Kapitel 32

Botho von Ravensburg reiste nicht wie die Pilger, mit denen Walther das letzte Mal gen Rom gezogen war. Er war offenbar eingeschüchtert genug, um die Reise zu machen, nachdem eine aufgebrachte Menge die Ravensburg gestürmt und angezündet hatte. Doch man suchte vergebens nach einem Pilgermantel oder gar einer reuigen Haltung. Stattdessen saß er mürrisch auf seinem Pferd, eingehüllt in einen warmen Mantel, Beinkleider und Stiefel. Zuerst wollte er an der Seite Bischof Wolfgers reiten, doch dieser verbot es. So fand er sich bei den Wachen wieder. Walther wollte sich nur vergewissern, dass er weit entfernt vom Wagen mit Alexios und Judith ritt, doch Botho erkannte ihn dabei.

»Der Vogelwicht! Was zum Teufel habt Ihr hier zu suchen? Habe ich Euch den ganzen Weg nach Rom am Hals?«

»Ihr meint, bis Euch in Rom der Hals gestreckt oder gekürzt wird? Aber nicht doch. Ich fürchte, Ihr werdet auf meine Gesellschaft dabei verzichten müssen. So unwiderstehlich Eure Liebenswürdigkeit, die christliche Demut und Euer Zartsinn, der sich in jedem Eurer Worte äußert, auch sind, der Patriarch von Aquileja hat zuerst um meine Begleitung gebeten.«

Es tat gut, zu sehen, wie Botho nach Luft schnappte.

»Nur aus Neugier«, sagte Walther, »wie viel haben Euch die Kölner vorgestreckt?«

»Ihr habt gut reden«, zischte Botho. »Ihr habt mich doch auf den Gedanken gebracht mit Eurem Geschwätz von Verräterlisten. Wenn Ihr mich ohnehin des Verrates bezichtigen wolltet, dann konnte ich mir wirklich meine Schulden verringern lassen.«

Für einen Moment war Walther sprachlos. Damals, als er sich auf der Straße von Würzburg nach Bamberg ob seines Einfallsreichtums beglückwünschte, hatte er nie daran gedacht, dass es irgendwelche Folgen haben könnte, außer sich Botho vom Hals zu schaffen und diesem ein paar unangenehme Stunden zu bereiten. Da aber Stefan ihn durchaus ernsthaft wie vergeblich um eine Liste von möglichen Spitzeln an Philipps Hof gebeten hatte, hätte er eigentlich darauf gefasst sein müssen, dass dieser dergleichen auch auf andere Weise bekam.

Dann schüttelte er den Kopf. »Verantwortung für Eure eigenen Taten zu übernehmen ist wirklich nicht Eure Stärke, wie?«

»Ich tat nur, was doch im Grunde alle von mir wollten«, sagte Botho mürrisch. »Nicht nur die Kölner. Mein Onkel und Philipp, die sind doch froh, Konrad los zu sein. Das war’s, was er verdient hatte. Ihr mit Euren Spottliedern auf den Papst solltet der Letzte sein, deswegen Trübsal zu blasen. Außerdem verkauft Ihr Eure Dienste doch auch, wo es Euch passt, also weiß ich nicht, woher Ihr die Stirn nehmt …«

»Oh, wes Brot ich ess, des Lied ich sing, daran besteht kein Zweifel. Aber wenn Ihr den Unterschied zwischen einem Lied, ein paar Auskünften und einem Mord nicht kennt, Herr Botho, dann ist Euch wahrlich nicht zu helfen«, sagte Walther und trieb sein Pferd an, schneller zu laufen.

»Dass die Judenschlampe jetzt mit Euch zusammen ist und nicht mit dem Arschficker, das verdankt Ihr mir!«, rief ihm Botho höhnisch hinterher. »Wo bleibt denn da die Dankbarkeit?«

Einen Herzschlag lang war es Walther, als gefröre etwas in ihm. Was um alles in der Welt meinte Botho damit? Dann sagte er sich, dass es sich nur um eine weitere Dummheit eines törichten Mannes handelte, wohl darauf bezogen, dass er Walther nach Braunschweig mitgenommen hatte, um Judith dort zu finden. Botho ist es nicht wert, weiter über seine Prahlereien nachzudenken, sagte sich Walther und trieb sein Pferd noch schneller voran. Es folgte so gut, dass er Hildegunde und ihre Widerspenstigkeit irgendwie vermisste. Manchmal tat es gut, um sein Fortkommen kämpfen zu müssen, das lenkte ab.

* * *

Die Nachricht über den Tod des ehemaligen Kanzlers war noch vor Paul in Köln eingetroffen. Es gab flammende Reden von allen Kanzeln über Philipp den Gottlosen und seine verruchte Mörderbande, und Gerüchte darüber, wie fast schon Abtrünnige wie der Bischof von Trier es sich noch einmal überlegten und nun wieder treu zu König Otto standen.

Trotzdem fühlte Paul sich elend. Er glaubte an die Sache der Welfen. Er hatte den König schon mehrmals kämpfen sehen, wenn Köln angegriffen wurde, aus der Ferne zwar, aber deutlich genug, um zu wissen, dass Otto vor der Stadt wie jeder andere sein Leben aufs Spiel setzte. Von Philipp hörte man dergleichen nicht. Der zog es vor, sich hinter Heinz von Kalden zu verstecken und diesen Blut für sich vergießen zu lassen. Außerdem hatte Philipp Köln nur Kummer gebracht, Otto die Stadt aber zum Juwel seiner Krone gemacht und sie gegen ihre Angreifer verteidigt. Das allein hätte für Paul entschieden, wer deutscher König sein sollte, selbst wenn seine Freunde nicht ums Leben gekommen wären. Als er von seinem Vater darüber hinaus hörte, wie Jutta sie alle verraten hatte, weckte das Bitternis und Schuldgefühle in ihm, weil er ihr geholfen hatte. Er konnte damals doch nicht ahnen, dass sein Vater, der zu Ottos vertrauten Ratgebern gehören sollte, deswegen ständig aufs Neue seine Treue beweisen musste.

