zeitpunkt, an dem das Glück sich gegen die Staufer wandte.
Vielleicht war es gar nicht Walther, der mehr über die Magistra wissen wollte? Vielleicht war es Erzbischof Adolf, vielleicht waren es die Kölner Kaufleute? Vielleicht war Walther auch nur ein gewöhnlicher Spitzel und hatte dieselben Ratschläge in Köln verkauft? Vielleicht kam er sogar von Otto?
»Herr Walther«, sagte er kühl, »Ihr könnt gehen.«
»Aber …«
»Seine Gnaden, der König«, sagte Heinz von Kalden, »hat genug von Euch gehört. Es gibt andere Botschaften, die wichtiger sind, Herr Walther.«
* * *
Irenes Tochter hatte nicht nur eine Amme, sondern auch mehrere Mägde und würde, wenn sie ihre frühe Kindheit überleben sollte, in die Obhut eines verdienten Lehnsmannes und seiner Familie gegeben werden, bis sie heiratsfähig wurde. So war es für die Töchter von Herrschern üblich, das wusste Irene sehr gut. Aber obwohl sie sich sagte, dass Beatrix sie nicht brauchte, verbrachte sie trotzdem so viel Zeit wie möglich mit der Kleinen. Ihre Mutter hatte ihr eingeschärft, ihr Herz nie an Kinder zu hängen, ehe sie nicht mindestens drei Jahre alt waren; erst dann konnte man vergleichsweise sicher sein, dass sie nicht wie so viele Säuglinge sterben würden. Aber Beatrix war ihre Tochter, ein Stück von ihr selbst. Gegen ihre Erwartung hatte Irene Gefallen an ihrer Ehe mit Philipp gefunden, doch so etwas wie die Liebe, die sie gepackt hatte, als sie Beatrix zum ersten Mal in den Armen hielt, dieses Gefühl, das wie ein Gebirgsbach im Frühjahr alles andere überschwemmte und fortriss, so etwas hatte sie noch nie erlebt. Sie konnte das Einatmen und Ausatmen des Mädchens spüren, als wäre es ihr eigener Körper.
»Ihr Sänger irrt euch«, sagte sie zu Walther von der Vogelweide, als er ihr gemeldet wurde und sie bei ihrer Tochter fand. »Die Liebe zwischen Mann und Frau ist nichts im Vergleich zu der zwischen Eltern und Kindern.«
»Und doch gibt es Eltern, die ihre Kinder aussetzen«, sagte er, »und Kinder, die ihre Eltern verlassen und nie zurückblicken.«
Es war wohl eine allgemeine Beobachtung und Bemerkung, doch Irene fühlte sich dadurch getroffen. Mit so ungeschickten Worten war er noch nie bei ihr eingetreten. Sie dachte an ihren Vater, der nun schon seit Jahren blind in der Gefangenschaft ihres Onkels dahinvegetierte. Vielleicht hoffte er verzweifelt darauf, dass sie seine Rettung in die Wege leitete? Gewiss, sie hatte ihn in ihrer Kindheit selten gesehen, doch auch Beatrix würde wohl eines Tages mehr Erinnerungen an ihre Amme und die Mägde als an ihre Eltern haben, aber jetzt, da Irene selbst Mutter war, bezweifelte sie nicht mehr, dass ihr Vater sie liebte.
Der unbetrauerte Schwager Heinrich hatte Pläne gehabt, ihre byzantinische Herkunft für seine Zwecke zu benutzen. Vielleicht ließen sich diese beleben? Philipp war bereits König. Er würde auch Kaiser werden, Otto hin, Otto her; für den deutschen König und weströmischen Kaiser musste es möglich sein, ihrem Vater und ihrem Bruder zu helfen. Bischof Wolfger hatte sich seinerzeit bereit erklärt, einen Brief für sie zu überbringen, und wohl nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit. Was ihm damals nützlich schien, mochte auch jetzt noch als hilfreich gelten. Auch ein verspäteter Brief sollte ihrem Vater helfen können.
