I. Werbelied

1194–1195 Wien/Klosterneuburg

Kapitel 1

Der Schnee war frisch, eine weiße Decke, deren Glanz in den Augen brannte. Die Luft war so kalt, dass man die eigene Nasenspitze nicht mehr spürte. Doch die Sonne schien, und der Herzog hatte darauf bestanden, auszureiten. Reinmar hatte nicht oft Heimweh nach dem Elsass, doch an diesem Morgen wünschte er sich unwillkürlich in das mildere Klima seiner Heimat zurück. Andererseits konnte er Leopold verstehen: Durch das schlechte Wetter waren sie alle wochenlang in der Residenz in Klosterneuburg eingesperrt gewesen. Zeit, sehr viel Zeit, um über die eigene Verdammnis zu brüten.

Zwei Jahre war es jetzt her, dass der Herzog Richard von England gefangen genommen hatte, um seine Schmach bei Akkon zu rächen und, wie bösere Zungen meinten, das Staatssäckel gehörig aufzupolstern. Vor etwas weniger als einem Jahr war der König ausgelöst worden, für die ungeheure Summe von 100000 Mark Silber, gut 23 Tonnen, von Richards Mutter Alienor überbracht. Damit hätte alles ein gutes Ende haben sollen; zwar musste der Herzog das Geld mit Kaiser Heinrich teilen, weil der Kaiser nun einmal sein Lehnsherr war, doch selbst die Hälfte war mehr als genug gewesen, um in Friedberg und Hainburg Stadtmauern zu errichten und vor Wien eine neue Stadt zu gründen. Außerdem waren prunkvollere Feste gefeiert worden, als sie der Wiener Hof je zuvor gesehen hatte. Auch Reinmar zog wiederholt aus der großzügigen Stimmung des Herzogs seinen Nutzen und hatte allen Grund, dankbar zu sein. Woran all das Geld nichts änderte, war jedoch der Bann des Papstes, der umgehend und sofort nach Richards Gefangennahme erfolgte und immer noch nicht aufgehoben war. Und das, obwohl Leopold sich von Richard hatte versprechen lassen, dass dieser sich beim Papst für ihn einsetzen werde. Bisher hatte es dafür aber kein Anzeichen gegeben.

»Wundert Euch das wirklich?«, hatte der junge Walther gefragt, als Reinmar über die Treulosigkeit der Welt klagte. »Der Herzog kann doch nicht ernsthaft geglaubt haben, dass ihm eine Geisel für die Gefangennahme auch noch dankbar ist.«

»Eines Mannes Wort ist eines Mannes Wort«, hatte Reinmar streng entgegnet, schon, weil Walther eine lose Zunge hatte und zur Respektlosigkeit neigte, etwas, dem man begegnen musste, wenn sein Schüler es in der Welt je zu etwas bringen sollte. Doch im Geheimen musste er dem jüngeren Mann recht geben. Reinmar hatte selbst am Kreuzzug teilgenommen. Er hatte König Richard erlebt, nicht erst bei der Eroberung von Akkon. Der Mann war zu Recht wegen seines Mutes berühmt, der nicht einmal den Tod zu fürchten schien; er versteckte sich nie hinter seinen Leuten. Aber niemand hatte ihm je Milde oder Nachsicht zugeschrieben; Gnadenlosigkeit traf es schon eher. Richard gefiel der Gedanke zweifellos, dass der fromme Leopold seit Jahr und Tag weder an der Messe teilnehmen noch die Beichte ablegen durfte, dass er und alle, die ihm dienten, in den Augen der Kirche nicht besser dastanden als gottlose Ketzer. Der Herzog hatte Gesandtschaft auf Gesandtschaft nach Rom geschickt, um daran etwas zu ändern, aber ohne Erfolg. Reinmar fröstelte. Auch um seine eigene Seele stand es nicht zum Besten, wenn er mit einem Gebannten das Brot teilte, doch er hätte seinem Gönner und Waffenbruder nie deswegen den Rücken gekehrt.

»Warum schickt der Herzog nicht einen Teil des Silbers nach Rom?«, fragte Walther, als wieder ein abschlägiger Bescheid eintraf und der schlechtgelaunte Leopold deswegen umgehend unterhalten und auf neue Gedanken gebracht werden wollte. »Als Buße, versteht sich. Wer weiß, dann würde der Heilige Vater vielleicht …«

»Du wirst noch Glück haben, wenn deiner eigenen Seele die Flammen der Hölle erspart bleiben. Wenn du unbedingt Witze über den Papst reißen musst, mein Sohn, dann tue es, um dem armen Herzog die Zeit zu vertreiben, nicht, um mir meinen Seelenfrieden zu rauben.«

»Aber Herr Reinmar«, sagte der vorwitzige Kerl, »Ihr predigt mir doch tagein, tagaus, dass ein glücklicher Dichter ein schlechter Dichter sei und nur das Unglück unsere Muse zum Singen bringe. Wenn ich Euch wirklich den Seelenfrieden raube, dann solltet Ihr mir eigentlich dafür danken.« So war er, der junge Springinsfeld von der Vogelweide, statt glücklich darüber zu sein, dass ihn Reinmar als Schüler akzeptiert hatte.