»Und noch schlimmer«, hatte sein Vater kopfschüttelnd hinzugefügt. »Es hat den Erzbischof an meiner Rechtgläubigkeit zweifeln lassen, an meiner und der jedes bekehrten Juden in der Stadt. Man steckt uns eben alle gleich in einen Topf, und das kann gefährlich werden, mein Sohn, dass du es dir gar nicht ausmalen magst und hoffentlich nie zu tun brauchst.«

Es war so ungerecht! Sein Vater hatte nie etwas anderes getan, als das Beste für Köln zu wollen, und hart dafür gearbeitet. Selbst als Kaufmannssohn, dachte Paul, hätte ich Aussicht gehabt, Otto als Knappe zu dienen, wenn nicht Juttas Verrat gewesen wäre. Als Paul von seinem Vater erfuhr, warum sie damals mit Gilles aus Köln fortgelaufen war, traute er seinen Ohren nicht: Seine Base hatte die Gelegenheit ausgeschlagen, die Schutzherrin für die Stadt zu sein, auch für ihre ehemaligen Glaubensbrüder. Paul war ein ehrlicher Christ, doch er war sich sehr bewusst, dass so mancher Kölner nicht an die Bekehrung seines Vaters glaubte und in seiner Familie nach wie vor Juden sah, daher konnte es nur gut sein, wenn auch die Juden eine Fürsprecherin beim König hatten. Aber Jutta war selbstsüchtig, ganz anders als die Frauen in der Bibel. Sie hatte damit bewiesen, dass man Frauen nicht die Entscheidung über ihr Schicksal überlassen durfte, denn welches vernünftige Wesen wählte ein Leben als reisende Ärztin vor einem Platz an der Seite eines Königs? Zuerst versuchte Paul noch, sie durch die Liebe zu Gilles zu entschuldigen. Eine treue Ehefrau sein zu wollen, war löblich, selbst wenn das Allgemeinwohl wichtiger war. Doch dann versicherte sein Vater ihm, dass Jutta den Berichten nach nun mit dem Sänger zusammenlebte, der auch in Köln aufgetaucht war und ihr schöne Augen gemacht hatte. Also war Jutta bereit dazu, die Ehe zu brechen, wenn es nur um ihre Gelüste ging, nur nicht zum Wohl ihrer Familie. Er hatte sich geschämt, sie einmal so gerngehabt zu haben.

Als sein Vater ihn darum bat, nach Nürnberg zu gehen, gab es für Paul deshalb kaum ein Zögern, und wenn, dann galt es dem Erzbischof von Würzburg. Aber letztendlich, dachte er, hat dieser Eidbrecher Jahre damit verbracht, den falschen König zu unterstützen.Paul würde durch seine Tat seinen Vater wieder an die Spitze Kölns zurückbringen, die Selbstsucht seiner Base und seine eigene jugendliche Dummheit wieder wettmachen und dabei helfen, König Otto dem Sieg einen Schritt näher zu bringen. Sogar Jutta würde er helfen, denn wenn sie erst wieder in Köln war, dann würde sie gewiss auch ihren Irrtum erkennen und alles versuchen, ihn zu berichtigen.

Es schien alles so klar. Und dann kam alles ganz anders, als er erwartet hatte. Zuerst zeigte ihm Jutta durch ihren Einsatz für den Bischof, dass sie doch nicht so selbstsüchtig war, wie er sich eingeredet hatte – und dann begann das Geschrei in Würzburg. So hatten die Frauen in Köln wegen der Toten geschrien; dieser Klang steckte ihm tief in den Knochen. Nur ein Mann, dachte Paul mit wachsender Unsicherheit, nur ein Mann für das Wohl der vielen, und dann brachte ihn Jutta völlig durcheinander, als sie sich von einem Moment auf den anderen in ein Geschöpf aus einem Alptraum verwandelte. Es war, als hielte sie ihm einen Spiegel vor, in dem alles verzerrt war; statt eines Helden sah er einen jämmerlichen Mörder. Sie machte ihm Angst, und er fühlte sich, als wäre der sichere Grund unter seinen Füßen plötzlich Morast geworden. Am Ende war er bestürzt und froh zugleich, als sie davonrannte und auch die Männer seines Vaters sie nicht mehr fassen konnten.

Auf dem Weg zurück nach Köln wollte er vergessen, was sie zu ihm gesagt hatte, doch es setzte sich wie eine Laus in seinem Ohr fest und nagte an ihm. Was, wenn der König wirklich nicht beabsichtigte, sie zu seiner Geliebten zu machen, sondern in ihr nur den Hund sah, der ihn gebissen hatte und der durch einen Tritt oder gar den Tod bestraft werden musste? Was, wenn der Tod des Erzbischofs Konrad keinen Unterschied im Kriegsverlauf machte? Dann hatte Paul bei einem Mord geholfen. Er wusste nur zu gut, dass die Kirche einen Unterschied machte zwischen Menschen, die in einer Schlacht starben, während eines ehrlichen Kampfes, oder Menschen, die hinterrücks erschlagen wurden. Du sollst nicht töten.

Der verächtliche Blick in Juttas Augen drang wie Gift unter seine Haut und schwärte dort. Dass man überall über Konrads Tod sprach, half ihm ein wenig, aber niemand erzählte, dass sich jetzt die Bischöfe und Fürsten von Philipp lossagten, und der Zweifel in Paul wuchs, weil er befürchtete, jemand würde irgendwann mit dem Finger auch auf ihn zeigen.

»Solche Dinge brauchen ihre Zeit«, sagte sein Vater, der es besser aufnahm, als Paul erwartet hatte, dass Jutta nicht bei ihm war. Statt zornig aufzubrausen, seufzte er, lächelte und sagte kopfschüttelnd, Jutta sei eben die Tochter ihrer Mutter und zu klug für die meisten anderen Menschen.

»Willst du damit sagen, dass sie recht hat?«, fragte Paul erschüttert.

