»Ich bin Polygamistin, was meine Romanfiguren betrifft«
Ein Gespräch mit Tanja Kinkel zu ihrem neuen Roman »Das Spiel der Nachtigall«
Das Mittelalter gilt als beliebteste Epoche bei den Lesern von historischen Romanen – trotzdem haben Sie seit Ihrem zweiten Roman »Die Löwin von Aquitanien« keine Ihrer Geschichten dort angesiedelt. Warum?
Tanja Kinkel: Bei meiner schriftstellerischen Reise durch die Zeiten suche ich mir immer gerne ein anderes Ziel, denn ich möchte mich nicht wiederholen. Also kehre ich erst dann in eine Epoche zurück, wenn ich weiß, dass ich eine Geschichte erzählen kann, die ich so noch nicht geschrieben habe und die der ebenfalls in dieser Epoche angesiedelten von mir nicht gleicht. Außerdem muss es eine Geschichte sein, die meinen Verstand und mein Herz bewegt, von Menschen erzählt, die Spuren hinterlassen haben, eine Idee, die mir so auf den Nägeln brennt, dass sie geteilt werden muss, nicht ein lauwarmer Versuch, sich an einen Trend anzuhängen. Deswegen hat es fast zwanzig Jahre gedauert, bis ich ins Hochmittelalter zurückgekehrt bin.
Wie lange haben Sie für diesen Roman recherchiert?
Tanja Kinkel: Ich brauche für einen Roman im Durchschnitt etwa zwei Jahre, anderthalb davon für die Recherche. Im Fall von »Das Spiel der Nachtigall« war es zwar so, dass ich mich in der Zeit bereits auskannte, aber zu wissen, was sich bei den Plantagenets tat – der Familie, der unter anderem Richard Löwenherz entstammt –, hat mir nur ein wenig bei den Staufern und Welfen geholfen, und überhaupt nicht, was das Leben Walther von der Vogelweides und einer fiktiven Ärztin betraf, um die es in meinem neuen Roman geht. Da hilft nur die harte Tour: Staatsbibliothek, Unibibliothek, Antiquariate und Online-Buchhandel, um mir einen Überblick über das Wissen zu dieser Zeit, zu diesem Personenkreis zu verschaffen. Um einen möglichst objektiven Zugang zu finden, ist es außerdem wichtig, unterschiedliche Quellen aus verschiedenen Zeiten über den Hintergrund der Autoren dieser Bücher zu finden, um deren Ansichten im Kontext ihrer Zeit zu verstehen und mit den heutigen vergleichen zu können. Pro Roman landen so deutlich über einhundert Bücher für die Recherche auf meinem Schreibtisch, viele davon auch auf Englisch oder, wenn es sein muss, Französisch, und mindestens die gleiche Zahl lese ich extern, manche davon vor Ort in Universitätsbibliotheken, bei der British Library oder bei Stiftungen.
Haben Sie die realen Orte, an denen Sie die Handlung ansiedeln – beispielsweise Salerno – alle besucht?
Tanja Kinkel:Wien, Salerno, Sizilien und die meisten deutschen Handlungsorte meines Buches habe ich besucht, wobei vieles von dem, was in meinem Roman eine Rolle spielt, so heute nicht mehr existiert. Die Kaiserpfalz in Hagenau beispielsweise, eine der Lieblingsresidenzen der Staufer, wurde unter Ludwig XIV. dem Erdboden gleichgemacht.
Sie haben es bereits erwähnt: In den Mittelpunkt Ihres Mittelalterepos »Das Spiel der Nachtigall« stellen Sie einen der bekanntesten deutschen Dichter, über den man – abgesehen von seinem Werk – kaum etwas weiß. Was hat Sie an Walther von der Vogelweide gereizt?
Tanja Kinkel: Bei den meisten anderen Dichtern seiner Epoche kann man sich aufgrund ihres Werkes kein Bild von ihrer Persönlichkeit machen. Den »Armen Heinrich« zu lesen, verrät unsereins absolut nichts über den Verfasser Hartmann von Aue. Aber in Walthers Liedern sticht sein Charakter hervor, und es ist einer, der uns modernen Autoren sehr vertraut ist – er kämpft um die Anerkennung bei seinem Publikum und ist offen streitlustig, sowohl wenn es um Politik und den Glauben, als auch wenn es um literarische Themen geht. Walther fand sich kaum mit Vorgaben ab: Die Regeln des Minnesanges forderten damals eindeutig Keuschheit – er aber pochte stets darauf, dass die erwiderte und somit sexuelle Liebe der unerwiderten überlegen war. Er wechselte mehrfach die Partei, was die diversen Thronanwärter betraf, und ironisierte in seinen Liedern trotzdem häufig das Prinzip »Wes Brot ich ess, des Lied ich sing«. Lediglich in seiner Abneigung gegen Innozenz III. blieb er stets unbeirrt und verurteilte ihn öffentlich dafür, die Diktatur der Fürsten nur durch eine Diktatur der Kirche ersetzen zu wollen und Nächstenliebe für Andersdenkende nicht einmal buchstabieren zu können.
