Kapitel 33

Es war Hugo, der Walther den Pelzmantel überreichte, den schönen, warmen Biberpelzmantel, der einem Prälaten wohl angestanden hätte und mehr als willkommen war. Walther nahm sich vor, ein besonders warmherziges Preislied auf Wolfger zu schreiben. Trotzdem, das Gefühl nagte an ihm, dass der Bischof mehr als nur ein Preislied erwartete, sonst hätte er sich nicht die Mühe gemacht, Walther über die Alpen mitzunehmen. Aber auch, als die Sprache um sie herum aufhörte, Deutsch zu sein, und zu der Volgare der italischen Landstriche wurde, plauderte Wolfger unverändert über alles Mögliche, nur nicht über seine Gründe. Als Walther Hugo auszuhorchen versuchte, sonst immer eine sichere Quelle, stieß er auf Granit. Anscheinend lernte selbst Hugo dazu. Dafür erwähnte er jedoch etwas anderes, und das war auch beunruhigend.

»Wolfgers Patriarchat ist noch nicht bestätigt«, erzählte Walther Judith. »Genauso wenig wie Konrads Bischofssitz in Würzburg es damals war, ehe er nach Rom zog, um sich dem Papst zu unterwerfen.«

»Ich dachte, christliche Bischöfe sind alle dem Papst unterworfen.«

»Das sollten sie wohl, und das hätte Innozenz auch gerne. Aber wenn sie es wären, dann hätte Philipp bei uns längst keine kirchlichen Fürsten mehr. Ich bin nicht sicher, wer von ihnen lieber Bischof, wer Fürst sein will, wenn sie entscheiden müssten.« Walther grinste. »Ich hätte dann ein paar Zuhörer weniger. Und keinen neuen Pelzmantel.«

»An deiner Stelle würde ich nicht darüber lachen«, sagte Judith ernst. »Was ist, wenn der Preis der Bestätigung von Wolfgers Patriarchat ist, dass er dich dem Papst übergibt? Was ist, wenn er dich deswegen mitgenommen hat?«

Es war ein eigenartiges Gefühl, das Walther erfasste, gleichzeitig heiß und kalt. Die Vorstellung, er könnte mit seinen Liedern genug Staub aufgewirbelt haben, um den Papst zum Blinzeln zu bringen, dazu, sich von ihm verwundet zu fühlen, von Walther von der Vogelweide, war besser als der süßeste Wein. Judith musste inzwischen seine Gedanken lesen können, denn sie gab ihm einen Schlag auf den Kopf.

»Das ist kein Ruhmesblatt in deiner Lorbeerkrone, von dem wir hier reden, du Ausbund an Eitelkeit, sondern ein päpstlicher Kerker! Oder noch Schlimmeres! Sei nicht so unerträglich eitel und überlege dir lieber, wie schnell wir uns vom Tross entfernen können, wenn es einmal sein muss!«

»Es ist keine Eitelkeit, wenn sie sich auf logische Überlegungen gründet«, gab Walther zurück, doch er wusste, was sie meinte, und das sorgte für die Kälte, die seine Wirbelsäule emporkroch und sich mit der heißen Befriedigung mischte. Er versuchte, gedanklich einen Schritt zurückzutreten, das Ganze vernünftig zu überlegen. »Wolfger war bisher nie doppelzüngig, zumindest für einen Bischof. Er hat mir keine Versprechungen gemacht, die er nicht gehalten hat, und obwohl er wissen muss, dass ich seinerzeit auch Herzog Friedrich einiges über ihn berichtete, nicht nur ihm über Friedrich, hat er sich nie verärgert deswegen gezeigt.«

»Das mag ja alles sein, aber bist du ihm auch sein Patriarchat wert?«

Es lag Walther auf der Zunge, eine Bemerkung darüber zu machen, dass Judith dieser Tage zu leicht gesonnen war, jeden für einen Menschenverkäufer zu halten, und dass Wolfger nicht ihr Onkel oder ihr Vetter war, doch er wusste nur zu gut, dass er ihr mit einer solchen Bemerkung weh getan hätte. »Nein. Doch so gut meine Lieder auch sind«, sagte er stattdessen, »in meiner übergroßen Bescheidenheit bezweifle ich trotzdem, dass sie dem Papst zu Ohren gekommen sind. Er spricht, wie ich hörte, kein Deutsch. Außerdem hat ihm Wolfger etwas viel Besseres anzubieten, um sich bei ihm ins rechte Licht zu setzen: Die Aussicht auf ein Ende des Schismas schlägt alles, fürchte ich, selbst meine unsterblichen Verse.« Judith wirkte nicht überzeugt.

»Du solltest den Bischof geradeheraus fragen.«

»Was? Euer Gnaden, beabsichtigt Ihr, mich unliebsamen Störenfried dem Heiligen Vater zum Fraße vorzuwerfen? Wenn er es nicht beabsichtigt, wird er beleidigt sein, und ich verliere einen Gönner. Wenn er es beabsichtigt, dann wird er es mir ganz gewiss nicht bestätigen.«

»Euer Gnaden, gibt es nicht noch mehr, was ich für Euch tun kann? Ich hätte gerne einen weiteren Pelzmantel für die Magistra, die ebenfalls friert, und mir gehen allmählich die lobenden Worte für Euer Gnaden aus«, gab Judith zurück. Walther zwickte sie in die Nase.

»Wenn du frierst, will ich dich wärmen. Gerne mit, lieber aber ohne meinen neuen Mantel, dafür auf dem teuren Stück«, murmelte er. »Aber nicht, wenn du mir unterstellst, dass mir jemals die Worte ausgehen!«

»Nun, dann lass mich die weichen Haare deines Mantels spüren, überall«, begann sie und fing an, ihn auszukleiden. Bald hatten sie beide Besseres zu tun, als sich über Wolfger und seine Ziele den Kopf zu zerbrechen.