»Nein«, erwiderte sein Vater ruhig. »Aber sie hat ihren Verstand beieinander. Das ist gut zu wissen, denn wenn etwas sie retten kann, wenn die Staufer untergehen, dann das.«

»Werden die Staufer …«

»Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel, mein Sohn. Philipp wird nie Kaiser werden. Wenn er je Aussicht darauf hatte, dann ist sie in Würzburg zerstört worden. Und wenn Otto in Rom vom Papst als Nachfolger Karls des Großen gekrönt wird, dann wird das auch deinem Einsatz und Mut zu verdanken sein.«

Eine Stimme, die verdächtig der seiner Base ähnelte, fragte Paul, was daran mutig war, eine Verwandte in eine Falle zu locken und zum Tod eines waffenlosen Bischofs beizutragen.

»Wird der König dir grollen, weil Jutta nicht bei mir ist?«

»Ich war nicht so töricht, ihm zu versprechen, dass sie es sein würde – das war unser geliebter Erzbischof. Nichtsdestotrotz ist es angebracht, dem König etwas anzubieten, was ihn davon ablenkt. Es ist eine harte Welt, in der wir leben, Paul, aber dankenswerterweise gibt es ein paar Dinge, auf die man sich verlassen kann, und eines davon ist, dass auch einem Fürsten der Geldbeutel immer näher ist als sein … als sein Herz. Es ist an der Zeit, unseren König Otto mit seinem Onkel John zu versöhnen und dafür zu sorgen, dass der König von England erneut Geld ins Reich schickt, von unseren Handelserleichterungen ganz zu schweigen.«

»Aber wie …«

»Du und ich, mein Sohn«, sagte sein Vater, »werden eine Reise unternehmen. Zu ihm.«

Vielleicht war es die Erinnerung an Juttas Blick, die Paul dazu trieb, unbotmäßig zu fragen, ob König John diesen Besuch überleben würde. Sein Vater musterte ihn bekümmert. »Selbstverständlich.« Doch er fragte nicht, wie Paul überhaupt auf diesen Gedanken gekommen sei.

»Und wie willst du ihn dazu bekommen, Otto wieder Geld und uns unsere Handelserleichterungen zu gewähren?«, forschte Paul kühn.

»John steckt in Schwierigkeiten«, erläuterte sein Vater. »Er ist in ernsthafter Gefahr, die Normandie an den König von Frankreich zu verlieren. Die Lage sähe für ihn auf einmal völlig anders aus, wenn er als Erbe seines Neffen König der Deutschen würde und Frankreich damit einkreisen könnte. Doch dazu muss er seinem Neffen erst einmal den deutschen Thron sichern.«

»Otto soll sterben?«, stieß Paul entsetzt hervor.

»Nein, aber John soll allen Anlass haben zu glauben, dass es dazu kommen könnte. Schließlich lebt Otto ein gefährliches Leben, ist unvermählt und hat keinen anderen Erben als John und den ungetreuen Bruder. Bei Verhandlungen verkaufen wir Hoffnungen und Träume, mein Sohn. Selbst die Großkaufleute unter uns sind Rosstäuscher. Und ich werde John von England das flüchtigste Ross von allen andrehen – die Hoffnung auf den deutschen Thron.«

* * *

Der Tross wurde von einer stattlichen Anzahl Kriegsknechte begleitet, von denen man nicht wusste, wie viele sich dem Heer der Kreuzfahrer anschließen würden. So oder so: Niemand, das hatte Alexios betont, durfte Zweifel an seiner Gesundheit haben und an seiner Befähigung, einen Thron zu besteigen. Soweit es die anderen Menschen im Tross betraf, reiste Alexios daher ausschließlich seines Standes wegen im Wagen. Der Bischof von Passau teilte diesen meist mit ihm, um dem Bruder der Königin so Respekt zu erweisen, und weil er allmählich zu alt wurde, um wie früher ständig zu reiten. »Nun, wir könnten völlig der Wahrheit gemäß sagen, dass ich Euch über die Irrtümer Eurer Jugend belehren und Euch die Lehre der einzigen und ungeteilten Kirche näherbringen werde«, sagte Wolfger milde, »denn wenn Ihr dem Papst begegnet, dann solltet Ihr darauf gefasst sein, dass Seine Heiligkeit Euch Fragen bezüglich Eures neuen Katechismus stellt. Er hegt, Gott sei’s geklagt, keine hohe Meinung von Fürsten und könnte Euer Versprechen, überzutreten und das Schisma zu beenden, als bloße Finte und Gefallen für Euren edlen Schwager bewerten. Wenn Ihr dagegen wisst, wovon Ihr sprecht, dann steigt die Wahrscheinlichkeit für seine Gunst.«

Alexios wirkte, als habe er etwas Saures verschluckt, doch er nickte.

»Meine Worte mögen auch Euch von Nutzen sein, Magistra«, fügte Wolfger freundlich hinzu. Judith reiste ebenfalls die meiste Zeit im Wagen – offiziell, weil sie auf die Gesundheit des betagten Bischofs achten musste.

»Wer würde nicht gerne an der Weisheit eines so gelehrten Herrn wie Euer Gnaden teilhaben?«, gab sie zurück. Es war Jahre her, seit er sie zum Frösteln gebracht hatte, doch sie hütete sich davor, ihn zu unterschätzen, nicht zuletzt, weil er immer noch nicht klar gesagt hatte, wozu er Walther in seinem Gefolge haben wollte. »Allerdings werden Euer Gnaden eine so erhabene und wichtige Angelegenheit des Glaubens dem edlen Bruder unserer Königin in seiner Muttersprache erläutern, denn ich hege keinen Zweifel, dass Ihr das Griechische hervorragend beherrscht. Ich dagegen bin dessen völlig unkundig.«

Alexios murmelte etwas auf Griechisch, das nicht wie ein Kompliment klang.

»Und ich dachte, im Königreich Sizilien ist Griechisch noch immer eine der üblichen Sprachen«, gab Wolfger zurück. »Habt Ihr nicht in Salerno studiert, das in diesem Königreich liegt?«

Ja, man durfte ihn nicht unterschätzen.