Nun war es nicht so, dass es Walther an Fleiß oder Auffassungsgabe mangelte, im Gegenteil. Man brauchte ihm nicht zweimal zu erklären, was ein Werbelied war, ein Frauenlied, ein Tagelied und ein Preislied, warum Aufgesang und Abgesang nötig waren und was ein Wechsellied von einem Gesprächslied unterschied. Er übte Tag und Nacht und steckte seine lange Nase in alle Abschriften der alten Lieder, die Reinmar besaß. Das Einzige, was er so eifrig wie die Kunst des Minnesangs studierte, war zunächst jene Wirtin gewesen, von der er Reinmar in den Ohren gelegen hatte, nur um dann seine sogenannten Studien auf die Frauen bei Hofe auszudehnen. Leider war in Walther – der immer und überall schnell eine eigene Meinung anzubieten hatte – damals die Idee erwacht, dass man doch die Freuden der Liebe ebenso besingen könne wie deren Entbehrung.

»Unsinn. Das mag etwas für die Bauern sein, aber nicht für den Hof«, sagte Reinmar verächtlich. »Wenn zwei sich im Stroh wälzen, wo liegt darin die Poesie? Wo das christliche Ideal? Wir leben in harten Zeiten, Walther. Da ist es die Aufgabe des Dichters und seiner Kunst, die Gedanken auf Schöneres, Hehreres zu richten. Nicht das Leben, wie es ist, sondern das Leben, wie es sein soll. Was gibt es Edleres, als einer Dame zu dienen, ohne die Hoffnung, je wiedergeliebt zu werden? Liebe, die eigene Vorteile erwartet, ist selbstsüchtig. Die aber, die nur gibt, nie nimmt, ist das Beste, was ein christlicher Ritter empfinden kann. Daher ist sie auch der Dichtkunst einzig würdiges Thema.«

»Herr Reinmar, mit Verlaub, wann hat Euch das letzte Mal eine Frau mehr als ein Lächeln geschenkt? Ihr habt Euch schon viel zu lange in einer Burg versteckt, anstatt am wirklichen Leben teilzunehmen. Es ist hart, und es gibt nicht immer genug zu essen auf den Bauernhöfen, weil sie das meiste abliefern müssen. Aber diese Menschen leben, Reinmar, sie lieben, sie lachen und singen miteinander, sie sind da füreinander. Sie werden mit Tieren groß, die balzen und schnäbeln, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Deswegen mag es auf den Bauernhöfen alltäglich sein, im Stroh zu liegen, aber was ist falsch daran? Dort wollen es beide, er sie und sie ihn, und daraus erwächst Liebe, welche die Paare verbindet – nicht aus Verzicht!«

»Deswegen bist du jetzt auch dort und nicht hier«, hatte Reinmar spöttisch erwidert, »weil es auf dem Land so herrlich ist? Der Walther, den ich vor mir sehe und der so eifrig darum bat, bei Hof aufgenommen zu werden, das muss ein Geist sein.«

»Nein, nur ein Mann, der beides kennt und von Frauen mehr als nur angelächelt wird, im Gegensatz zu Euch.«

So ist die Jugend, dachte Reinmar, als er den Herzog auf seinem Ausritt nicht nur begleitete, um frische Luft zu schnappen, sondern auch, um seinem Schüler zu entkommen, Walther und der Allwissenheit eines jungen Mannes, der sein Leben noch vor sich hatte. Es war manchmal nicht auszuhalten, mit ihm zusammen zu sein. War Reinmar vor ein paar Jahren auch so überzeugt gewesen, alles über das Leben und die Liebe zu wissen? Vermutlich. Wenn man Menschen sterben sah, sei es auf dem Kreuzzug durch Pfeil, Lanze oder Schwert, oder an einer Krankheit, wenn die Mädchen, deren Lächeln einem einst das Herz höher hatten schlagen lassen, nach sieben Kindern und noch mehr Fehlgeburten zu alten Frauen wurden, wenn das eigene Herz ein paarmal gebrochen worden war und man nicht länger glaubte, unsterblich zu sein, erst dann verlor man diese jugendliche Selbstgerechtigkeit. Erst dann wusste man, wie kostbar ein Augenblick war. Wie viel die Berührung von Fingerspitzen bedeuten konnte. Warum ein Lied nicht einer wirklichen Frau gelten durfte, denn alles Fleisch war des Todes und zerfiel zu Staub, sondern einem Ideal, das wahrlich alterslos und unsterblich blieb. Walther würde das noch früh genug herausfinden, wenn sein braunes Haar schütter oder grau werden würde, wenn aus den Sommersprossen auf seinem Gesicht Altersflecken geworden waren. Falls er überhaupt so lange lebte, statt sich vorher um Leib und Leben zu reden. Er würde die Wahrheit von Reinmars Worten verstehen, wenn ihn die Gicht plagte und ein warmer Körper nicht mehr tat, als die Winterkälte fernzuhalten, ohne das Herz zu erwärmen. Und doch ist es gut, dass er jetzt noch nicht begreift, wie töricht er oft ist, dachte Reinmar und unterdrückte den Wunsch, selbst noch einmal so sein zu können.