Und das im Mittelalter? Solche Gedanken müssen damals doch deutlich gefährlicher gewesen sein als heute.
Tanja Kinkel: Ihre Frage ist berechtigt, denn schon weit weniger offene Worte haben Menschen wie Walther das Leben gekosten. Ein Wunder, dass er sechzig Jahre überlebt hat. Trotz dieses starken Egos blitzt in seinen Texten aber hin und wieder auch eine unerwartete Demut auf. Das alles machte ihn als Person reizvoll, war aber noch keine Romanidee. Ich stellte mir also die Frage: Wie hat Walther es geschafft, all dies zu sagen, ohne die Zunge oder den ganzen Kopf zu verlieren? Dann zündete es bei mir: Ich wollte einen modernen Schelmenroman erzählen – und nicht nur Walthers Geschichte. Von diesem Moment an war mir klar, dass ich ihm einen weiblichen Gegenpart geben würde und dass alle beide zu keinem Zeitpunkt des Romans mit dem Schwert hantieren würden, sondern sich allein durch ihren Verstand durch eine der gefährlichsten Zeiten der deutschen Geschichte bewegen und agieren sollten, lange bevor dies weniger talentierten Männern oder gar niedrig geborenen Frauen normalerweise möglich war.
Wie haben Sie sich der historischen Figur genähert?
Tanja Kinkel: Walthers Motivationen lassen sich, wie schon erwähnt, zum großen Teil aus seinen Liedern herauslesen. Was die Herkunft betrifft, so gibt es vier populäre Theorien. Da Walther als Erstes am Wiener Hof auftauchte, wo er nach eigener Auskunft in seinen Liedern »Singen und Sagen« lernte, erschien es mir eher unwahrscheinlich, dass er aus Frankfurt, Franken oder Böhmen stammte, und ich entschied mich für die Südtiroler These. Für Walther kam es meiner Meinung nach ohnehin immer darauf an, wohin er ging und warum, nicht woher er kam; deswegen gibt es in meinem Roman auch keine Kindheitsszenen, sondern ich beginne mit seiner Ankunft bei Wien.
Sie stellen Walther von der Vogelweide eine überaus starke Frauenfigur an die Seite – warum haben Sie sich nicht auf seine Perspektive beschränkt?
Tanja Kinkel:Judith, Walthers große Liebe, habe ich erfunden, weil ich eine komplexe Beziehung schildern wollte – im Rahmen der Wahrscheinlichkeit in dieser Zeit, versteht sich –, bei der beide Partner manchmal im Recht, manchmal im Unrecht sind. Das schien mir passend, weil Walther schließlich selbst die Erwiderung von Gefühlen und die Ebenbürtigkeit zwischen Mann und Frau forderte. Außerdem habe ich meinen letzten Roman, »Im Schatten der Königin«, zum größeren Teil aus der Perspektive eines Mannes geschrieben. Danach trieb es mich einfach wieder dazu, einer Frau genau den gleichen Erzählraum zu geben. Überdies konnte ich durch Judith Aspekte in meinen Roman einbringen, die Walther allein entweder übersehen oder nie erfahren hätte; als Frau, Ärztin und Jüdin erlebt sie oft eine ganz andere Wirklichkeit als er.
Sie schneiden es bereits an: Als unverheiratete Frau und Jüdin gehört Judith sicher zu den Menschen, die in der damaligen Zeit am wenigsten Rechte hatte. Was hat Sie daran gereizt?
Tanja Kinkel: Da mein erster Mittelalterroman, »Die Löwin von Aquitanien«, aus der Perspektive der Herrschenden geschrieben war, kam es mir darauf an, diesmal beide Hauptfiguren zu den Beherrschten gehören zu lassen. Deswegen konnte Judith auch keine Edeldame sein. Selbst jede noch so abenteuerlich gesinnte christliche Bürgersfrau hätte weniger erleben, weniger in dauernder Gefahr schweben können als sie. Einen Romancharakter entwickelt man nicht zuletzt über die Hindernisse, die man ihm oder ihr in den Weg legt, und so viele Hindernisse wie Judith hatten bisher nur Saviya, die Zigeunerin in »Die Puppenspieler«, und die Zwergin und Sklavin Andromeda in »Venuswurf«.