»Euer Gnaden, ich war vollauf damit beschäftigt, meine Kenntnisse der Volgare zu verbessern und das Arabische zu erlernen, in dem so viele der medizinischen Schriften verfasst sind. Zudem sprachen die Patienten aus dem oströmischen Reich stets andere Sprachen.«

»Die verdammten Araber«, sagte Alexios unerwartet in seinem Latein, das noch viel stärker als Irenes von einem anderen Sprachrhythmus geprägt war. »So viele gute Provinzen haben wir an sie verloren. Wenn sie nicht gewesen wären, dann wäre das Heilige Land noch unser und christlich, wie es sein sollte.«

»Mit Gottes Hilfe wird es wieder zur Gänze christlich werden, durch die Kraft einer geeinten Christenheit«, stimmte Wolfger zu.

Einmal, nur ein einziges Mal wünschte sich Judith, sie könne einen Christen fragen, warum er mehr in Eretz Israel zu suchen haben sollte als die Araber, aber sie war sich bewusst, dass ihr nie jemand darauf eine Antwort geben würde, die sie hören wollte. Gilles, dachte sie plötzlich, Gilles hätte ich auch so etwas fragen können. Ob er nun wieder in Aquitanien war? Sie seufzte stumm. Gilles hatte ein neues Leben gewählt, und sie sollte es ihm gönnen, statt ihn weiter zu vermissen.

Immerhin hatte ihr Ablenkungsversuch mit dem Griechischen Erfolg, denn Alexios bestand darauf, die Lehren des Patriarchen in seiner Muttersprache zu hören, und damit wurde für sie daraus ein wohlklingender Wortteppich, von dem sie kein Wort verstehen musste. Sie nutzte die Zeit, um Alexios im Halbdunkel des Wagens zu beobachten, so gut es ging. Nach dem, was er ihr geschildert hatte und was sie selbst sehen konnte, hatte sie keinen Zweifel mehr, dass er unter dem grauen Star litt. Wenn sie Meir je um etwas beneidet hatte, dann um seine Sicherheit beim Starstich; sie hoffte, auch diesmal zusehen zu können. Alexios war nicht der Erste, der ihr in den letzten Jahren begegnet war und einen Starstich brauchte, aber nicht von ihr bekommen hatte. Anders als die meisten ihr bekannten Doktores wollte sie ihre Patienten nie für ein Experiment nutzen; sie hätte es nie überwunden, mehr Schaden als Nutzen anzurichten. Anders als Alexios konnten es sich aber die wenigsten Menschen leisten, nach Salerno zu ziehen. Es müsste einfach mehr Salernos geben, überall!

Sie hatten Lucia und Markwart angeboten, sie mitzunehmen, und waren nicht überrascht, zu hören, dass beide es vorzogen, Teil von Philipps Hofgesinde zu bleiben.

»Gibt es eine Botschaft, die ich deiner Familie ausrichten soll?«, hatte Judith Lucia gefragt.

»Meine Familie hat mich verstoßen, lange bevor ich Salerno verließ, Magistra. Aber wenn Ihr meinem Vater begegnet, Theo dem Wollfilzer«, hatte Lucia mit einem zufriedenen und ein wenig rachsüchtig wirkenden Lächeln hinzugefügt, »dann sagt ihm, dass ich die Amme von Königstöchtern bin. Er hat mich einmal einen Misthaufen genannt, auf dem sich Söldner erleichtert haben, weil er immer glaubte, was er glauben wollte, anstatt mich um eine Antwort zu bitten.«

Dass Markwart bei Lucia bleiben wollte, statt mit Walther und Judith nach Süden zu ziehen und Weib und Kind für ein Jahr oder mehr nicht zu sehen, war verständlich. Dennoch wünschte Judith, er wäre hier. Walther mochte eine gute Meinung von Bischof Wolfger haben, soweit er eben eine hohe Meinung von einem mächtigen Kirchenmann haben konnte, aber sie brachte es nicht über sich, ihm voll zu vertrauen. Sollte der Grund, warum Wolfger Walther bei sich haben mochte, etwas sein, das Walther nicht tun konnte, dann würden sie fliehen müssen, und in so einem Fall wäre es gut gewesen, auf jemanden wie Markwart zählen zu können, der mittlerweile gut mit Waffen umzugehen verstand.

Alexios war das Reisen im Wagen zwar von seiner Flucht her gewohnt, aber hin und wieder litt er unter Erstickungsanfällen, die Judith als folgenschwere Erinnerung an seine Gefangenschaft sah. Man musste ihn in einem Kerker gehalten haben, nicht wie eine Geisel im Palast. Judith schlug deswegen vor, täglich ein, zwei Stunden zu reiten, statt im Wagen zu sitzen. »Man hat Euch eine sanfte Stute gegeben, Euer Gnaden«, flüsterte sie ihm zu, »die Eure edle Schwester während ihrer Schwangerschaften sicher getragen hat. Sie wird auf jeden Druck Eurer Schenkel antworten und Euch nicht verraten.«

Im Wagen wurde aber nicht nur über Religion gesprochen, und nicht nur auf Griechisch. So auch an jenem Nachmittag, als Wolfger davon berichtete, wie man seiner Erfahrung nach die Kreuzritter verschiedener Länder zusammenhalten könne, was oft genug schwierig war.

»Verschiedene Parteien zusammenzuhalten, ist die Herausforderung jedes Kaisers«, erklärte Alexios huldvoll, »und mein erhabener Vater lehrte mich diese Kunst von Kindesbeinen an.«

»Mit Verlaub, Euer Gnaden, und allem Respekt vor Eurem edlen Vater, aber da er sich derzeit in der Gewalt Eures Onkels befindet, kann er es selbst nicht zu einem Meister in dieser Kunst gebracht haben.«

»Bedenkt, Herr Bischof, dass Ihr mit dem künftigen Kaiser des oströmischen Reiches sprecht!« Alexios’ Stolz ähnelte nichts so sehr wie Irenes Gebaren in Salerno, als sie auch völlig machtlos gewesen war. Ein paar Momente später färbte sich sein Gesicht wieder grünlich, und er übergab sich, ehe der Wagen angehalten werden konnte. Danach empfahl Judith kurzerhand, den Rest des Tages zu reiten.