Heute Abend würde er für den Herzog singen, ein gutes Lied, ein zeitloses, darüber, was es hieß, allein durch den Anblick seiner Dame glücklich zu werden. Es würde sie beide der rauhen Wirklichkeit entheben. Vielleicht würde Leopold dabei auch erkennen lassen, warum er die Herzogin seit seiner Rückkehr vom Hoftag in Gelnhausen, wo er mit dem Kaiser zusammengetroffen war, nicht mehr um sich haben wollte. Vielleicht führt das Lied dazu, die beiden wieder miteinander zu versöhnen und das Rätselraten am Hofe verstummen zu lassen. Und wenn das Kaminfeuer stark genug geschürt wurde, dann könnten sie alle zumindest die Winterkälte vergessen, für eine Weile.

Als Reinmar seinem Pferd das Knie in den Leib drückte, um seinem Herrn zu folgen, blendete ihn die Sonne für einen Moment, so dass er blinzelte. Auf diese Weise sah er nicht, was das Pferd des Herzogs zum Scheuen brachte; ein Hase mit weißem Pelz, sagten die anderen Ritter später. Für das Pferd musste es so ausgesehen haben, als würde der Schnee für einen Moment lebendig. Es wieherte erschrocken, stieg auf, und der Herzog, der im Heiligen Land mit den besten Streitern Saladins gefochten hatte, ohne sich eine ernsthafte Verwundung zuzuziehen, konnte sich nicht halten und stürzte.

Zuerst herrschte betretenes Schweigen: Dergleichen passierte dem Herzog einfach nicht. Seine Gefolgschaft wusste nicht, ob sie so tun sollte, als hätten sie nichts gesehen und nichts gehört, vor allem den Aufschrei nicht, als er auf den vereisten Boden prallte. Doch der Herzog schwang sich nicht wieder in den Sattel. Stattdessen lag er auf dem Boden. Sein rechtes Bein stand in einem unnatürlichen Winkel ab, und der Schnee unter ihm färbte sich langsam rot. Das Bein war so gebrochen, dass Knochen spitz aus der Haut hervorstachen.

* * *

Die Feiern, die am Weihnachtstag geplant gewesen waren, wurden abgesagt. Walther war damit beschäftigt gewesen, sich ein Lied auszudenken, um Reinmar zu necken, nichts Ernstes, nur etwas, das dessen ewigem Klageton etwas Abwechslung entgegensetzen würde, als er hörte, dass man den Herzog mit gebrochenem Bein in die Residenz zurückgebracht hatte.

Kein Festtagsschmaus bedeutete jedoch nicht, dass es in dieser Nacht in der Residenz still war. Um Mitternacht, als die meisten zu schlafen begonnen hatten, bestellte der Herzog Spielleute in sein Gemach, und sowohl Walther als auch Reinmar. Zuerst dachte Walther, sie seien hier, um den Herzog von seinen Schmerzen abzulenken. Dann befahl ihnen Friedrich, der mit neunzehn Jahren ältere der Herzogssöhne, so laut wie möglich zu spielen und zu singen, ohne den Wunsch nach einem bestimmten Lied zu äußern oder zu bedenken, dass zwei nicht miteinander abgestimmte Sänger nicht wohlklingender als streunende Katzen sein konnten. Man brauchte kein Ausbund an Klugheit zu sein, um zu begreifen, dass es nur darauf ankam, das Unvermeidliche zu übertönen. Da der Herzog keinen Laut von sich gab, als Walther den Raum betrat, sondern nur mit zusammengebissenen Zähnen dalag, und den Ruf hatte, im Heiligen Land bei glühender Sonne in voller Rüstung mit einem Liedchen auf den Lippen durch die Wüste gelaufen zu sein, schien das zunächst eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme.

Dann aber sah er das Bein, das nicht verbunden war, auf die Wunde, deren Ränder voller Blasen waren, auf das Fleisch, das aussah wie das einer Ente, die man zu lange hatte hängen lassen. Und er bemerkte die gewaltige Axt, die am Bett des Herzogs lehnte.

»Die Wunde wird brandig«, flüsterte Reinmar. »Ich habe das oft genug im Heiligen Land gesehen. Das Bein wird abgenommen werden müssen, sonst ist unser Herr des Todes.«

»Seid Ihr sicher, Vater?«, fragte Friedrich. »Ich habe nach Wien geschickt. Der Medicus wird morgen hier sein.«

»Der wird mir auch nicht anders helfen können«, knurrte der Herzog zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. »Ich weiß, was ich tue.«

»Aber vielleicht lässt sich das Bein doch noch retten«, protestierte Friedrichs jüngerer Bruder, der wie sein Vater den Namen Leopold trug.

Der Herzog ignorierte ihn. »Fangt schon an, zu spielen!«, brüllte er. Der Fiedler und der Trommler hoben gehorsam ihre Instrumente. Walther blickte zu Reinmar. »Ein Erntelied ist lauter«, sagte er mit gesenkter Stimme und brauchte nicht hinzuzusetzen, als eine Klage.