Glauben Sie, dass es eine Frau wie Judith damals wirklich gegeben haben könnte?
Tanja Kinkel: Ich glaube es nicht nur, ich weiß es. Ein Jahrhundert vor Judith wirkte die Ärztin Trota in Salerno. In Frankfurt am Main und in Mainz sind im 13. Jahrhundert, nur ein paar Jahre, nachdem mein Roman 1212 endet, sogar fünfzehn Ärztinnen nachgewiesen. Eine von ihnen war die jüdische Augenärztin Zerlin, die aktenkundig wurde, weil ihr die Stadt wegen ihres Könnens und ihrer Reputation gestattete, außerhalb des Ghettos zu wohnen, was der von Walther so angegriffene Papst Innozenz im Jahr 1215 für Juden in Europa durchsetzte.
Wie immer beeindruckt Ihr Roman auch durch viele Nebenfiguren, die ungemein plastisch und oft ausgesprochen liebenswert aus den Zeilen hervortreten – die realen Irene von Byzanz, Beatrix von Schwaben und Jutta von Meißen genauso wie die erfundenen Figuren Stefan, Markwart und Gilles. Welche von ihnen liegt Ihnen besonders am Herzen?
Tanja Kinkel: Sie sind alle meine Kinder. Bei den erfundenen ist Stefan, Judiths Onkel, derjenige, dessen Szenen mir beim Schreiben am meisten gegeben haben, weil er über weite Strecken des Romans eine antagonistische Position einnimmt, aber es mir trotzdem sehr wichtig war, ihn nicht zu dämonisieren, sondern klarzumachen, warum er so handelt, wie er es tut. Aber Gilles ist von allen erfundenen Menschen derjenige, den ich sofort zum Abendessen einladen würde!
Was die historischen Figuren betrifft, so war es ein Genuss, Irene, Beatrix und Jutta, die in den historischen Quellen kaum mehr als Fußnoten sind, zu dreidimensionalen Charakteren zu entwickeln, aber es nahm mich auch sehr mit, angesichts dessen, was die Geschichte nun einmal für Irene und ihre Tochter Beatrix bereithielt. Ich wollte die beiden am liebsten an der Hand nehmen und mit ihnen fortlaufen. Da war es eine Erleichterung, Jutta von Meißen als Überlebenskünstlerin zu schildern, als jemanden, die einige Leser zuerst vielleicht als Antagonistin erwarten, die sich aber dann sowohl für Judith als auch für Walther als etwas ganz anderes herausstellt.
Die historischen Fakten, die Sie in Ihren Roman einfließen lassen, hätte sich ein Hollywood-Drehbuchautor kaum besser ausdenken können – was für eine Zeit! Wie fühlt es sich an, so etwas als Roman umzusetzen?
Tanja Kinkel: Es machte Spaß und hat nur hin und wieder die Besorgnis erweckt, dass die Leser die unwahrscheinlichsten Ereignisse für meine Erfindung halten könnten! Gebadet wurde nackt, aber mit Hut. Niesen und sieben bis neun Mal rückwärtshüpfen galt als Verhütungsmittel. Ein Thronanwärter aß in einer belagerten Stadt tatsächlich das Festmahl, was für seinen Rivalen von dessen eigenen Köchen dort zubereitet worden war … Ich könnte die Liste noch sehr weit fortsetzen, aber das würde nicht nur den Rahmen dieses Interviews sprengen, das hätte auch meinen Roman um viele hundert Seiten länger gemacht.
Das Taktieren der Fürsten in Ihrem Roman wirkt manchmal geradezu modern, und man hat das Gefühl, das alles könne so auch in unsere Zeit übertragen werden. Was meinen Sie dazu?
Tanja Kinkel: Das Geschachere um Stimmen, Pfründe, Privilegien und Güter erinnerte mich ungeheuer an unsere Politiker im Wahlkampf und die Geschenke davor und danach. So mancher Provinzfürst – Entschuldigung, Ministerpräsident – unserer Zeit hätte damals ohne weiteres mitmischen können. Viel geändert hat sich wirklich nicht.