Danach lagen sie zusammengekuschelt auf dem schmalen Lager, das sie in einer Klosterzelle teilten. Miteinander einzuschlafen, miteinander aufzuwachen, die Wärme eines geliebten Gefährten zu spüren, darauf hätte Judith nicht mehr verzichten wollen, seit sie es mit Walther kennengelernt hatte. Auf anderes ihrer Zweisamkeit auch nicht, wenn sie ganz ehrlich sich selbst gegenüber war. Eins zu sein, zu träumen und irgendwann an ihrem Gesäß, ihrem Oberschenkel, ihrer Hand zu spüren, was er fühlte, schon bevor sich seine Hand zu ihrem Busen oder ihren Schenkeln stahl, sich einlullen zu können auf das, was danach kam, kommen musste, sich überraschen zu lassen, ihn zu überraschen, das war Teil ihres neuen Lebens geworden, und sie genoss es aus vollen Zügen.

Doch die Fragen, die sie quälten, verschwanden nicht.


Kurz hinter Mailand überraschte Wolfger Walther damit, dass er ihn zur Seite zog und fragte, ob er willens sei, einen weiteren Teil des großen Liedes über die Nibelungen zu lesen.

»Dann ist der Verfasser hier bei uns?«, fragte Walther, aufgeregt und etwas verärgert von der Vorstellung, in Wolfgers Gefolge könne sich just der Dichter verbergen, den er am meisten kennenlernen wollte, und dieser habe es bisher fertiggebracht, nicht das Wort an ihn zu richten, keinen Funken der Neugier für ihn zu zeigen. Am Ende hielt der Nibelungendichter Walthers Lieder für nicht bedeutend genug, um ihren Verfasser einer Unterhaltung würdig zu befinden? Das war eine bittere Aussicht, schlimmer als alles, was Walther in dieser Hinsicht empfunden hatte, seit er noch ein Junge und Reinmar für ihn der Quell aller poetischen Weisheit gewesen war.

»Gewissermaßen. Aber wollt Ihr nun …«

»Liebend gerne«, gab Walther zurück. Er mochte sich insgeheim Sorgen darum machen, nicht so gut zu sein, wie er glaubte, und das von einem berufenen Mund zu hören, aber im Gegensatz zu einem unfreiwilligen Aufenthalt in den päpstlichen Kerkern war das kein Schicksal, vor dem er weglaufen würde.

Wolfger gab ihm einen engbeschriebenen Pergamentbogen. Im Gegensatz zu den sorgsamen Abschriften, die er Walther bisher überlassen hatte und die von seinen Kanzleischreibern gemacht worden sein mussten, war die Schrift diesmal hastig, voller ausgestrichener und überschriebener Worte. Walthers Herz setzte einen Schlag aus. Das musste ein erster Entwurf sein.

Und das konnte nur bedeuten …

»Bei allen Heiligen und der Jungfernhaut Marias«, sagte er und starrte Wolfger an. »Ihr seid es!«

»Diesen blasphemischen Fluch will ich nicht gehört haben, Herr Walther, und ich bin was?«

»Ihr seid der Dichter. Das ist Euer Werk!«

Wolfger schaute erstmals, seit er ihn kannte, verlegen drein, räusperte sich und verschränkte seine Finger ineinander. »Wie kommt Ihr darauf?«

»Weil sich der Verfasser leisten kann, einen Entwurf auf Pergament zu schreiben statt auf Wachs. Kein fahrender Sänger, auch nicht einer mit einem festen Platz bei Hofe, würde das tun, weil ihm das Pergament zu kostbar wäre.« Er fuhr mit den Fingern über den Bogen voller krakeliger Schriftzüge. »Das erklärt auch, warum sich alle Sänger darüber streiten, wer denn nun dieses neue Epos verfasst, jeder andere Namen nennt und sich alle nur einig sind, dass es jemand aus Eurem Haushalt sein muss. Nur dass ich ihn dort in all den Jahren, die ich zu Euch komme, nie kennengelernt habe.«

»Was würde mich daran hindern, mich als Dichter zu offenbaren?«, fragte Wolfger prüfend. »Es ist nichts Ehrenrühriges dabei, Lieder zu verfassen. Der verstorbene Kaiser Heinrich, Gott sei seiner Seele gnädig, denn sonst wird es keiner je sein, hat es getan. Gar mancher Mönch tut es.«

»Ihr könntet nicht frei von der Leber weg schreiben, wenn sich jeder geistliche und weltliche Fürst, mit dem Ihr verhandelt, fragen muss, ob er nicht auftaucht in diesem Lied«, gab Walther zurück und wunderte sich, dass er nicht früher darauf gekommen war. Die Könige, die das Nibelungenlied beschrieb, waren wirklich alles andere als edel: Gunther griff zu Lug und Trug; Hagen war ein Mörder; Siegfried ließ sich von der Aussicht auf eine neue Frau bestechen, eine andere zu betrügen; Brünhild und Kriemhild brachten mit ihrer Rachsucht Verderben über so viele.

»Wenn Ihr recht hättet«, sagte Wolfger ausdrucklos, »könnte ich das unmöglich bestätigen. Aber ich würde trotzdem gerne wissen, was Ihr von dem neuesten Teil des Liedes haltet, zumal Eure Bemerkungen über das Manuskript schon immer sehr hilfreich für den Dichter waren. Als ein Sänger, der einen anderen beurteilt, nicht mehr, aber auch nicht weniger.«

»Habe ich jemals etwas anderes getan?«

»Nicht, solange Ihr noch dachtet, dass der Verfasser dieses Liedes ein Mann wie Ihr selbst wäre«, sagte Wolfger. »Es sei mir fern, Euch etwas zu unterstellen, Herr Walther, doch derzeit bezahle ich Euer täglich Brot. Da wäre es nur natürlich, wenn Ihr nun die schärferen Worte zurückhieltet.«

Das Gefühl einer neu entdeckten Verwandtschaft war unerwartet – und unerwartet heftig. Walther wusste nur zu gut, wie sehr man sich nach jemanden sehnen konnte, der wirklich in der Lage war, das, was man schrieb, zu beurteilen. Deswegen hatte es ihm so viel bedeutet, Reinmar zu beeindrucken, selbst als sie den österreichischen Hof durch ihre wechselseitigen Sticheleien und ihre Fehde mehr unterhielten als durch neue Lieder. Das Lob der Welt tat gut, gewiss, aber jemand, der sich wahrhaft auf die Kunst der Worte verstand, war gleichzeitig der beste und gefährlichste Zuhörer, den ein Sänger haben konnte. Dass Wolfger ihn ausgewählt hatte, das war ein Ausdruck von Respekt, dem ihm niemand mehr nehmen konnte.