So sehr war Irene in Gedanken bei ihrem Vater, dass ihr fast Walthers Frage entgangen wäre. Er wiederholte sie; erst jetzt fiel ihr auf, dass der Sänger angespannt dreinblickte.
»Die Magistra? Natürlich weiß ich, wo sie ist«, sagte sie. »Aber ganz ehrlich, Herr Walther, es ist nicht so, dass Ihr ein Recht darauf habt, das ebenfalls zu wissen. Wenn Ihr um sie fürchtet oder sie alleine wähnt, das braucht Ihr nicht. Ihr Gatte ist an ihrer Seite, und er versteht, ein Schwert zu führen.«
»Euer Gnaden«, sagte Walther mit gepresster Stimme, »ich habe Grund zu der Annahme, dass diese Ehe nicht freiwillig eingegangen wurde. Das lässt mich …«
Irene lachte und schüttelte den Kopf. Sie mochte den Sänger, doch das hieß nicht, dass sie ihm vertraute, und sie würde ihm ganz gewiss nicht verraten, wo die Magistra steckte. »Oh, macht nicht so ein Gesicht!«, schalt sie. »Ihr seid ein erwachsener Mann. Wir wissen alle, dass Lieder nicht die Wirklichkeit sind. Wie viele Frauen gibt es denn auf der Welt, die sich ihren Gatten selbst wählen konnten? Ich kenne keine einzige. Doch glaubt mir, ich habe die Magistra und ihren Gatten zusammen gesehen. Sie hat ihn aufrichtig gerne, und er sie. Das ist mehr, als die meisten von sich sagen können. Ihr solltet Euch schämen, ihr das nicht zu gönnen.«
Es entging ihr nicht, dass er zusammenzuckte. Trotzdem gab er nicht auf. »Euer Gnaden, darum geht es nicht. Ich mache mir Sorgen um sie, weil ich glaube, dass sie sich in Gefahr befindet. Ich habe Dinge in Köln gehört, die …«
Genug war genug: Jemand musste Herrn Walther seine Grenzen zeigen. Es war schön und gut, Verse auf jemanden zu schreiben, doch ernsthaft eine Ehe zu gefährden, ging entschieden zu weit. Irene konnte sich noch gut erinnern, wie angespannt und aufgebracht Judith meist in der Nähe Walthers gewesen war und wie gelassen und vertrauensvoll sie dagegen mit Gilles umging. Wenn der Sänger glaubte, er könne sie benutzen, um seinen eifersüchtigen Hirngespinsten zu folgen, dann hatte er sich geirrt.
»Ihr werdet die Magistra in Ruhe lassen«, befahl Irene streng. »Ich wünsche nicht, noch Weiteres von Euch über sie zu hören. Wenn Ihr meinen Wünschen nicht folgen könnt, Herr Walther, dann seid Ihr nicht länger willkommen bei mir.«
* * *
Wenn es nach Walther gegangen wäre, dann hätte er Philipp samt seiner Gemahlin frohen Herzens im Rhein ertränkt. Dabei war der Mangel an Dankbarkeit noch das wenigste. Er hatte jetzt mit Rittern, Grafen, Herzögen, ja Königen genauso gelebt wie mit Priestern, Äbten und Bischöfen. Er hatte selbst den Papst sein Credo verkünden hören, wo er sich in dieser Reihe sah. Hatte keiner von ihnen Gottes Gebot Liebe deinen Nächsten je gehört, je verstanden? Warum war er Luft, wenn es diesen Menschen gefiel? Er hätte genauso ein Wandleuchter sein können, so unbedeutend musste er ihnen vorkommen. Dabei hatte er bereits bewiesen, dass er sehr wohl am Rad der Geschichte drehen konnte. Was wäre also so schwer daran, ihn in aller Ruhe anzuhören? Ihm gegenüber Vorbehalte gegen seine Überlegungen zu artikulieren und mit ihm darüber zu diskutieren? Und warum konnten sie ihm nicht einfach sagen, wo sich Judith befand, wenn es ihr doch so wunderbar erging?