Der Kaisersohn hatte es bisher vermieden, mit ihr zu sprechen, sei es, weil er sie nicht kannte, sei es, weil sie eine Frau war, doch als sie nun neben ihm ritt, während jedermann bis auf den Bischof sonst Abstand zu ihm hielt, fragte er sie leise, ob man ihm in Salerno auch gewiss helfen könne. »Mittlerweile sehe ich nicht nur alles verschwommen, sondern manchmal auch einen hellen Glanz wie einen Heiligenschein um einzelne Dinge. Vielleicht ist es Gottes Wille, und was ich erblicke, sind Zeichen seiner Heiligkeit?«

»Was Gottes Wille ist, weiß ich nicht besser als jeder andere Sterbliche, Euer Gnaden, aber das, was Ihr seht, ist kein Heiligenschein, sondern ein weiteres Zeichen des grauen Stars.«

»Aber …«

»Es war Gottes Wille, dass Ihr Eurer Gefangenschaft entkamt. Es scheint Gottes Wille zu sein, dass Ihr den Thron Eures Vaters zurückerlangt. Da ist es gewiss auch Gottes Wille, dass Ihr die Augen nützt, die er uns Menschen geschenkt hat, um so deutlich wie möglich zu sehen.«

»Was genau«, fragte er zögernd, »werden sie mit mir in Salerno tun?«

Judith hätte lieber nicht davon gesprochen, weil sie noch niemandem begegnet war, dem die Beschreibung dieses Eingriffs keine Angst einjagte. Wenn Alexios den Rest der Reise Zeit hatte, sich das auszumalen, was sie ihm schilderte, würde er mehr und mehr Angst entwickeln; das konnte ihm nur schaden. Andererseits würde ihr eine Weigerung nicht helfen, Alexios’ Vertrauen zu gewinnen, und eine Lüge würde später jedes Vertrauen, das er entwickelte, zerstören.

»Man nennt es den Starstich, Euer Gnaden. Ihr werdet einen Trunk bekommen, der Euch ruhigstellt und weitgehend schmerzunempfindlich macht. Ein Helfer des Arztes wird Euren Kopf nehmen, fest gegen seine Brust drücken und dort halten. Der Arzt sitzt Euch gegenüber und sticht mit einer Nadel seitlich in das Weiße Eures Augapfels, bis die Nadelspitze hinter der Pupille sichtbar wird.«

Alexios’ Gesicht zuckte. »Und davon soll ich nicht blind werden?«

»Wenn es richtig getan wird, Euer Gnaden, wird damit Eure Sehkraft gerettet. Die Linse wird mit der Nadel erfasst und hinabgedrückt. Nach dem Eingriff müsst Ihr einen Verband über beide Augen tragen, auch das gesunde, um das gestochene Auge ruhig zu halten, während es heilt. Wird der Verband dann entfernt, könnt Ihr wieder sehen. Ihr solltet allerdings wirklich einen Kristall schleifen lassen, wie ihn die Kaiser der Alten gehabt haben sollen, denn es mag sein, dass Ihr zu scharf seht, und der Kristall wird das lindern.«

»Und wenn es nicht richtig getan wird? Dann bin ich so blind wie mein Vater und kann auf der Straße betteln!«

Judith dachte an die Armen, die sie diesseits und jenseits der Alpen erblickt hatte, Menschen, die durch die Verwüstung ihrer Stadt, den Überfall des einen oder anderen Heeres all ihr Hab und Gut verloren hatten, und dazu oft Gliedmaßen. Sie dachte an die Blinden, die selbst im Frieden in Städten wie Köln oder Wien in den Straßen bettelten, nur in Lumpen gekleidet, an die Menschen, die ihr Augenlicht verloren, weil sie nur im Schein einer billigen Talgfunzel Prunkmäntel für Menschen wie Alexios besticken mussten. Ja, er hatte schwere Zeiten hinter sich, daran bestand kein Zweifel. Aber er würde nie darben. Seine Schwester war die Königin der Deutschen. Wenn Irenes Wunsch sich erfüllte, dann würden sogar eine beträchtliche Anzahl Menschen sterben oder verkrüppelt werden, um Alexios auf den Thron zu verhelfen.

»Es sind Eure Augen«, gab Judith gepresst zurück. »Es ist Euer Leben, Euer Gnaden.«

»Allerdurchlauchtigster«, verbesserte Alexios sie. »Die Mitglieder der kaiserlichen Familie von Byzanz werden mit Höchstedle, Allerdurchlauchtigster oder höchst Erhabener angesprochen. Nach all den Jahren bei meiner Schwester solltet Ihr das eigentlich wissen, Magistra.«

»Im Westen«, warf Bischof Wolfger ein, der aufgeschlossen hatte, »sind wir etwas sparsamer mit solchen Titeln, die nicht Gott gelten, Euer Gnaden.«

Alexios presste die Lippen zusammen. Eine Zeitlang schwieg er, dann fragte er sie, was geschehe, wenn kein Eingriff vorgenommen würde.

»Nun, der graue Star hat nur Euer linkes Auge befallen, aber auch das rechte ist bereits in Mitleidenschaft gezogen. Das geschieht häufig. Auf dem linken werdet Ihr mehr und mehr Eurer Sehkraft verlieren, bis es in ein paar Jahren blind sein wird. Das rechte bleibt Euch vielleicht zwei, drei Jahre länger, aber nach allem, was man mich gelehrt hat, wird es dann nachfolgen.«

»Dann wäre ich jedoch bereits Kaiser«, murmelte Alexios. »Ich könnte mich vorbereiten.«

»Darauf, von Euren Generälen entmachtet zu werden, Euer Gnaden?«, fragte Wolfger sachlich.