Reinmar gab nicht vor, keine bäuerlichen Erntelieder zu kennen. Stattdessen stimmte er den Sommergruß an, und Walther stimmte ein. Er warf alles über den Haufen, was er in den letzten zwei Jahren am Hof über Zurückhaltung gelernt hatte, und sang so laut, als gelte es, Felsen zu erweichen.

Gegen den markerschütternden Schrei, der die Wände erzittern ließ, konnten sie alle trotzdem nicht ankommen. Ein Aufbrüllen, ein einziges nur; dann fiel der Herzog in endlose Flüche, während der Heiler, der eigentlich für die Pferde zuständig war, sein Bestes tat, um die Blutung zu stillen. Walther unterdrückte die Übelkeit, während er sich zwang, weiterzusingen. Der Herzog, den er nur bei Festlichkeiten erlebte, war für ihn immer ein Wesen aus einer anderen Welt gewesen. Obwohl er ihm dankbar war, bei Hof sein zu dürfen, und durchaus der Meinung, ein Teil des englischen Silbers hätte nicht auf Stadtmauern und die Gewänder der Herzogin verteilt, sondern auch an einen jungen Sänger gegeben werden können, hatte er keine starken Gefühle für den Herzog, weder im Guten noch im Bösen. Bis jetzt. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es sich anfühlen musste, ein Teil seines Beins zu verlieren; das allein genügte, um in ihm Mitleid und Grauen zu erregen, auch ohne den beißenden Geruch nach Blut und dem Inhalt des Darms, den der Herzog unwillkürlich von sich gegeben hatte. Kein Mensch verdiente das.

Was Ihr hier tut, ist Sünde, sagte der englische König in seiner Erinnerung, und es wurde Walther bewusst, dass es bis auf ein paar Tage genau zwei Jahre her war, dass der Herzog Hand an einen Kreuzfahrer gelegt und ihn gefangen genommen hatte. Etwas, an dem Walther sogar einen Anteil beansprucht hatte. Markwart, wäre er jetzt hier, würde ihm sicher raten, umgehend eine Kerze zu stiften und vorsichtshalber ein besseres Leben zu geloben. Doch sein Freund war nicht hier, weil er sich viel zu schnell einschüchtern ließ. Statt glücklich darüber zu sein, dass ihnen der Zufall den erhofften Eintritt zum herzoglichen Hof gewährt hatte, war Markwart bereits mit dem Schmelzen des ersten Schnees wieder in Richtung ihrer Heimat verschwunden.

»Du hast mir versprochen, die Frauen hier wären alle rollig, wie unsere Katzen zu Hause, aber ganz verschwiegen, dass vorher Kupfer und Silber in ihren Händen dafür klingeln muss«, war seine erste Beschwerde gewesen. Außerdem fühlte er sich nicht wohl unter den anderen Bediensteten, die ihn als »Handlanger eines Habenichts« hänselten und mit den angeblichen Gepflogenheiten der hohen Herren: »Die könnten einen krumm schlagen, nur weil ihnen der Magen verstimmt ist. Der Stallmeister schwört, das sei auch schon passiert.« Den größten Trumpf aber sparte er sich bis zum Schluss auf: »Zu Hause kann ich wieder als guter Christenmensch zur Messe gehen und beichten, statt bei einem Fürsten zu leben, den der Papst gebannt hat, und das solltest du auch tun.« Walther hatte schweren Herzens nicht versucht, ihn aufzuhalten, auch wenn Markwart seiner Meinung nach unrecht hatte. Der König von England war nach allem, was man hörte, beileibe keine verfolgte Unschuld gewesen; der Allmächtige hatte gewiss Besseres zu tun, als kleine Sänger zu bestrafen, nur, weil sie die Gunst der Stunde zu nutzen verstanden.

Der Herzog unterbrach seine schmerzgequälte Flucherei, um den Pferdepfleger von sich zu stoßen, so heftig, dass der Mann zu Boden fiel. »Nutzlos«, keuchte er, »nutzlos. Ich will jemanden, der mir helfen kann!«

»Vater, wir haben sofort nach dem Medicus geschickt, ich schwöre es!«

»Noch ein Schlächter hilft mir auch nicht. Bringt mir den Bischof von Passau!«

Das war eine Überraschung. Der Bischof von Passau hätte die Weihnachtsfeiertage eigentlich gar nicht mit einem Exkommunizierten verbringen dürfen und tat es laut Hoftratsch nur deswegen, weil der Herzog versuchte, aus Klosterneuburg ein neues, eigenständiges Bistum zu machen, was ihm selbst in besseren, nicht vom Papst gebannten Tagen nicht zugestanden wäre. Natürlich war jedem klar, warum er das versuchte. Bisher gehörte Wien noch in den Bereich der Erzdiözese Passau, und deren Bischof, Wolfger von Erlau, galt nicht als ein Mann, der Macht abgab. Pfarreien durfte ein Herzog durchaus vergeben, einen Bischof zu ernennen war aber seit geraumer Zeit schon allein dem Papst vorbehalten. Der Herzog hätte aber in Klosterneuburg zu gerne einen Bischof gehabt, der ihm zu Dank verpflichtet war. Seit seiner Ankunft war Wolfger ein paarmal mit dem Herzog hinter geschlossenen Türen zusammengetroffen, und jedes Mal hatte der Bischof danach den Raum mit grimmiger Miene verlassen.