Walther verstand allzu gut, warum Wolfger ein solches Geheimnis um das Lied gemacht hatte: Er war in der Tat zu mächtig, als dass ihm irgendjemand, ganz gleich, ob hoch- oder niedriggestellt, unbefangen die Meinung kundtun konnte. Ob Freund oder Feind des Bischofs von Passau, jeder würde ihn, nicht seine Kunst beurteilen.

»Ich werde Euch in Versen schmeicheln, aber ich werde Euren Versen nicht schmeicheln«, antwortete Walther mit einem Lächeln. »Soll ich das beschwören, oder glaubt Ihr mir auch so, Euer Gnaden?«

»So, wie ich Euch nur je geglaubt habe«, gab Wolfger zurück. An seinem Talent zur doppeldeutigen Formulierung hätte man längst den Dichter erkennen können, entschied Walther und versenkte sich in den neuen Abschnitt der Geschichte, in der unglückliche Eide, Rachsucht und Treue zum falschen Mann drauf und dran waren, für den blutigen Untergang ganzer Volksstämme zu sorgen.


»Aber was er von dir will, hat er dir immer noch nicht klargemacht«, sagte Judith unbeeindruckt, als er ihr davon erzählte und gleichzeitig verdeutlichte, was für ein Geheimnis das bleiben müsse.

»Doch, das hat er. Du verstehst einfach nicht, was es bedeutet, einen Mitdichter als Leser …«

»Ich nehme an, es ist ein ähnliches Gefühl wie das, wenn ein Arzt einen anderen, der sein Handwerk wirklich beherrscht, bei einem schwierigen Eingriff beobachtet. Aber dazu braucht er dich nicht auf dieser Seite der Alpen. Er hätte dich bei Philipp lassen und im Frühjahr Boten schicken können.«

»Das ist nicht dasselbe. Im Übrigen konnte er keineswegs sicher sein, dass seine Boten mich bei Philipp angetroffen hätten. Weißt du, ich kann ihn verstehen. Er wird im Verlauf seiner Geschichte besser und besser, und wenn man so etwas Gutes verfasst, dann will man keinen Augenblick länger auf das Urteil warten, als es unbedingt sein muss.«


»Ich muss mit Euch über die Magistra sprechen«, sagte Wolfger am nächsten Tag, »über die Magistra und den höchst erhabenen Alexios. Zeit scheint mir von höchster Bedeutung zu sein, und daher erachte ich es als sinnvoll, wenn Alexios, statt mit mir nach Rom zu kommen, mit der Magistra geradewegs nach Salerno reist, um dort den nötigen Eingriff vornehmen zu lassen. Wenn er dem Papst vorgestellt wird, könnte das sehr viel länger als nur die zwei Stunden einer Audienz dauern, vor allem dann, wenn Seine Heiligkeit an der Aufrichtigkeit seines Versprechens bezüglich des Schismas zweifelt. Inzwischen dürfte überall im Reich bekannt sein, dass Philipp seine Unterstützung für den neuen Kreuzzug erklärt hat, und daher sollten Eingriff wie Heilung eher früher als später geschehen, damit Alexios mit den Rittern der Staufer weiter nach Byzanz reisen kann, wenn sie hier eintreffen.«

Das klang vernünftig, doch Walther fragte sich, warum Wolfger mit ihm darüber sprach, nicht mit Alexios oder Judith, und brachte das so höflich wie möglich zum Ausdruck.

»Weil ich Euch darum bitten möchte, mit mir nach Rom zu reisen, statt mit der Magistra nach Salerno. Ihr könnt ihr später nachfolgen, denn ich gehe doch recht in der Annahme, dass sie eine Weile dort zu verweilen gedenkt?«

Walther nickte, doch Judiths Misstrauen musste ihn trotz aller Begeisterung für das Nibelungenlied angesteckt haben. Wie sollte er Wolfger in Rom nützen? Zum Dichten kam der Bischof und noch nicht bestätigte Patriarch dort gewiss nicht.

»Ich brauche einen Zeugen«, sagte Wolfger, und daraus schloss Walther, dass es mit seiner Selbstbeherrschung gelegentlich doch haperte, wenn der Bischof ihm die Gedanken von der Stirn ablesen konnte. »Der törichte Neffe des Reichshofmarschalls scheint mit jedem Tag mehr zu vergessen, dass seine Gegenwart auf dieser Reise, statt in einem ungeweihten Grab, ein Beweis außerordentlicher Gnade ist. Ihr habt Botho von Ravensburg an jenem Tag in Würzburg gesehen, Herr Walther?«

»Nicht, wie er zuschlug, doch ich habe das Blut an Hand und Mantel gesehen, als er floh, und woher er gerade kam.«

»Das dürfte genügen, zumal er nicht leugnet. Es sei denn, Ihr wollt Herrn Botho das Blut, das er so bereitwillig vergießt, nicht schwitzen sehen, vereint mit viel Angstschweiß, der ihn dann in eine etwas bußfertigere Stimmung versetzt?«

»Es gibt wenige Menschen, die einen solchen Schweißausbruch mehr verdient haben, Euer Gnaden«, entgegnete Walther und willigte ein, mit Wolfger nach Rom zu gehen.