»Ihr habt gut reden, Patriarch! Es ist nicht Euer Leben, das auf dem Spiel steht! Ihr seid nicht derjenige, dem eine Nadel ins Auge gestochen werden soll! Würdet Ihr das mit Euch machen lassen?«

»Ja«, sagte Wolfger, ohne zu zögern, ohne weitere Erläuterungen oder Bestätigungen, und daher umso überzeugender. Ein Teil von Judith glaubte ihm; der andere Teil fragte sich, ob es sein ständiges Verhandeln mit Päpsten, Königen und Herzögen war, das ihn in die Lage versetzte, so überzeugend zu wirken.

»Und Ihr?«, fragte Alexios Judith herausfordernd. »Ihr habt ja sogar Angst davor, es selbst zu tun! Weil Ihr wisst, dass es nicht glücken kann, und danach weiter von meiner Schwester beschäftigt werden wollt!«

»Weil ich weiß, dass es in Salerno einen Arzt gibt, der sich viel besser als ich auf Augeneingriffe versteht, Euer Gnaden«, sagte Judith und versuchte, ihren Ärger zu unterdrücken. Alexios war nicht der erste Patient, dem eine Prozedur Furcht einjagte; er war nur höheren Standes. Trotzdem: einen armen Bauern zu besänftigen und Geduld mit ihm zu haben, wäre ihr leichter gefallen. »Wenn ich selbst unter dem grauen Star leiden würde, dann würde ich zu ihm gehen, zu keinem anderen.«

»Ihr habt keinen Thron zu verlieren, falls es nicht glückt«, gab Alexios scharf zurück.

Das habt auch Ihr nicht, dachte Judith. Derzeit seid Ihr nur Kaiser Eurer Wünsche und von Irenes Hoffnungen.Es gelang ihr, diese Äußerung hinunterzuschlucken, doch das, was sie laut aussprach, war das nächstbeste nicht Respektlose, was ihr einfiel. Und das erwies sich als ein Fehler.

»Nein, aber Reb Meir sollte einmal mein Gatte werden. Es wäre mir höchst peinlich, ihn um einen solchen Gefallen bitten zu müssen«, antwortete sie – und wurde sich erst während Alexios’ plötzlichen Schweigens bewusst, was sie damit zugegeben hatte. Bischof Wolfger schaute nicht überrascht, sondern zufrieden, aber auch er schwieg.

»Ihr seid … Ihr wart eine Jüdin?«

Jetzt war es zu spät, um zu leugnen, und im Übrigen wollte sie das auch nicht. »So ist es«, gab sie zurück, ohne auf den Unterschied zwischen seid und wart einzugehen, und schaute ihm direkt ins Gesicht.

»Euer Gnaden«, begann Wolfger.

»Ich werde den Eingriff vornehmen lassen«, sagte Alexios. Nun war es an Judith, verblüfft zu sein. »Wusstet Ihr, Patriarch«, fuhr er im Plauderton fort, »dass wir in Byzanz eine der größten jüdischen Gemeinden überhaupt haben? Natürlich sind ein paar Ärzte darunter. Sie mögen Christus leugnen, aber ihre Finger sind mehr als geschickt. Wenn ein Mitglied der kaiserlichen Familie sie zu Rate zieht, wissen sie, was geschieht, wenn einer von ihnen als Arzt versagt.«

»Und was ist das, Euer Gnaden?«, fragte Wolfger ruhig.

»Alle für einen, einer für alle«, erwiderte Alexios und richtete seine so vage blickenden Augen in Judiths Richtung. »Deswegen hat keiner von ihnen versagt, solange ich mich erinnern kann. Magistra, es mag an der Abendsonne liegen, aber Ihr habt auch einen hellen Glanz um Euch. Seid Ihr sicher, dass es kein Heiligenschein ist? Er leuchtet so hell. Ihr seid wie der Docht in einer Kerze. Oder eine Dame im Feuer.«


Das Hospital, in dem sie unterkamen, brachte Männer und Frauen wie üblich getrennt unter, doch außer Judith zählte keine Frau zum Tross des Bischofs. Es waren ein paar Pilgerinnen dort sowie zwei Kaufmannsgattinnen und deren Mägde, die sich aber bei keinem Mann Hilfe holen wollten, was bedeutete, dass Judith zwischen wunden Füßen, Blasen und teilweise bis aufs rohe Fleisch aufgescheuerte Schenkel, deren Besitzerinnen zwar ein Reittier hatten, aber nicht vernünftig genug gewesen waren, für feste Beinkleider zu sorgen, mehr als genug zu tun hatte. Am Ende war sie sehr erschöpft und mehr als bereit zu schlafen, aber sie hatte Walther noch einiges zu sagen, und so begab sie sich in den Kreuzgang, um ihn zu treffen.

»Das darf doch nicht wahr sein! Die fingerfertige hübsche Ärztin«, sagte eine leider vertraute Stimme. Sie sah Botho von Ravensburg auf sich zuschlendern. »Wir reisen also wieder einmal miteinander.« Seine Überraschung klang so gespielt, dass klar war: Er hatte sie bereits lange vorher gesehen.

Sie war erschöpft und nicht in der Stimmung, um den heißen Brei zu reden. »Nun, falls der Heilige Vater beschließt, Euch für den Mord so zu bestrafen wie Abaelard für seine Lust, dann muss ja jemand zur Hand sein, der den Eingriff vornehmen kann, ohne Euch dabei verbluten zu lassen, Herr Botho. Seid versichert, dass mein Messer nicht ausrutschen wird.«

»Wie Abaelard?« Etwas verspätet dämmerte ihm, worauf sie anspielte. »Miststück!«

»Also, Herr Botho, Ihr könnt von einer einfachen Frau wie mir doch nicht erwarten, einen direkten Befehl des Heiligen Vaters zu verweigern. Oder des Patriarchen von Aquileja, falls ihm die Reise zu lange werden sollte, bis wir Rom erreichen. Außerdem muss ich mir mein tägliches Brot verdienen, Gott sei’s geklagt. Heilkräuter und feingeschliffene Instrumente aus Damaszener Stahl gibt es nicht umsonst, wisst Ihr.«