»Den Bischof? Bist du …«

»Ich will ihn sehen«, brüllte der Herzog und setzte zu einer neuen Litanei von Flüchen an.

Walther ertappte sich dabei, wie er auf das knapp oberhalb des Knies abgetrennte Bein starrte, das immer noch auf dem Boden lag, auf die schwärende Wunde, auf den Fuß. Einen Moment lang glaubte er, die Zehen noch zucken zu sehen, und stockte in seinem Gesang. Reinmar war von seinem plötzlichen Verstummen überrascht genug, um ebenfalls innezuhalten, so dass nur noch die Musikanten spielten. Mit einem Mal hörten sie alle den Herzog sehr, sehr deutlich – und der hörte sich auch.

»Habe ich irgendjemandem gestattet, still zu sein? Singt, zum Teufel!«

»Mit Verlaub, Herr«, sagte Reinmar, »Lieder können beruhigend auf die Seele und den Körper wirken, wenn es Gott gefällt. Lasst mich wirklich für Euch singen.«

Das Gesicht des Herzogs wurde ein wenig weicher, doch dann schüttelte er den Kopf. »Du und ich haben zu viel Tote gesehen, als dass deine Lieder für mich lügen könnten, Reinmar. Wenn ich dich anschaue, steht dir Frau Sorge ins Gesicht geschrieben. Lass den Jungen singen, er giert noch zu sehr nach dem Leben, um nicht gut im Lügen zu sein.«

Es war nicht der Zeitpunkt und der Grund, unter dem sich Walther eine Bevorzugung vor Reinmar gewünscht hätte. Er bezweifelte auch, dass der Herzog wirklich auf seine Worte achten würde, doch er ließ sich so etwas nicht zweimal sagen. Schnell nahm er dem Spielmann die Fiedel ab und stimmte ein Lied an. Nicht das, was er für sein bestes hielt, das war nun wirklich nichts für ein Krankenlager, aber das, was ihm selbst darüber weggeholfen hatte, dass die Wirtin Mathilde eine ehrsame Ehe mit einem braven Bürger zum Anlass genommen hatte, ihm nur noch Bier und ein Lächeln vorzusetzen, wenn er sie besuchte. Er wollte nicht riskieren, dass der Fiedler es mit Tönen verschandelte, die nicht die seinen waren. Wenn es ihm gelang, dachte Walther, den Herzog dazu zu bringen, ihm trotz seiner Schmerzen zuzuhören, dann hatte er sein höchsteigenes Weihnachtswunder erhalten, zum zweiten Mal.

Doch der Herzog behielt die Lippen aufeinandergepresst, und der Schmerz in seinen Augen wurde nicht geringer. Worte und Fiedelklang, was war beides gegen das tote Stück Fleisch auf dem Boden, das vorhin noch am Leben gewesen war? Nichts. Was war der Herzog? Einer der mächtigsten Herren des Reiches. In seinem Herzogtum hielt er ihrer aller Leben in seinen Händen, auch in diesem Moment, und doch war er auch ein Mann, dessen Blut in den Verband sickerte, den man ihm eilig angelegt hatte, der nach Schweiß und Kot stank, der mit all seiner Macht keine Linderung für seine Schmerzen erlangen konnte.

Gegen die Natur der Menschen anzuspielen, war eine neue Erfahrung, und Walther nicht gesonnen, sich so leicht geschlagen zu geben. Die Übelkeit in seinem Magen verschwand, obwohl er die Augen nicht mehr abwandte, sondern direkt auf den Herzog starrte. Den Mann, der immer noch leise ächzte, aber nicht mehr fluchte, und dieses Stöhnen legte sich irgendwie zwischen Walthers Töne. Sein eigener Gesang ließ Walthers Blut schneller fließen. Gerade, als er sicher war, noch nie im Leben so gut vorgetragen zu haben, und meinte, so etwas wie Frieden in den Augen des Herzogs aufglimmen zu sehen, da kam der Bischof von Passau mit einem Diener und einem weiteren jungen Mann in das Gemach, wie ein Wind mit hastig angelegten Roben und betonter Wichtigkeit. Walther wurde wieder zu einem Teil des Gesindes, das sich in den Ecken herumdrückte, so kam es ihm jedenfalls vor, und seine Töne stolperten und verklangen. Dann befahl er sich, nicht töricht zu sein. Es war nur ein Lied gewesen, um einen Kranken abzulenken. Mehr hatte es auch nicht sein sollen. Und wer wollte schon immer das Zentrum der Aufmerksamkeit sein? Der Herzog war der Mittelpunkt, und gerade jetzt wollte Walther gewiss nicht mit ihm tauschen.

Bischof Wolfger war ein großer Mann mit schlohweißem Haar, doch der Gestalt eines Reiters, der noch jedes Pferd bezwingen konnte. Anders als die meisten Kirchenmänner, die Walther gesehen hatte, trug er keine Haube, sein Gesicht war nicht fahl wie Hostien, sondern braun von Sonne und Wind. Seine Augen blitzten grau, aber ohne Zorn oder Mitleid. Er warf einen Blick auf das abgehackte Bein des Herzogs und trat näher.