* * *

Die Aussicht darauf, Salerno ohne Walther wiederzusehen, verursachte Judith gemischte Gefühle. Einerseits hatte sie sich darauf gefreut, ihm die Stadt zu zeigen, die sie immer noch mehr als jede andere als die ihre empfand. Die Stadt, in der sie erwachsen geworden war, in der sie ihren Beruf erlernt hatte. Andererseits wusste sie, dass sie von dem Moment an, in dem sie vor einem Mitglied der jüdischen Gemeinde von Salerno mit Walther an ihrer Seite erschien, eine Ausgestoßene sein würde, ganz gleich, ob sie sich nun als seine Ehefrau ausgab, was die Taufe voraussetzte, oder nur bekannte, mit einem Christen zusammenzuleben. Salerno würde der erste Ort sein, an dem sie alten Freunden gegenüberstehen und in ihren Augen die Verachtung für den Verrat lesen würde, selbst wenn sie ihn so, wie diese denken mussten, nicht begangen hatte.

Nicht bei allen alten Freunden, gewiss. Es gab einige, die selbst Christen waren, wie Salvaggia oder Judiths Lehrerin Francesca. Doch sie würde am Grab ihres Vaters stehen und wissen, dass dies nicht das Leben war, was er für sie ersehnt hatte. Ihr Vater hatte ihr immer viel Freiheit gelassen, aber er hatte sie sich vermählt mit dem Sohn Rabbi Eleasars gewünscht. Die Vorstellung, sie in einem Verhältnis mit einem Christen zu sehen, hätte ihn entsetzt, und die Verbindungen zu Walther und Gilles wären für ihn noch dazu ehrlose Hurerei gewesen. Er könnte vielleicht Verständnis dafür haben, dass sie sich als Christin ausgab, vor allem, da sie nicht die Taufe empfangen hatte und weiterhin die jüdischen Gebete sprach, aber selbst das bezweifelte sie. Alles, was sie heute war, hätte ihm das Herz gebrochen.

All das war ihr nicht neu, aber darum zu wissen, war eine Sache, es am eigenen Leib zu erfahren, eine andere. Noch dazu war Walther sehr gut darin, Menschen gegen sich aufzubringen, wenn er verärgert war und glaubte, sich verteidigen zu müssen. Sie stellte sich ihn in einem Raum mit Meir und Eleasar vor und bezweifelte, dass dabei Gutes herauskommen würde. Wenn sie hingegen zuerst alleine nach Salerno kam, dann würde es zumindest etwas leichter werden. Ihre alten Freunde würden sie zuerst als die Leibärztin einer Königin und Ärztin eines zukünftigen Kaisers wiedersehen. Je nachdem, ob Meir inzwischen glücklich verheiratet war, möglichst mit drei Kindern, oder immer noch ehelos, würde Judith behutsam einfließen lassen, dass auch sie nun gebunden sei. Sie würde Zeit haben, um Verständnis zu bitten, dass sie als unvermählte Jüdin wohl nie das hätte erreichen können, was ihr als scheinbar vermählte Christin möglich gewesen war. Sie würde Zeit haben, diejenigen, die dann noch mit ihr verkehren wollten, auf Walther vorzubereiten. Ja, für Judith war es wohl in jeder Hinsicht besser, zunächst ohne ihn nach Salerno zu kommen.

Wenn sie nur genauso sicher gewesen wäre, dass es auch für Walther besser war, ohne sie nach Rom zu gehen! Er war sonst immer geneigt, von allen Mächtigen das Schlimmste anzunehmen – doch kaum stellte sich einer von ihnen als Verseschmied heraus, warf er alle Vorsicht über Bord.

Andererseits war es sehr wohl möglich, dass sie diejenige war, die sich irrte und Walther um einen sicheren Gönner brächte, wenn sie von ihm verlangte, Wolfger den Rücken zu kehren. Deswegen schluckte sie all ihre Einwände hinunter. Aber sie nahm sich die Freiheit, Hugo zur Seite zu ziehen und ihm zu sagen, der höchst edle Alexios sei besorgt, den Rest der Strecke bis Salerno ohne das Geleit eines so wackeren Mannes wie ihm zurückzulegen. Hugo blühte bei ihren Worten auf wie ein verkümmertes Veilchen, dem endlich die Sonne schien. Seinen Vater nach Rom zu begleiten, war schon lange nicht mehr neu für ihn, und nach allem, was Walther Judith erzählt hatte, musste Hugo inzwischen dämmern, dass Wolfger ihn mehr aus väterlicher Liebe denn aus echtem Vertrauen in seine Fähigkeiten an seiner Seite behielt. Den Schwager König Philipps weiter durch unsichere Gebiete zu geleiten, war genau die Art von Aufgabe, die ihm da recht kam: ehrenvoll und mit einer Verantwortung, die er tragen konnte; mit Wegelagerern und ungebührlichen Gastgebern würde er bestimmt fertig. Aber er brauchte keine Geheimnisse zu hüten oder gar Verhandlungen zu führen, und das war gut so. Alexios wiederum hörte von ihr, es sei der Wunsch des Bischofssohns, demütig in seine Dienste zu treten; der Byzantiner hatte keinen Anlass, einem solchen Wunsch nicht zu entsprechen.

Als sich der Tross teilte, wartete Judith bis zum allerletzten Moment, um sich von Wolfger zu verabschieden. Er stand vor seinem Pferd, als sie ihren Kopf beugte, den Bischofsring küsste und murmelte: »Es wird mir eine Ehre sein, den Sohn Euer Gnaden so sicher an meiner Seite zu wissen wie Herrn Walther an der Euren.«

Wolfger sah sie scharf an, doch er fragte nicht, was sie damit meinte. »Das Leben ist so gefährlich, Magistra, dass man nichts versprechen kann, sondern nur um das Beste beten.«

»In der Tat, Euer Gnaden, doch wir können auch alle danach streben, unser Bestes zu geben. Wenn ich an all die Krankheiten denke, die selbst einen gesunden Mann wie Herrn Hugo plötzlich befallen könnten! Oder an den Schaden, den ein unkundiger Arzt manchmal an falscher Stelle und mit den falschen Mitteln anrichten kann. Deswegen ist es mir auch so wichtig, Euer Gnaden zu versichern, dass ich mich, ganz gleich, was kommen mag, geradeso um das Wohlergehen Herrn Hugos bemühen werde, wie Euer Gnaden das in seiner Güte und Weisheit auch für Herrn Walther in Rom übernehmen wird.«