»Ihr solltet keine solchen Scherze treiben«, drohte Botho, »nicht mit mir. Für jemanden wie Euch werde ich noch nicht einmal zehn Paternoster als Buße beten müssen. Da wird es mehr Mühe kosten, mein Schwert hinterher abzuwischen.«

Sie dachte an die abgeschlagene Hand Konrads. Sie dachte an den Tod Vetter Salomons, seiner Familie und der Leute seines Haushalts. »Wenn Ihr das glauben wollt, dann steht es Euch frei«, sagte sie und zwang sich, überlegen zu lächeln. »Der Eingriff als solcher ist recht einfach. Die einzige Schwierigkeit liegt darin, ihn so schmerzlos wie möglich zu machen, aber darum kann sich ein Kriegsknecht nach meinem Ableben wahrlich keine Gedanken machen …«

»Der Papst wird mich nicht entmannen lassen«, sagte Botho, doch ein Hauch Unsicherheit mischte sich in seinen Zorn. Sie zog nur eine Augenbraue hoch und erwiderte nichts. »Der Patriarch auch nicht. Oder der byzantinische Weichling, mit dem Ihr jetzt das Bett teilt.«

Ein lächelndes Schweigen war entschieden wirksamer als alle Worte. Mittlerweile begann Bothos Stimme, sich zu überschlagen. »Wenn der ein echter Mann wäre, dann hätte er nicht Jahre gebraucht, um sich aus der Gefangenschaft zu befreien. Alle byzantinischen Männer sind halbe Eunuchen und Männerliebhaber! Das weiß jeder. Euch würde der Unterschied natürlich nicht auffallen. Überhaupt würde mich es nicht wundern, wenn Ihr nur deswegen in das Bett von Alexios gelangt seid. Weil Ihr wisst, wie man’s Männern macht, die lieber Männer mögen.« Er trat einen Schritt näher. »Aber dass Ihr die Gelegenheit dazu nun bei dem Sohn eines Kaisers habt, das verdankt Ihr auch mir, das solltet Ihr wissen. Und deswegen will ich meinen Lohn.«

Nachdem sie in Alexios’ Wagen reiste, wunderte es sie nicht, dass Botho davon ausging, sie sei die Geliebte des Kaisersohns; das sah ihm ähnlich. Aber trotzdem brachte er es fertig, dass sie sich fühlte, als kröchen ihr Wanzen über die Haut, je länger sie mit ihm sprach, ganz gleich, was er sagte.

Er schien ihr Schweigen für Zustimmung zu halten. »Ich fordere ja keine führende Stellung beim Kreuzzug, es ist mir schon klar, dass die Angelegenheit mit Bischof Konrad das unmöglich macht. Aber dass der Heilige Vater mich nur durch die Teilnahme am Kreuzzug büßen lässt, das muss herauskommen dabei. Der Byzantiner braucht nur darum zu bitten. Ich bin nicht dumm, wisst Ihr. Wenn Philipp nicht im Sinn hätte, ihm wieder auf seinen Thron zu verhelfen, dann würde er ihn nicht erneut über die Alpen schicken, so bald nach seiner Ankunft. Also, wenn es gegen Byzanz geht, dann bin ich auch dabei. Da wird er Männer brauchen, die tun, was getan werden muss. Sagt dem kaiserlichen Weichling das.«

»Von all den vielen Arten, ein Bittsteller zu sein«, sagte Walthers Stimme hinter Judith, »habt Ihr gerade die allerdümmste versucht, Herr Botho. Ich ziehe seit einem Jahrzehnt von einem Hof zum anderen; ich habe eine Menge Methoden kennengelernt und darf behaupten, selbst ein paar erfunden zu haben. Trotzdem, ich muss Euch neidlos den Preis zugestehen – die Verbindung aus Dummheit, Unwissenheit und täppischer Grobheit mit Angstschweiß bei der Vorstellung, Verantwortung für die eigenen Taten übernehmen zu müssen, gewürzt mit einer Prise hochmütigem Verzichts auf Bildung, die war einfach unübertroffen.«

Selbst im unruhigen Licht der Fackeln, die an den Wänden des Kreuzgangs steckten, war zu erkennen, wie sich Bothos Gesicht dunkel färbte. Sie blickte sich nach Dingen um, mit denen sie ihn niederschlagen konnte, falls er sich auf Walther stürzte, doch außer den Fackeln schien nichts Geeignetes vorhanden zu sein. Nun, Fackeln genügten angeblich, um Wölfe abzuhalten, und Botho hatte gerade etwas Wölfisches an sich, dachte Judith und machte einen Schritt näher zur Wand, um sich die Fackel greifen zu können.

»Bischof Wolfger wünscht Euch zu sprechen«, fügte Walther nun hinzu. Durch Bothos Gestalt ging ein sichtbarer Ruck. Er schnaubte: »Wir sprechen uns noch«, doch ob er damit Judith oder Walther meinte, ließ er offen, während er davonstapfte.

»Weißt du, was ich mir wünsche?«, fragte Judith, während sie ihm beide nachblickten. »Gerade jetzt, hier und heute? Dass wir diese gesamte Gesellschaft sich selbst überlassen, Patriarchen, Kaisersöhne und Mörder, und auf eigenen Wegen nach Salerno gehen.«

»Ich bin dabei«, antwortete Walther sofort. Einen Moment lang fragte sie sich, ob es dann gerechtfertigt war, die Pferde zu behalten, die sie von Irene für die Reise bekommen hatten, und ob ihr Geld bis Salerno reichen würde. Doch dann erinnerte sie ihr Gewissen an mehr als die Pferde.