»Ich verstehe nicht, warum du dich so aufregst«, sagte Markwart. »Entweder sind diese Fürstin und ihr Gemahl vertrauenswürdig, oder sie sind es nicht. Wenn sie es nicht sind, dann solltest du ihnen nicht weiter helfen. Wenn sie es sind, dann gibt es für dich keinen Grund mehr, etwas zu befürchten, wenn sie sagen, dass es deinem Mädchen gutgeht, oder?«
»Sie ist nicht mein Mädchen«, entgegnete Walther unwirsch. Markwarts Art und Weise, die Dinge zu sehen, war erfrischend einfach und beneidenswert. Es wäre schön, wenn er recht hatte, doch Walther bezweifelte es.
»Genau«, sagte Markwart, »außer, dass du sie so siehst. Und das ist es doch, was dir wirklich im Magen liegt. Gib es zu.«
»Zum Teil«, räumte Walther ein. »Aber glaub mir, das ist nicht der Grund, warum ich sie finden will. Wenn es einen rachsüchtigen Fürsten gibt, dann ist das Otto. Dann sollte niemand, und schon gar keine«, Jüdin, wollte er sagen, doch er schluckte das Wort hinunter, »Frau sich irgendwo befinden, wo dieser Mann Hand an sie legen kann. Schau, Markwart, wenn sie hier wäre, an diesem Hof, dann würde ich nichts weiter sagen.«
»Das würdest du doch. Ich kenne dich. Du hast es noch nie fertiggebracht, still zu sein, wenn du etwas haben wolltest.«
Walther kam nicht dazu, diese maßlose Übertreibung zu berichtigen, weil er schnelle Schritte hörte. Er drehte sich um und stand Judiths ehemaliger Magd Lucia gegenüber. War sie vorhin in der königlichen Kinderstube gewesen?
»Herr Walther«, sagte sie auf Deutsch, das sie mittlerweile fließend sprach. »Die Magistra ist in Gefahr, habt Ihr gesagt?« Er nickte. Lucia biss sich auf die Lippen. »Ich – ich schulde ihr viel«, sagte sie. »Sie hat mir in Salerno geholfen und ich – ich glaube, sie denkt, ich bin undankbar. Was für eine Gefahr?«
Damit er nicht wieder verdächtigt wurde, nur den heiligen Gilles zu beneiden, verzichtete Walther diesmal auf Spekulationen über den Grund von Judiths Eheschließung und sagte nur, er habe in Köln böse Worte über sie von einem Fürsten gehört, dem die Magistra auf gar keinen Fall in die Finger geraten dürfe.
»Die Herrin war sehr froh, als die Magistra zurückkam aus Brüssel, auch wenn sie nicht lange bleiben wollte und sagte, sie brauche viele Patienten oder eine Aufgabe. Gut, hat da die Herrin geantwortet, eine Stadt und eine Aufgabe: Braunschweig.«
Zuerst dachte Walther, er müsse sich verhört haben. »Braunschweig?«, wiederholte er bestürzt. Seine Stimme klang heiser.
»Liegt das nicht irgendwo im Norden?«, fragte Markwart.
»Es ist das Herz der Welfen«, sagte Walther. »Der Pfalzgraf Heinrich residiert dort, Ottos älterer Bruder.«
Nimm dich zusammen, befahl er sich. Er hatte sich selbst lang und breit bei Philipp über brüderliche Rivalitäten ausgelassen und darüber, dass der Pfalzgraf eigentlich vor Groll seinem jüngeren Bruder gegenüber bersten musste. War es wirklich so überraschend, dass Philipp oder Irene nun jemanden geschickt hatten, um in diesem Hornissennest herumzustochern? Dass sie jemanden geschickt hatten, der bereits sehr erfolgreich einen anderen Auftrag gegen Otto erledigt hatte?
Otto ist in Köln, sagte er sich, nicht in Braunschweig, und es ist nicht so, als ob er sonst keine Sorgen hätte, als überall im Reich nach einer Ärztin suchen zu lassen. Ganz bestimmt erwartet er sie bei seinem eigenen Bruder am allerwenigsten.
»Wie lange ist das her, Lucia?«, fragte er trotzdem. Die Magd runzelte die Stirn, zählte an den Fingern ab und kam zu der Schlussfolgerung, dass es sechs Monate sein mussten.