»Manche Menschen«, sagte Wolfger langsam, »muss man vor sich selbst beschützen.«

»Da sind wir uns einig, Euer Gnaden.«

»Ich glaube, das sind wir, Magistra. Geht hin in Frieden.«


Hugo, so stellte sich heraus, sprach dank seines Vaters etwas Griechisch, was Alexios sehr freute. Da in der oströmischen Kirche Priester und Bischöfe immer noch verheiratet sein durften, während in der weströmischen Kirche vor nunmehr fast zweihundert Jahren die Ehelosigkeit Pflicht für alle Priester geworden war, hinterfragte er niemals Hugos Legitimität. Es lag ihr im Magen, dass die beiden vor ihr miteinander sprechen konnten, ohne dass sie etwas davon verstand, aber Hugo war einfach nicht der Mann, um daraus einen Vorteil ziehen zu wollen. Er war außerdem nicht der Mann, zu hinterfragen, wie es zu Alexios’ Wunsch nach seinem Geleitschutz gekommen war, oder gar auf den Gedanken zu kommen, sie könne ihn auf ihre Weise als Geisel genommen haben.

Judith fragte sich, ob Walther das erriet, und wusste nicht, worauf sie hoffte; darauf, dass er es tat, oder darauf, dass es ihm nicht in den Sinn kam. Wichtig war vor allem, dass Wolfger ihr glaubte und sie für fähig hielt, seinem Sohn etwas zuleide zu tun, falls Walther etwas geschah. In Gedanken hörte sie sich schwören, niemals ihr Wissen und ihre Fähigkeiten einzusetzen, um einem Menschen zu schaden, und biss sich auf die Lippen, bis sie schmerzten. Es spielt keine Rolle, sagte sie sich, es spielt überhaupt keine Rolle, weil es niemals dazu kommen wird.

Aber was, wenn doch? Gilles hatte ihr einmal die Geschichte erzählt, wie der berühmteste aller lebenden Ritter, William Marshal, von seinem Vater als Geisel gestellt wurde, während eines der Kriege, die verschiedene Thronanwärter in England gegeneinander führten. Williams Vater hatte dennoch seinen Eid gebrochen, und als der König, dessen Geisel William war, drohte, den Jungen zu hängen, hatte der Vater erwidert: Dann hängt ihn, ich habe das Werkzeug, um noch mehr Söhne zu machen!

»Jener König«, hatte Judith an jenem Sommerabend in Braunschweig gesagt, »war ein guter Mann, wenn er es nicht über sich brachte, einen kleinen Jungen hängen zu lassen.«

»Aber er war ein schlechter König«, entgegnete Gilles. »Niemand nahm ihn mehr ernst danach. Am Ende verlor er seinen Thron.«

»Hättest du denn an seiner Stelle ein Kind gehängt?«, fragte Judith empört.

»Nein, aber ich hätte auch nicht damit gedroht oder mir ein Kind als Geisel geben lassen. Drohe niemals mit etwas, das du nicht bereit bist zu tun, das lernt man selbst als Knappe.«

Judith wusste nicht, ob sie wirklich fähig wäre zu töten, wenn ihr Leben oder das ihrer Lieben bedroht wurde. Vielleicht, wenn es jemand wäre, den sie verabscheute wie Otto, oder gar selbst als Mörder kannte wie Botho? Aber Hugo hatte weder ihr noch Walther je etwas zuleide getan, und wenn er anderen geschadet hatte, dann wusste sie nichts davon.

Judith betete mit der gleichen Inbrunst darum, dass Wolfger sie für fähig hielt, seinen Sohn zu verletzen, wie darum, dass weder er noch sie je herausfinden mussten, ob sie es tatsächlich konnte. Ein Teil von ihr bezweifelte, dass Gott ihre Stimme hörte, nicht nach allem, was sie bereits getan hatte, und der Art, wie sie weder als Jüdin noch als Christin lebte.

Am Abend begleitete sie Alexios wie immer zu der Kammer, die man ihm in einem Hospital zur Verfügung gestellt hatte. Sie war inzwischen geschickt darin, ihm so den Arm zu reichen und ihn zu führen, dass es aussah, als würde er ihr einen Gefallen tun.

Der Byzantiner hatte inzwischen Vertrauen zu ihr gefasst und wartete statt mit Drohungen, was er täte, wenn der Eingriff in Salerno nicht glückte, mit Versprechungen auf. »Wir haben eine der besten Bibliotheken der Welt in Byzanz«, hatte er zu Judith gesagt. »Und gewiss alle Werke des Maimonides. Wir haben sogar ein paar Bücher direkt aus Alexandria. Wenn ich erst fest auf meinem Thron sitze, Magistra, und die Welt erneut mit klarem Blick sehe, dann sei es jenem Arzt, der den Eingriff tut, und Euch gestattet, sich eines der Bücher zu wählen.« Walther neckte Judith damit, dass die Aussicht auf ein medizinisches Buch aus Alexandria, natürlich von jenem Mosche ben Maimon, von dem sie immer so großes Aufheben machte, ihr den gleichen Gesichtsausdruck verschaffte, den sie hatte, wenn sie in seinen Armen lag, was sie entrüstet leugnete. Aber sie musste zugeben, dass es sie der Vorstellung von Alexios auf dem Thron etwas wärmer gegenüberstehen ließ, und gerade jetzt war sie ihm dankbar, als er sie mit einer Frage von ihren Grübeleien ablenkte: »Wisst Ihr eigentlich, dass man Euch für meine Geliebte hält?«

Nicht noch ein Fürst, dachte sie und entgegnete, ein solches Gerücht hätte sich auch zu ihr herumgesprochen. Innerlich verwünschte sie Botho und alle schwatzhaften Männer.