»Wie ich sehe, steht es schlecht um Euch, Euer Gnaden«, sagte er sachlich.

»Ich will die Absolution«, entgegnete der Herzog unvermittelt.

»Dazu müsstet Ihr erst beichten, und Ihr wisst, dass ich Euch die Beichte derzeit nicht abnehmen kann.«

»Ihr wisst, was ich meine. Ich … Ihr müsst den Bann von mir nehmen. Wien bleibt weiter Teil Eurer Diözese, das schwöre ich Euch.«

»Und ich freue mich, das zu hören«, entgegnete der Bischof unbeeindruckt. »Trotzdem kann ich den Bann nicht von Euch nehmen, ehe Ihr nicht die Bedingungen des Heiligen Vaters erfüllt.«

Das war das Erste, was Walther über Verhandlungen mit dem Papst hörte. Der Hofklatsch hatte nichts darüber gewusst. Er schaute zu Reinmar, dessen Augen sich geweitet hatten. Also waren auch die Freunde des Herzogs davon ausgegangen, dass der Bischof nur wegen seiner Diözese-Angelegenheiten hier weilte.

»Sehe ich aus, als ob ich bald wieder auf Kreuzzug gehen kann?«, ächzte der Herzog. »Um Christi willen, habt doch ein Einsehen.«

Der Bischof zögerte. »Einer Eurer Söhne kann an Eurer statt gehen. Ich bin sicher, dass der Heilige Vater damit einverstanden wäre.«

Walther blickte zu den beiden Söhnen des Herzogs. Leopold schaute geradezu begeistert drein und öffnete den Mund, wie um sich freiwillig zu melden.

»Du bist noch viel zu jung, Bruder«, sagte Friedrich. »Ich werde gehen«, fügte er, an den Bischof gewandt, hinzu. »Sobald es meinem Vater bessergeht, versteht sich. Es wird mir eine Ehre sein, das Heilige Land an seiner statt zu besuchen.«

»Dessen bin ich sicher«, erwiderte der Bischof nicht unfreundlich, »doch wenn Ihr ein Gelübde für einen Kreuzzug ablegen wollt, dann muss es gültig sein, ganz gleich, ob es Eurem Herrn Vater bessergeht oder nicht.«

»Ihr seid die Nächstenliebe selbst, wie?«, stöhnte der Herzog.

»Ich bin nicht derjenige, der Hand an einen Kreuzfahrer gelegt hat«, gab der Bischof ungerührt zurück. »Gut denn, Herr Friedrich wird an Eurer Stelle gehen. Ihr wisst, dass es noch andere Bedingungen gibt.«

»Ich werde die Geisel gehen lassen. Hat mir ohnehin nichts genutzt, dass ich Richards Neffen an meinem Hof durchfüttere.«

»Auch das freut mich zu hören, und König Richard wird es wohl noch mehr freuen. Aber Ihr wisst genau, auf welche Bedingung des Heiligen Vaters ich mich bezog.«

»Das Geld, das Geld, immer das verfluchte Geld. Ich habe das englische Silber nicht mehr!«

Die Miene des Bischofs wurde steinern. »Das ist eine Lüge, und Ihr wisst es. Ihr habt bei weitem nicht alles ausgegeben. Hängt Euer Herz mehr am Mammon als an Eurem Seelenheil, nun, da Gott Euch gezeigt hat, dass mit seinen Gesetzen nicht zu spaßen ist?«

Walther warf Reinmar einen bedeutsamen Blick zu, den der ältere Sänger jedoch nicht auffing, da er betroffen auf seinen Freund und Gönner starrte.

»Ich … ich habe nie … Ihr …«

»Vielleicht sollten wir unter vier Augen darüber sprechen«, meinte der Bischof bedeutsam.

Der Herzog stemmte sich auf seinen Armen etwas höher, um Wolfger besser in die Augen sehen zu können.

»Vertraut Ihr Eurem Bastard nicht?«, fragte er höhnisch und schaute zu dem jungen Mann, der schräg hinter dem Bischof stand.

»Der Sohn meiner verstorbenen Gemahlin«, sagte der Bischof eisig, »die ich in Ehren bestattet habe, ehe ich in den geistlichen Stand trat, genießt mein Vertrauen. Ich hatte an Eure Dienerschaft gedacht.«


Kurz darauf fand sich Walther gemeinsam mit den restlichen Dienern und Höflingen und zu seiner Überraschung auch mit den beiden Söhnen des Herzogs sowie dem Sohn des Bischofs vor der Tür des Gemaches wieder, in dem Vorzimmer, wo sonst die Knappen schliefen. Während sich alle um die Herzogssöhne scharten, fragte sich Walther, ob Reinmar und er sich nicht entfernen sollten. Seine Müdigkeit war völlig verflogen. Ob es nun das Echo des Gefühls war, mit einem Lied wenigstens für einen Augenblick die Natur bezwungen zu haben, oder die reine Neugier darauf, ob der Herzog vom Bann erlöst werden würde oder nicht, war ihm nicht klar. Ganz zu schweigen von der Neugier, wo der Rest des englischen Silbers geblieben war, wenn sich der Bischof so sicher gab, dass es am Hof zu Wien noch vorhanden sein musste.