Es war sehr gut möglich, dass er sich mit einer Reise nach Braunschweig nur lächerlich machen würde. Dass er Judith gesund, munter und frei vorfand und binnen einer Viertelstunde in einen Streit mit ihr verwickelt sein würde. Gut, dann würde er eben die Reise als Möglichkeit betrachten, einmal für den Pfalzgrafen von Braunschweig gesungen zu haben. Denn wenn er hierblieb und für die Staufer weiter die Laute zupfte, während Judith niemanden hatte, der bereit war, alles für ihre Sicherheit zu tun, dann war das unendlich schlimmer als die Verlegenheit, überflüssigerweise den Retter spielen zu wollen.
Markwart warf ihm einen Blick zu und seufzte. »Wir bleiben nicht lange hier, nicht wahr?«
»Nein.«
Walther wusste, dass er bisher sehr viel Glück gehabt hatte, immer erst nach einem Kampf oder einem Überfall am Ort des Geschehens eingetroffen zu sein. Damit konnte er nicht ewig rechnen. Zum Glück brauchte er nicht lange, um jemanden zu finden, der bald nach Norden reisen würde, ohne das bisher zu ahnen.
Botho, ein Dienstmann von Philipps Kanzler, verriet, dass jener Konrad von Querfurt über die Entscheidung des Papstes für Otto noch unglücklicher war als der Rest von Philipps Anhängern: »Das Bistum von Würzburg sollte das seine sein, aber der Papst hat es noch nicht bestätigt«, sagte der Mann. »Jetzt wird er Würzburg bestimmt nicht bekommen, als Philipps Mann. Dabei hat er doch mit dem Papst zusammen in Paris studiert! Eine Schande ist das, die ihm die Seele bluten lässt.« »Er brauchte eben nichtstaufische Fürsprecher beim Heiligen Stuhl«, meinte Walther und schenkte Wein nach.
»Wem sagt Ihr das! Aber die sind in solchen Zeiten kaum zu finden.«
»Der Pfalzgraf Heinrich«, sagte Walther gelassen, »soll eine großzügige Seele sein. War er nicht einst für kurze Zeit Geisel am Hof Eures Herrn, ehe sein Vater Frieden mit den Staufern schloss?« Botho schaute verblüfft drein, was kein Wunder war, denn Walther hatte diese Kleinigkeit selbst am Nachmittag erst herausgefunden, als er sich umhörte, ob der Pfalzgraf – außer seiner Heirat mit Philipps Base Agnes – je in Verbindung mit den Staufern und ihren Leuten gestanden hatte. »Euer Herr war gewiss ein freundlicher Gastgeber. Wie könnte er etwas anderes gewesen sein?«
»Gewiss, nur …«
»Und hegte der Pfalzgraf Groll gegen alle Stauferanhänger, dann würde er das rheinische Erbe seiner Frau nicht verwalten können. Dabei ist er der Bruder des Mannes, den der Papst gerade zum gottgewollten König erklärt hat. Wirklich, einen besseren Fürsprecher kann sich Euer Herr beim Stellvertreter Christi nicht wünschen!«
Zwei Tage später war unter der Führung Bothos ein kleiner von Kriegsknechten bewachter Tross aus Dienstleuten des gewählten, aber nicht bestätigten Bischofs von Würzburg in Richtung Braunschweig unterwegs, dem sich Walther anschloss. Markwart fragte etwas säuerlich, ob er ihm nicht zugetraut hätte, allein mit Wegelagerern fertig zu werden.