»Nun, für mich ist das eine Erleichterung. Es bedeutet, dass niemand meine Manneskraft bezweifelt. Es würde allerdings helfen, wenn Ihr des Nachts in meiner Kammer bliebt, nun, da Herr Walther nicht mehr bei uns weilt.«

»Euer Gnaden …«

»Es versteht sich von selbst«, sagte er mit einer mehr ängstlichen als herablassenden Miene, »dass nichts geschehen wird. Ich bin der Erbe der Caesaren, Ihr eine bekehrte Jüdin.«

Sie verbiss sich die Bemerkung, die ihr als Erstes dazu auf der Zunge lag, und sagte stattdessen so sanftmütig wie möglich: »Dennoch würde ich nicht gerne den Anschein erwecken, dass ein so hoher Herr wie Ihr mit einer so niederen Person wie mir im Konkubinat lebt.«

»Aber ich schlafe schlecht«, platzte er heraus. »Mit jedem Tag, der den Eingriff näher rücken lässt, immer schlechter. Ich dachte, Ihr könntet mir vielleicht helfen.«

»Ich bereite Euch gerne einen Schlaftrunk, höchst erhabener Alexios.«

Er zögerte, dann sagte er mit gesenkter Stimme: »Ihr braucht Euch wirklich keine Sorgen zu machen. Ich tue es nicht mit Frauen.«

»Ich verstehe.« Der Gedanke an Gilles versetzte ihr einen Stich.

»Oder mit Männern«, fügte er hastig hinzu. Das ließ sie stutzen. Sie hatte zwar von ein paar Fällen gehört und gelesen, in denen Menschen sich Krankheiten zuzogen, weil sie auf unnatürliche Weise mit Tieren verkehrten, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass Alexios ihr so etwas anvertrauen wollte.

»Mit überhaupt niemandem«, ergänzte er unglücklich. »Die ganze Angelegenheit ist mir zuwider, ganz offen gesprochen. Als ich zum Mann wurde, hat meine Mutter die teuerste Kurtisane von Byzanz dafür bezahlt, mich in die Kunst der Liebe einzuführen, und danach einen Lustknaben, aber mich hat beides nicht gereizt. Fangt erst gar nicht damit an, mir irgendwelche Mittel anzupreisen: Man hat mir jedes luststeigernde Pülverchen in den Wein gemischt, das es gibt. Wenn ich für etwas dankbar war in den Jahren meiner Gefangenschaft, dann dafür, dass endlich Schluss damit war. Niemand hat mehr von mir erwartet, ich müsste mich wie ein junger Hengst aufführen. Eine Zeitlang dachte ich sogar, ich wäre vielleicht zum Mönch berufen. Die sind ehelos, bei uns gerade so wie bei den Weströmern. Aber es reizt mich ganz und gar nicht, mich nicht zu waschen, eine Kutte zu tragen und tagaus, tagein nur Gebete zu rezitieren.« Er kniff seine verschwommen blickenden Augen noch mehr zusammen. »Das bleibt unter uns, versteht sich. Wenn man an meiner Männlichkeit zweifelt, dann wäre das fast noch schlimmer, als wenn sich herumspräche, wie schlecht ich sehe. Keiner will einen Mann auf dem Thron, der keine Kinder zeugen kann!«

»Ich bin Eure Ärztin«, sagte Judith, gleichzeitig von Erleichterung und Mitleid bewegt, und dankte Maria aus Braunschweig erneut in Gedanken, auch mit solchen Dingen umgehen zu können, ohne gleich rot anzulaufen. »Ich werde gerne helfen, Eure Geheimnisse zu wahren.«

»Wenn Ihr mir wirklich helfen wollt, dann könnt Ihr die Nacht doch bei mir verbringen und so laut schreien, dass jeder Wachposten es hört«, sagte Alexios hintergründig. »Ich überlasse Euch auch das Bett und schlafe auf dem Boden. Das macht mir nichts aus. Ich habe Jahre Übung gehabt. Solange Herr Hugo und die anderen Leute in unserem Tross nur glauben, dass ich stark und unermüdlich wie ein Stier bin!«

Sie bemühte sich, das Lächeln zu unterdrücken, das um ihre Mundwinkel zuckte. Ein Gedanke kam ihr. »Wenn Ihr mir im Gegenzug etwas versprecht, Euer Gnaden, dann werde ich dafür sorgen, dass sie Euch nicht nur hier für einen Stier halten, sondern auch glauben, dass Ihr in den Tagen Eurer Erholung nach dem Eingriff in Salerno ständig damit beschäftigt seid, Eure letzten Tage vor der Wiedererlangung Eurer Herrschaft auf jede nur erdenkliche Weise zu feiern. Man wird von Euch als geradezu unersättlich sprechen.«

Die Vorstellung heiterte ihn ausgesprochen auf, aber er hatte ihr auch genau zugehört und fragte sofort: »Was soll ich Euch versprechen?«

»Der Eingriff wird gelingen«, sagte Judith leise. »Ihr werdet ein langes Leben als Herrscher von Byzanz vor Euch haben. Es mag wohl sein, dass Ihr hin und wieder erneut die Dienste von Ärzten benötigt; manche davon sind vielleicht weniger erfolgreich. Ihr sollt mir nur versprechen, dass Ihr niemals andere für einen Mangel an Erfolg büßen lasst. Mehr begehre ich nicht.«

Er wusste genau, worauf sie sich bezog. »Und wenn diese zukünftigen Ärzte dem Propheten Mohammed folgen statt Moses?«, fragte er prüfend.

»Niemanden«, sagte sie beschwörend. »Jeder Arzt wird alles ihm Mögliche versuchen, um Euch zu helfen, Euer Gnaden, schon weil niemand einen erfolglosen Arzt zweimal beschäftigt. Es ist nicht nötig, Drohungen auszusprechen. Im Gegenteil: Ein Arzt, dem Drohungen auf den Schultern lasten, dem rutscht viel leichter das Messer aus, als wenn er ohne Ablenkung tätig ist.«

»Hmm.« Alexios blinzelte. »Ich glaube, ich verstehe, warum meine Schwester Euch durch ihre Zuneigung würdigt, Magistra. Keiner von uns kann in die Zukunft sehen, und ich werde Euch nichts zusagen, was für den Rest meines Lebens gilt, aber ich werde Euch versprechen, niemanden büßen zu lassen, wenn ich erblinde. Nicht mehr, nicht weniger.«

Das erschien ihr vertrauenerweckender, als wenn er ihr versprochen hätte, worum sie gebeten hatte, und zum ersten Mal erwachte in ihr die Hoffnung, dass Alexios auf dem Thron vielleicht doch einen Unterschied zum Besseren machen könnte, statt ein weiterer Tyrann in Byzanz zu sein.