Friedrich, des Herzogs ältester Sohn, wandte sich an Reinmar: »Euer Schüler macht Euch Ehre.«

»Danke, Euer Gnaden«, murmelte Reinmar, der nicht sehr begeistert über dieses Lob wirkte.

»Mein Vater«, fuhr Friedrich fort, »wird wohl keinen Schlaf mehr in dieser Nacht finden in seinem Zustand, nicht, bis der Medicus eintrifft. Wenn Seine Gnaden der Bischof seine Unterredung beendet hat, sollte daher weiterhin für Ablenkung gesorgt sein. Ihr selbst seid, mit Verlaub, nicht mehr der Jüngste, doch Euer Schüler mag bleiben. Wie war noch Euer Name?«, schloss er, nun an Walther gewandt.

Gekränkt zu sein, weil er dem Herzogssohn noch nicht früher aufgefallen war, lohnte sich nicht. Außerdem hatte Walther die letzten zwei Jahre damit verbracht, so viel wie möglich von Reinmar zu lernen; zu viel vielleicht? Wenn er nur wie dessen Echo klang, dann war es kein Wunder, wenn keiner der hohen Herren sich die Mühe machte, sich seinen Namen einzuprägen.

»Bis man mich die Nachtigall von Wien nennt, wird es Walther von der Vogelweide tun, Euer Gnaden.«

Er konnte den missbilligenden Blick Reinmars fühlen, obwohl er jetzt in Friedrichs Richtung schaute. Es war leicht, zu erraten, was sein Lehrmeister dachte: dass man einen solchen scherzenden Tonfall nicht gegenüber einem hohen Herrn anschlug, auch nicht gegenüber einem Sohn, dessen Vater gerade um den Preis für sein Seelenheil rang. Aber Reinmar hatte bereits alles erreicht, was er in seinem Leben erreichen wollte. Wenn Walther immer nur getan hätte, was sich ziemte und was auf aller Leute Gefühl Rücksicht nahm, dann wäre er jetzt noch in jenem Nest in Tirol, wo sich die Füchse und Hasen gute Nacht sagten und eine Familie von dem, was bei einem einzigen Festmahl des Herzogs auf die Tische in der großen Halle kam, ein gutes Jahr leben könnte. Nein, er wollte mehr.

Der junge Leopold und der Sohn des Bischofs, die gerade noch höfliche Konversation betrieben und Walther nicht beachtet hatten, hoben beide die Augenbrauen. Doch auf Friedrich kam es an – und der verschränkte zwar die Arme ineinander, doch klang keineswegs verärgert, als er entgegnete: »Bescheiden seid Ihr also auch? Ein geltungsbedürftiges Gemüt würde sich mit einem Adler vergleichen, doch Ihr, Ihr seht Euch als einen Vogel, der von den Welschen im Süden verspeist wird.« Das war eine Herausforderung, die gleichzeitig bewies, dass Friedrich Humor hatte und nicht so in Sorge um seinen Vater war, dass er sich nicht auch auf andere Dinge konzentrieren konnte.

»Ein Adler hat Herrscherpflichten über das Vogelreich«, sagte Walther und nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass der Spielmann, auf den keiner der Herren achtete, ihm eine spöttische Grimasse schnitt, »und das wäre eine zu hohe Bürde für einen kleinen Vogel wie mich. Aber den Gesang einer Nachtigall vergisst man nie, selbst wenn die Welschen sich daran den Magen verderben. Was ihnen nur recht geschieht; schließlich haben sie uns mit ihren Troubadouren oft genug die Suppe versalzen.«

Das veranlasste den Bischofssohn, sich einzumischen. »Nur ein neidischer Dreckspatz«, sagte er vernichtend, »könnte etwas gegen den herrlichen, erhabenen Gesang der Troubadoure haben.«

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, kannte Walther von den Liedern, die in Frankreich verfasst wurden, nur die, welche König Richard zitiert hatte. Da er die Langue d’oc vom anderen Rheinufer nicht beherrschte, musste er sich bei den Liedern der Troubadoure auf Reinmars Beschreibungen verlassen, und die waren natürlich durch das eingeschränkt, was Reinmar mochte oder nicht schätzte. Er hatte einfach nur ein Wortspiel gemacht, um Friedrichs Bemerkung eine neue Wendung zu geben, und nahm sich vor, mehr von der welschen Sprachen zu lernen. Aber hier und jetzt galt es, so zu tun, als wüsste er bereits, von was er redete, und vor allem nicht eingeschüchtert zu wirken. Einfach nur »wie Euer Gnaden meinen« zu murmeln und zurück in die Ecke zu kriechen, dazu war jeder Dummkopf fähig. Es lag ihm eine Antwort über Dompfaffen auf der Zunge, doch sein gesunder Menschenverstand war stärker. Ganz gleich, welche Schwierigkeiten der Herzog derzeit mit dem Bischof hatte, Wolfger und sein Sohn waren herzogliche Gäste. Einen solchen zu beleidigen, konnte Walther das Dach über dem Kopf kosten.