»Besser zu vorsichtig als tot. Außerdem fragt uns auf diese Weise niemand an den Braunschweiger Stadtmauern, was wir in der Stadt eigentlich wollen. Mich als Philipps Sänger vorzustellen, könnte unserer Gesundheit schlecht bekommen.«
Markwart bat die Kriegsknechte jedes Mal, wenn sie eine Pause machten oder zur Nacht abstiegen, ihn mit stumpfen Waffen üben zu lassen, und er machte erkennbare Fortschritte auf der langen Reise. Es kam Walther in den Sinn, das Gleiche zu tun, doch er hielt es für sinnlos: Er würde nie gut genug mit Spieß, Schwert oder Keule umgehen können, um sich mit einem Ritter, Kriegsknecht oder Räuber zu messen. Sein Verstand würde ihm helfen müssen, erst gar nicht in solche Situationen zu kommen. Also unterhielt er ihre Begleiter stattdessen mit dem deftigen Lied eines Sängers, das man bei Hofe nicht spielen durfte, bei diesen rauhen Gesellen aber sehr beliebt war:
Ungern schien sie’s zu ertragen,
Mir doch war’s ein Wohlbehangen:
Räuber – fing sie an zu klagen,
Wie nur konntest du es wagen.
Bitte, tu’s nicht weitersagen,
Weil ich Sorge hege.
Mein Vater und die Brüder wachen,
Arg strenge über solche Sachen,
Hätte wahrlich nichts zu lachen,
Selbst Mutter würde schnell zum Drachen,
Mir die Hölle heißzumachen,
Und es gäbe Schläge.
Kaum hatten sie die Grenze des westlichen Sachsen passiert, erwies sich, dass Walther die richtige Entscheidung getroffen hatte, nicht alleine loszuziehen. Es waren keine Räuber oder Männer der Welfen, sondern Leute des Herzogs von Sachsen, dem es ganz und gar nicht gefiel, inmitten seines Herzogtums noch welfische Besitzungen zu haben. Daher verlangte er doppelt hohe Zölle von allen, die nach Braunschweig wollten. Alleine hätte Walther keine andere Wahl gehabt, als für sich und Markwart zu zahlen; die Männer des Bischofs von Würzburg hatten indes nicht die geringste Absicht, es zu tun. Botho teilte mit dem Reichsmarschall Heinz von Kalden – dessen Verwandtschaft mit ihm er stets betonte – den Hang zur Gewalt. Es kam zu einem Kampf, irgendwo zwischen einer Schenkenkeilerei und einem kleinen Gemetzel angesiedelt. Am Ende war ein Mann tot, aber die Leute des Bischofs mussten nur den gewöhnlichen Zoll zahlen.
»Donnerwetter«, sagte Markwart. »Das lässt einen doch ganz anders über deinen Vater denken.« Sein Versuch, sich gelassen zu geben, erstickte in einem gequälten Grinsen.
Walthers Vater hatte für den Grafen von Tirol Zoll erhoben, und er fragte sich, ob es mittlerweile auch im Herzogtum Bayern Sitte war, die Zöllner zu erschlagen, die aus Sicht von gut gerüsteten Reisenden zu viel forderten. Doch nein, nicht in Bayern. Das Herzogtum war schon immer sehr ruhig und sicher. Dort würde es keine Unruhen geben.
Braunschweig war von dem verstorbenen Heinrich dem Löwen zu einer großen Stadt mit einer würdigen Residenz gemacht worden, wo – ähnlich wie in Wien – etwa zehntausend Menschen wohnten. Zu Walthers Erleichterung fragte bei den Stadttoren niemand nach ihm oder Markwart, sondern hörte sich nur die Erklärung des Dienstmannes Botho über eine Botschaft vom Bischof von Würzburg an den Pfalzgrafen an.
»Ihr meint den Kanzler des Herzogs von Schwaben, wie?«, fragte einer der Wächter.
»Ich meine den Kanzler des verstorbenen Kaisers des Heiligen Römischen Reiches«, sagte Botho nachdrücklich, »und dem gewählten Bischof von Würzburg, den langjährige Gastfreundschaft mit dem Pfalzgrafen verbindet.« So kann man eine Zeit als Geisel auch darstellen, dachte Walther. Doch wie er gehofft hatte, wurde die Gesandtschaft durchgelassen.