»Dann habt auch Ihr mein Versprechen, Euer Gnaden.«

* * *

Wolfgers gesamtes Gefolge erlebte, wie Botho lauthals dagegen protestierte, als Zeichen seiner Bußwilligkeit ein härenes Hemd und den Pilgermantel aus grobem Stoff zu tragen.

»Der Heilige Vater hat neben seiner Sorge um jedes christliche Leben auch eine freundschaftliche Zuneigung zu Konrad von Würzburg gehabt«, erwiderte Wolfger steinern. »Meint Ihr wirklich, er sei bereit, Euch zu entsühnen, wenn Ihr wie ein schmollender Junge in Euren besten Kleidern vor ihm erscheint?«

»Aber mein Onkel hat …«

»Euer Onkel ist jetzt nicht hier. Ich bin es.«

»Und was wollt Ihr tun, wenn ich mich weigere, Euer Gnaden?«

»Wenn Ihr Euch nicht der Gnade der Kirche überantworten wollt, dann bleibt mir wohl keine Wahl, als Euch der nächsten weltlichen Gerichtsbarkeit zu übergeben. Die edlen Ritter, die uns begleiten, sind bestimmt bereit, aus diesem besonderen Anlass die Stelle des Königs und Richters einzunehmen.«

»Aber … aber hier könnt Ihr mich nicht anklagen. Wo wäre der Kläger? Wo die Beweise?«

Bothos Gebrüll, als der Bischof verkündete, Herr Walther von der Vogelweide wäre bereit, Zeugnis gegen ihn abzulegen, war so laut, dass man es vermutlich auf beiden Seiten der Alpen hören konnte. »An Eurer Stelle, Herr Walther«, sagte Wolfgers Schreiber Odokar später, »würde ich dem Ravensburger von nun an aus dem Weg gehen.«

Dergleichen musste man Walther nicht zweimal sagen. Er hatte zwar Vertrauen darin, dass Botho lieber das härene Hemd tragen und vom Papst entsühnt werden würde, um sein Leben als Neffe des mächtigsten Mannes im Reich und bei Hofe fortzusetzen, als sein Mütchen an einem Sänger zu kühlen und als ungesühnter, gebannter und gesetzesloser Mörder irgendwo außerhalb des Reichs Unterschlupf zu finden. Es bestand jedoch wahrlich kein Grund, ein Risiko einzugehen. Also hielt er sich ständig an Wolfgers Seite auf und gestattete sich nur ein, zwei Mal, zurückzuschauen, dorthin, wo eine zähneknirschende Gestalt auf ihrem Pferd saß. Immerhin musste Botho nicht zu Fuß gehen, aber er schien das härene Hemd, gewebt aus grobem, kratzigem Hanf und juckenden Tierhaaren, nicht gut zu vertragen.

»Hatten Euer Gnaden das härene Hemd schon die ganze Zeit im Gepäck?«

»Ich bin ein Diener Gottes«, sagte der Bischof mit undurchdringlicher Miene, was keine Antwort war, aber so ernst war es Walther mit seiner Frage auch nicht gewesen. Stattdessen sprach er mit Wolfger darüber, wie glaubwürdig es war, dass Gunther, seine Brüder und Hagen der Einladung von Kriemhild folgten und zu den Hunnen reisten, obwohl sie wissen mussten, dass sie ihnen den Tod von Siegfried nicht verziehen hatte.

»Für wie rachsüchtig haltet Ihr eine Frau?«, fragte Wolfger prüfend. »Eine Frau, die den Mann verloren hat, den sie liebt? Wird sie sich nicht von angeborener Menschlichkeit zurückhalten lassen, von zarteren Gefühlen, vor allem, wenn ihre Rache sinnlos ist, da ihr Liebster ohnehin von ihr genommen wurde und nichts, was sie tut, ihn wieder ins Leben zurückbringen kann?«

»Manchmal glaube ich, dass keiner von uns je eine Frau verstehen wird«, entgegnete Walther nur halb im Scherz.

»Nun, mein letzter Versuch liegt lange zurück«, sagte Wolfger. »Im Reich der Vorstellungskraft herrschen zum Glück nicht unbedingt die gleichen Regeln. Doch es kommt mir darauf an, zu wissen, was ein Zuhörer für glaubwürdig befinden würde – ein Mann wie Ihr, Herr Walther, der mit Frauen Umgang pflegt.«

»Euer Gnaden, der Grund, warum ich keine Heldenlieder schreibe, ist nicht zuletzt, dass ich für Frauen nicht länger als für die Dauer eines kurzen Liedes sprechen kann. Ihr dagegen schildert ganze Menschenleben. Aber nun … ich glaube, dass niemand erbitterter kämpft und schmerzhaftere Wunden schlagen kann als eine Frau, die ihr Liebstes verliert, ob Kinder oder Mann, und die nichts mehr zu verlieren hat.«