»Ich habe Irene ein Versprechen gegeben«, sagte sie und seufzte. »Bis er in Salerno seinen Eingriff hinter sich hat, ist ihr Bruder mein Patient. Ich bin dafür verantwortlich, dass er dorthin gelangt, ohne dass seine Krankheit sich herumspricht. Das schließt es leider aus, sich vorher abzusetzen.«

Walther hatte von ihr gelernt, wie man verspannte Schultern durchknetete, und auch zu erkennen, wann diese Hilfe benötigt wurde. Er trat hinter sie und begann, mit kreisenden, warmen Fingern ihre Muskeln zu lockern. »Hat der Erhabene dir denn Grund gegeben, dich absetzen zu wollen, oder liegt es nur an Botho?«

»Alexios hat mir zu verstehen gegeben, er würde die jüdische Bevölkerung von Byzanz dafür büßen lassen, wenn der Starstich bei ihm Blindheit statt Klarsicht auslöst.«

Kurz hielt Walther inne, dann spürte sie, wie seine Finger ihre wohltuende Arbeit wieder aufnahmen. »Er sitzt noch nicht auf dem Thron, und wenn er tatsächlich erblindet, dann wird er niemals dorthin gelangen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«

Sie lehnte sich noch ein wenig stärker gegen ihn. »Ich mache mir Sorgen, weil er es überhaupt angedroht hat. Wenn Alexios gewillt scheint, dergleichen zu tun, sollte er dann auch nur über ein Dorf herrschen, frage ich dich? Das goldene Byzanz ist immer noch eines der größten Reiche auf Erden.«

»Nun, es ist auch sehr weit weg, und ich kenne keinen einzigen Menschen dort. Zu dem wenigen, was ich über byzantinische Herrscher weiß, gehört, dass die letzten drei durch den Sturz ihres Vorgängers an die Macht gekommen sind, mit denen sie irgendwie verwandt waren. Es lässt mich sehr daran zweifeln, dass der derzeitige Kaiser besser ist als der Bruder der Königin. Selbst aber, wenn im Wagen neben dir ein Ungeheuer sitzt, dann bist du trotzdem nur für das verantwortlich, was du selbst tust. Ihn nach Salerno zu bringen und ihm einen guten Arzt für seine Augen zu verschaffen. Dafür! Nicht dafür, was für ein Herrscher er wird, und ob er überhaupt einer wird.«

Es war eine leichtere Art, die Dinge zu betrachten; nicht zum ersten Mal beneidete sie ihn darum. Doch es verstörte sie auch. »Du hast Jahre damit verbracht, spöttische Lieder gegen den Papst und seine Einmischung in den Thronstreit zu schreiben«, sagte sie, »und du bist sicher der Grund, dass Philipp trotz des Banns keine nennenswerte Zahl an Anhängern verloren hat. Du weißt, dass ich glaube, dass meine Reisen nach Brüssel und Braunschweig nicht umsonst waren. Wenn das so ist, wenn wir diese Dinge für uns beanspruchen dürfen, müssen wir dann nicht auch dafür geradestehen, wenn jemand Macht erlangt, der keine haben sollte, und dem wir irgendwie geholfen haben?«

»Wenn du heute ein Kind von den Masern heilst und in zwanzig Jahren das Kind ein zweiter Botho wird, bist du dann dafür verantwortlich? Wenn du das wirklich glaubst, Judith, dann kannst du gleich aufhören, zu heilen, denn du kannst bei keinem deiner Patienten in die Zukunft blicken.«

Irgendetwas erschien ihr an dieser Argumentation nicht richtig, aber sie war zu erschöpft, um jetzt noch darüber nachzudenken. »Menschen, die Angst haben, bedrohen oft andere«, murmelte sie. »Er hat Angst davor, zu erblinden. Das hätte jeder. Vielleicht ist es nicht mehr als diese Unsicherheit.«

»Nun, ich würde mir bestimmt keine Nadel ins Auge stechen lassen. Das wäre einer meiner Alpträume.«

»Und wenn es dich davor bewahren würde, blind zu werden?«

Walther drehte sie zu sich herum, legte eine Hand auf ihre Wange und sagte sehr ernst: »Ich würde mir vor Angst in die Hose machen, aber ich würde es tun, wenn du mich darum bätest.«

Sie musste lachen; der Rest des üblen Geschmacks, den die Begegnung mit Botho in ihrem Mund hinterlassen hatte, zerrann. »Das ist eine der überzeugendsten Liebeserklärungen, die du mir je gemacht hast.«

»Und wie üblich bist du völlig herzlos, statt mir umgehend zu schwören, dass du dir gleich zwei Nadeln in die Augen stechen lassen würdest, wenn ich dich darum bäte.«

»Zwei Nadeln wären sinnlos für einen Starstich.«

»Ich glaube, ich werde ein neues Lied über die Herzlosigkeit mir bekannter Frauen verfassen. Mit einer nachträglichen Bitte um Vergebung an Reinmar, weil ich erst jetzt verstehe, wie geliebte Frauen einen Dichter allein durch schiere Vernunft schon leiden lassen können.«

Er küsste die Grübchen auf ihren Wangen. Bei sich dachte Judith, wenn es eine Möglichkeit gäbe, das Glücksgefühl in einen Trank zu bannen, das er in ihr erweckte, die Gewissheit, dass er sie lachen, zürnen, weinen und hoffen lassen konnte, und manchmal sogar absichtlich und in der richtigen Reihenfolge, dann könnte sie die ganze Welt damit heilen.

Es lag ihr auf der Zunge, ihn zu fragen, ob er wusste, worauf Botho mit seinem »das verdankt Ihr mir« angespielt hatte, aber dann entschied sie, dass sie heute nicht mehr von Botho und seinen Widerwärtigkeiten reden wollte. Genug war genug. Was konnte es auch bedeuten, außer einer weiteren Prahlerei? Mit Sicherheit lohnte es sich nicht, auch nur einen weiteren Gedanken darauf zu verschwenden.

»Das Gute daran, eine Ärztin zu lieben«, gab sie zurück und ließ ihre Fingerspitzen seinen Nacken hinuntergleiten, »ist, dass wir die Leiden, die wir verursachen, auch alle zu heilen verstehen.«

Er kam nicht umhin, das letzte Wort haben zu wollen, und fügte hinzu: »Meine Wunden schlägst du gewöhnlich mit deinem Mund; benutze ihn deshalb auch, um sie zu lindern. Du kennst da einige ganz köstliche, mich immer wieder überraschende Methoden!«

Das Spiel der Nachtigall
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