Was können wir also Ihrer Meinung nach heute aus den Umständen der damaligen Zeit lernen?
Tanja Kinkel: Das lässt sich tatsächlich in einem Satz zusammenfassen: »Wer die Nachrichten kontrolliert und beeinflussen kann, hat die Macht.« Auch Geschichte wird fast immer nur von den Gewinnern geschrieben. Zum Glück ist das heute schwerer als damals, aber leider immer noch Realität. Objektiver Journalismus ist, aus rein wirtschaftlichen Gründen, auf Dauer auch heute kaum möglich. So bleibt uns nur Nachdenken, um sich aus vielen Quellen eine eigene Meinung zu bilden. Das, was auch für ein glaubwürdiges Buch oberstes Gebot ist.
Lassen Sie mich hier noch einmal einhaken und Ihnen eine provokante Frage stellen: Walther beeinflusst in Ihrem Roman sehr geschickt den Lauf der Dinge, weil er in der Lage ist, seine Zuhörer zu manipulieren. Würde Walther im 21. Jahrhundert leben, müsste er dann für die Bild-Zeitung arbeiten?
Tanja Kinkel: Ich glaube eher, Walther hätte eine eigene Zeitung gegründet. Er hätte sich nie damit abgefunden, seine Zeilen vom Chefredakteur verändert zu sehen.
Sie sind selbst gläubige Christin – trotzdem kommt der Klerus, allen voran der Papst, in Ihrem Roman alles andere als gut weg. Spiegelt dies auch Ihre Meinung zur Kirche von heute wider?
Tanja Kinkel: Es gibt durchaus auch sympathische Kleriker in meinem Roman, zum Beispiel Wolfger von Erla, den Bischof von Passau und einer von Walthers Gönnern; ich mag keine SchwarzWeiß-Malerei. Aber Innozenz III. war, da sind sich die Historiker einig, der mächtigste Papst des Mittelalters. Eine solche Position erringt man nicht durch Menschenfreundlichkeit. Überdies war er selbst im zeitgenössischen Rahmen und verglichen mit anderen Theologen seiner Epoche ungeheuer körperfeindlich. Für jemanden wie Walther spielte es keine Rolle, dass Innozenz auch langfristig positive Entscheidungen traf – zum Beispiel Franz von Assisi nicht als Ketzer zu bannen, was sehr leicht hätte geschehen können, sondern als Teil der Kirche zu bestätigen; das dürfte die kirchengeschichtlich bedeutendste Tat Innozenz’ gewesen sein –; für Walther zählten nur die unmittelbaren Auswirkungen, welche die Machtpolitik des Papstes auf die Menschen im Reich hatte und wie diese darunter litten. Mit der Entscheidung, meine weibliche Hauptfigur zu einer Jüdin zu machen, galt es natürlich auch, den von der Kirche damals auch zu verantwortenden fatalen und allgegenwärtigen Antijudaismus zu zeigen, der jedes Mal, wenn päpstlicherseits wieder zum Kreuzzug aufgerufen wurde, einen weiteren Schub erhielt.
Was die heutige Kirche betrifft, so sehe ich auch dort vieles kritisch, neben sehr viel Erreichtem, und es bleibt noch viel zu tun. Aber das sind heutige Umstände, heutige Fehlentscheidungen, heutige Erfolge. Jede Epoche muss immer und für alle Bereiche in ihrem eigenen Licht betrachtet werden.
Auf den wohl berühmtesten Satz Walthers – »Ich hân mîn lêhen/Ich habe mein Lehen« – wird man in Ihrem Roman vergeblich warten …
Tanja Kinkel: Es ist nicht nur der bekannteste Ausspruch Walthers, dieser Satz erklärt auch die Bedeutung dieses Mannes. Während andere Sänger vielleicht Nahrung, Kleidung, Silber, ein Pferd oder einen warmen Platz bekamen, erhielt Walther sein Lehen, was vorher noch nie da gewesen war. Dies geschah mutmaßlich 1217. Mein Roman endet aber 1212, da sowohl die persönliche Entwicklung von Walther und Judith als auch die politische Entwicklung an genau dem Punkt angekommen ist, zu dem ich sie führen konnte und wollte, ohne mich wiederholen zu müssen. Im Nachwort hat dieses Zitat jedoch Eingang gefunden.
Hand aufs Herz: Für wen schlägt Ihr Herz mehr, für Walther oder für Judith?
Tanja Kinkel: Ich bin Polygamistin, was meine Romanfiguren betrifft.