Es war nicht zu übersehen, dass die Straßen voller Kriegsknechte waren, von denen viele das Wappen der Welfen so trugen, dass man sie nicht mit der Stadtwache verwechseln konnte. »Ich hätte nicht gedacht, dass der Pfalzgraf so viele Männer unter seinem Befehl hat«, sagte Walther zu Botho, der nur etwas vor sich hin murmelte und nicht antwortete. Dafür sagte Markwart, als sie wieder nebeneinander gingen: »Ich glaube nicht, dass die meisten von denen Sachsen sind. So, wie die durch die Stadt stapfen, gehört sie ihnen nicht. Außerdem habe ich gerade einen von ihnen einen Bauern anbrüllen hören, er solle mit seinem Apfelkarren aus dem Weg gehen, und wenn der mit der deutschen Sprache aufgewachsen ist, beiß ich mir in den Hintern.«
»Der Pfalzgraf ist wie sein Bruder Otto bei König Richard aufgewachsen«, sagte Walther unruhig. »Vielleicht stellt der neue englische König ihm bereits Kriegsknechte zur Verfügung.« Was ihm mehr als das im Magen lag, war die Möglichkeit, dass es sich gar nicht um Leute unter dem Befehl des Pfalzgrafen handelte, sondern um Ottos Mannen. »Wenn wir in der Burg sind«, sagte er zu Markwart, »dann geh in die Küche, sag, du hast Hunger …«
»Ich habe Hunger!«
»… und frag, ob auch Männer König Ottos in der Stadt sind.«
»Und nach deinem Mädchen soll ich nicht fragen?«
»Sie ist nicht mein Mädchen, und nein, lass mich das machen. Wenn es ihr gutgeht, dann will ich sie nicht in Gefahr bringen.«
»Wie willst du das dann bitte herausfinden?«
»Markwart«, sagte Walther mit einem schwachen Lächeln, »ich werde der Pfalzgräfin meine Aufwartung machen und darum bitten, für sie singen zu dürfen. Und dann werde ich ganz, ganz dringend einen Arzt brauchen.«
Leider teilte die Pfalzgräfin Agnes die Vorliebe ihrer Familie für den Gesang ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Sie ließ Walther mitteilen, nicht das geringste Bedürfnis zu haben, von einem Spielmann unterhalten zu werden; dergleichen eitler Zeitvertreib sei nichts für sie. Sie und ihre Damen hörten gerade eine Bußpredigt des großen Bernard von Clairvaux, übersetzt und vorgetragen von einem ehrwürdigen Bruder der Zisterzienser, und daher waren sie ganz und gar nicht zu sprechen für fahrende Sänger, gleich welchen Standes.
»Ich kann auch Klagelieder vortragen, über die Schlechtigkeit der Welt und den Zustand der menschlichen Seele«, sagte Walther.
»Seid Ihr geistlichen Standes?«, fragte der Haushofmeister.
»Nein, aber …«
»Dann will die Pfalzgräfin auch nicht hören, was Ihr über die menschliche Seele zu sagen habt.«
Nun gut, dachte Walther. Dann war es eben an der Zeit, seinen Plan etwas anders voranzutreiben. »Auch der Zustand des menschlichen Körpers kümmert mich. Ich leide gerade unter einem starken Magengrimmen. Wenn die Pfalzgräfin mich nicht sehen will, könnt Ihr mir vielleicht einen Arzt weisen?«
»Nun, wir haben zwei, drei Bader in der Stadt«, begann der Haushofmeister. Walthers Herz sank. »Und dann gibt es auch noch die Magistra aus Salerno. Aber die hat gerade wohl kaum Zeit, sich um Euch zu kümmern. Also solltet Ihr lieber zum Bader gehen.«
»Eine Frau aus Salerno, wirklich? Das klingt doch sehr gut. Wo finde ich sie?«
»Derzeit? Nun, wenn ich raten müsste, würde ich sagen, um Gnade winselnd bei jedem, der sie anhören will. Der Pfalzgraf hat strikte Anweisung gegeben, sie nicht mehr vorzulassen.«
Er hätte doch mit Markwart und den Kriegsknechten üben sollen. Selbst eine miserabel geführte Klinge wäre jetzt bestimmt hilfreich gewesen. »Wo ist sie?«
Der Haushofmeister sah ihn überrascht an, nannte ihm dann aber eine Straße, wo die Magistra ein Haus mit einem jüdischen Rabbi und seiner Familie teile: »Und das sagt doch schon alles. Warum die Pfalzgräfin ihr so lange ihre Gunst geschenkt hat, war mir immer schleierhaft, noch ehe jene unglückliche Wahrheit an den Tag getreten ist, die alle ehrbaren Menschen zum Erröten bringt.« Seinem Blick war deutlich anzumerken, dass er Walther nicht dazu zählte, aber der hörte ihm schon nicht mehr zu. Er eilte in die Küche, um sich Markwart als Verstärkung zu holen.