Der Herzog nannte ein paar Tiere sein Eigen, von denen Walther vor seiner Ankunft in Wien noch nie gehört hatte und die Leopold seinen Gästen stolz zu präsentieren pflegte. Einige stammten aus dem Heiligen Land, andere aus dem fernen Byzanz, denn die Mutter des Herzogs war eine oströmische Prinzessin gewesen. Unter diesen Tieren war auch ein Vogel, Papagei genannt, der einzelne Worte nachsprechen konnte, und die Erinnerung an das Tier mit dem krummen Schnabel und der schnarrenden Stimme kam Walther nun zu Hilfe.

»Selbst ein Spatz«, sagte er höflich, »hat einen eigenen Gesang, und daher danke ich Euch, Herr. Nicht auszudenken, hättet Ihr mich einen Papageien geheißen, der den Troubadouren einfach nur nachplappert, was sie von sich geben!« Er sah, wie Reinmar zusammenzuckte. Nicht auf eine verlegene Art wie vorhin, sondern als fühle er sich durch Walthers Bemerkung selbst getroffen und gekränkt, was überhaupt nicht in Walthers Absicht gelegen hatte; der Satz war für den Bischofssprössling gedacht gewesen.

Einen Herzschlag lang herrschte Schweigen im Raum, bis Friedrich in Gelächter ausbrach, das gleiche tiefe, rauhe Gelächter aus vollem Hals, das man von seinem Vater kannte. Der Bischofssohn zuckte die Achseln, doch er lächelte zumindest.

»Herr«, mahnte Reinmar mit dünner Stimme, »haltet Ihr es wirklich für angebracht, zu lachen, während Euer edler Vater in seinen Qualen daniederliegt?«

Walther hatte noch nie erlebt, dass Reinmar einem Mitglied der herzoglichen Familie gegenüber tadelnd geworden war. Für Reinmar war Respekt gegenüber Höhergestellten eines der wichtigsten Dinge im Leben.

»Herr Reinmar hat recht«, sagte Leopold scharf. »Wir sollten alle in die Kapelle gehen und um die baldige Genesung unseres Herrn Vater beten, nicht losen Scherzen lauschen.« Unglücklicherweise wurde die Wirkung seines Tadels dadurch beeinträchtigt, dass die Stimme des Fünfzehnjährigen bei den »losen Scherzen« empört nach oben kletterte; es kostete Walther einiges an Beherrschung, um keine Miene zu verziehen. Der Fiedler aber grinste, was sich als verhängnisvoller Fehler erwies. Peinlich berührt von seinem unmännlichen Piepsen, drehte sich Leopold in Richtung des Gangs, erblickte dabei den Spielmann und wurde feuerrot.

»Hundsfott!«, schrie er und schlug nach dem Spötter. »Wagst du es, über das Leiden meines Vaters zu lachen!«

Der Spielmann war größer und stärker als Leopold und bestimmt zehn Jahre älter, doch er rührte sich nicht, um sich wegzuducken. Er nahm den Schlag hin, wie es seinem Stand entsprach: Er war ein Nichts, und Leopold, der Sohn eines Herzogs, war alles. Es sei denn, ein König oder Kaiser taucht am Wiener Hof auf, dachte Walther, und das wird so schnell nicht mehr geschehen. Er konnte den Blick nicht von dem Geschlagenen abwenden. Das hätte er selbst sein können, wenn er nicht darauf bestehen würde, Herr Walther von der Vogelweide zu sein. Doch dann wandte sich Leopold erneut um, immer noch mit erhobener Faust, und Walther wurde bewusst, dass auch ein Herr Walther tief, tief unter einem Fürstensohn stand.

»Und Ihr, Ihr …«

»Bruder«, unterbrach ihn Friedrich, »du hast recht. Lass uns in die Kapelle gehen und für unseren Herrn Vater beten. Das ziemt sich mehr als alles andere.«

Leopold hielt inne und blinzelte. Dann entschied er, dass jetzt darauf zu bestehen, erst noch seinen Zorn auszutoben, ihn wie einen Heuchler dastehen lassen würde, und nickte. Der Bischofssohn versicherte hastig, auch er würde selbstverständlich gerne für den Herzog, seine Genesung und eine baldige Wiederaufnahme in den Schoß der Kirche beten. Alle Herren machten sich auf den Weg, einschließlich Reinmars. Doch als Walther ihnen folgen wollte, legte Friedrich einen Arm um seine Schulter und hielt ihn zurück.

»Herr Walther, ich wünsche nach wie vor, dass Ihr meinen Vater von seinen Schmerzen ablenkt, wenn der Bischof wieder gegangen ist.«

»Selbstverständlich, Euer Gnaden.«

Zu Walthers Überraschung zog ihn der Herzogssohn noch ein wenig näher und raunte leise: »Und ich wünsche auch zu erfahren, wo das restliche englische Silber aufbewahrt wird. Findet das für mich heraus, dann werdet Ihr Euer Lied weiter in Wien singen können. Wenn nicht, dann werfe ich Euch Leopold zum Fraß vor.«

Das Spiel der Nachtigall
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