»Walther, du hattest recht, das sind Ottos Leute. Wie es scheint, will er, dass sein Bruder ihm Braunschweig überlässt, und …«
»Erzähl mir das später. Markwart, wir müssen uns beeilen!«
In einer fremden Stadt den Weg zu einer bestimmten Straße zu finden, war nie ein Vergnügen, schon gar nicht, wenn einem die Gewissheit unter den Nägeln brannte, keine Zeit verlieren zu dürfen. Schließlich geschah das Unvermeidliche: Walther rannte geradewegs in zwei Kriegsknechte, die ihn sofort mit deutlichem Akzent anfuhren.
»Mein Fr– … mein Herr ist ein Ritter«, versuchte Markwart, ihn zu unterstützen. »Tretet aus dem Weg, wir haben es eilig.«
»Ein Ritter, wie? Jeder reiche Bauer, der ein Schwert bezahlen kann, nennt sich heute so«, sagte der Bewaffnete, der das bessere Deutsch sprach.
Walther entschied, dass dies nicht die Stunde war, um auf seinen Rang zu bestehen. »Mir geht es sehr schlecht, ich muss die Ärztin finden, die hier in der Gegend leben soll.«
»Müsst Ihr das? Wirklich?« Zu Walthers Unglück schien der Mann Streit zu suchen. »Ich kann Euch auch helfen. Ich kann Euch für immer von allen Sorgen heilen.«
»Immer mit der Ruhe«, sagte Markwart beschwichtigend, während Walther mit den Achseln zuckte und versuchte, um die Kriegsknechte herumzugehen.
»He, ich rede mit dir, Ritter!«
»Nein, Ihr brüllt, und ich höre nicht zu«, sagte Walther, ehe er es sich versah. Aus den Augenwinkeln sah er etwas und hörte Markwart rufen, doch die Warnung kam zu spät. Walther spürte einen jähen Schmerz am Hinterkopf, schmeckte Blut und stürzte zu Boden. Dann wurde es schwarz um ihn.
Das Erste, was ihm bewusst wurde, als er die Augen wieder öffnete, war, dass einige Zeit vergangen sein musste, denn es war nicht mehr hell, sondern dämmrig. Dann merkte er, dass er sich nicht mehr auf der Straße, sondern im Inneren eines Hauses befand. Außerdem fühlte sich sein Gesicht an Stirn und Kinn feucht an; jemand hatte seinen Kopf mit einem nassen, kühlen Tuch umwickelt.
»Walther«, sagte eine wohlvertraute Stimme, »was um alles in der Welt tut Ihr in Braunschweig?«
Sie beugte sich über ihn. Unter ihrer Haube drängten sich ein paar Locken hervor, so rot wie an dem Tag, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Ihr Gesicht war unverändert, vielleicht etwas schmaler, als habe sie Gewicht verloren. In ihren braunen Augen lag etwas, das er nicht deuten konnte: Erleichterung? Überraschung? Zufriedenheit? Zorn?
»Ich wollte Euch retten«, sagte er ohne Umschreibung, ohne Scherze und mit der Ehrlichkeit, die er sich ihr gegenüber vorgenommen hatte.
»Mich? Aber ich brauche keine Hilfe«, erwiderte sie, nicht aufgebracht oder beleidigt, sondern aufrichtig verblüfft. »Trotzdem bin ich froh, dass Ihr da seid, Walther. Mein Gatte ist in tödlicher Gefahr. Und wenn Ihr jemanden retten wollt, dann bitte ihn!«