»Ja«, sagte Wolfger und seufzte, »das fürchte ich auch.«


Je näher sie Rom kamen, desto voller wurden nicht nur die Hospitäler, sondern auch die Klöster, in denen sie abstiegen. Walther teilte in der Regel ein Lager mit dem Schreiber, dem er gelegentlich beim Abschaben der Pergamente half. Außerdem nahm er sich die Freiheit, gelegentlich die Truhe mit Dokumenten zu durchstöbern, wenn Odokar schlief, doch falls Wolfger eine geheime Korrespondenz mit dem Papst führte, in der er ihm die baldige Auslieferung eines aufsässigen deutschen Singvogels versprach, dann gab es dafür keinen Hinweis. Was nicht hieß, dass es nicht ein paar höchst aufschlussreiche Briefe in jener Truhe gab: Offenbar stand Wolfger mit der reichen und mächtigen Familie der Andechs-Meranier in Verbindung, die einen der Ihren als nächsten Bischof von Bamberg sehen wollten. Dabei stand einer solchen Wahl nicht nur im Wege, dass Eckbert von einem wegen seiner Anhängerschaft für Philipp gebannten Bischof zum Diakon geweiht worden war, sondern auch, dass er keine dreißig Jahre zählte und damit das nach Kirchenrecht vorgeschriebene Mindestalter für einen Bischof noch nicht besaß. Dafür war sein Vater der Herzog von Kroatien und Dalmatien, einer seiner Schwäger der König von Ungarn und ein anderer der König von Frankreich. Sie alle, hieß es in dem Brief bedeutsam, würden dem Patriarchen von Aquileja höchst dankbar sein, wenn er sich beim Heiligen Vater für den jungen Eckbert einsetzte. Im Übrigen hatte die Familie schon früher Bamberger Bischöfe gestellt, ein neuer betagter Bischof wie der verstorbene Thiemo sei wahrlich keine gute Idee, und gerade der Heilige Vater sollte doch Sinn für junge Kleriker in hohen Ämtern haben.

Allmächtiger, dachte Walther und wusste nicht, ob er belustigt oder abgestoßen war. Keines von beidem, entschied er; es konnte ihm gleichgültig sein, wer Bischof in Bamberg wurde, vorausgesetzt, dass es den Krieg nicht verlängerte.

Der andere Brief, den Walther genauer ansah, stammte von Leopold von Österreich und war eine Beschwerde, weil er eine Forderung des englischen Königs nach Rückerstattung des Lösegelds für den verstorbenen Richard erhalten hatte. Leopold hielt das für eine Unverschämtheit, nicht nur, weil John bereit gewesen war, dafür zu bezahlen, wenn Richard noch etwas länger in Gefangenschaft blieb, sondern auch, weil die Übernahme der Kreuzzugskosten alle Schuld ihres Vaters getilgt hatte. Ich weiß wohl, dass die Gefangennahme eines Kreuzfahrers eine Sünde war; schließlich ist das meinem armen Vater oft genug vorgehalten worden, schrieb Leopold. Aber ist nicht das, was John tut, schlimmer als der schlimmste Wucher und damit eine größere Sünde? Der Brief schloss mit der Hoffnung, der Papst möge unmissverständliche Worte finden, John zurechtweisen und Leopold bestätigen, dass alle Schulden des Hauses Österreich für die Gefangennahme von König Richard ein für alle Mal getilgt seien.

Darauf, dachte Walther, wird Leopold lange warten müssen, es sei denn, der Papst hätte irgendeinen Vorteil davon. Doch dabei erwachte etwas anderes in ihm, etwas, das sich zunächst nicht zu einem ausformulierten Gedanken gestalten wollte. Etwas, was mit der alten Geschichte von Richard und der Exkommunikation des Herzogs von Österreich zu tun hatte, aber auch etwas mit dem Hier und Jetzt, dem alten Kreuzzug, dem neuen Kreuzzug … Er kam sich vor wie eine Katze, die der Maus nachjagte und immer nur deren Schwanzspitze erwischte.

Mitternacht musste schon vorbei sein, als Walther in die Höhe schoss und den Gedanken, mit dem er sich ständig herumwälzte, endlich zu seinem richtigen Ende brachte: Was der alte Herzog von Österreich getan hatte, war eine bannwürdige Sünde gewesen, weil ein Christ nicht das Recht hatte, gegen einen Kreuzfahrer auf dem Weg hin oder von den Heiligen Stätten das Schwert zu erheben. Das war ein ehernes Gesetz der Christenheit, das jedoch mehr als eine Richtung kannte, in die es sich auswirkte. Ein Kreuzfahrer durfte nur zur Befreiung des Heiligen Landes in den Kampf ziehen. Auf gar keinen Fall sollte er das Schwert gegen seine Mitchristen erheben, es sei denn, diese griffen ihn zuerst an. Er war als Pilger absolut nicht frei, sich in irgendwelche Fehden verwickeln zu lassen. Wenn also das Heer, das Byzanz angreifen sollte, ein Kreuzfahrerheer war, dann verstieß es gegen dieses Gesetz. Die Bewohner von Byzanz, einschließlich des jetzigen Kaisers, mochten Schismatiker sein, doch sie waren keine Heiden, sondern Christen, und das war auch der Grund, warum Byzanz – traditionell die erste Anlaufstelle auf dem Weg ins Heilige Land – die Kreuzfahrer immer versorgt und neu ausgestattet hatte.

Gewiss, es gab die Rechtfertigung, dass der jetzige Kaiser nicht rechtmäßig regierte, aber trotzdem blieb der Versuch eines Kreuzfahrerheeres, Alexios auf den Thron zu setzen, eine rein weltliche Angelegenheit und damit etwas, was dem alten Herzog von Österreich den Bann eingebracht hatte. Nun, Philipp war bereits gebannt, aber die übrigen Kreuzfahrer nicht, wenigstens nicht jene, die nicht seine Anhänger waren. Der Papst mochte noch so sehr wünschen, das Schisma zu beenden, er konnte den Krieg von Kreuzfahrern gegen ein christliches Königreich nicht gutheißen, ohne gleichzeitig die bestehenden Regeln für die Kreuzzüge außer Kraft zu setzen.

Wenn Walther das verstand, dann musste es Wolfger, dessen Leben seit Jahren darin bestand, zwischen Papst und Königen zu vermitteln, der das Kirchenrecht in- und auswendig kannte, schon längst klar sein. Was hatte dann Wolfger also wirklich in Rom vor? Ging es am Ende doch um ihn?

Wenn Judith hier wäre, dann würde sie ihm raten, so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Warum eigentlich nicht, dachte Walther: Er hatte Zeugnis bezüglich Bothos abgelegt, über Wochen mit Wolfger die Geschichte der Nibelungen disputiert. Soweit er wusste, gab es nichts, wofür der Bischof ihn noch benötigte. Wenn er jetzt ging – und Wolfger nichts Schlechtes für ihn plante –, konnte er später vorgeben, sich Sorgen um Judith gemacht zu haben. Im schlimmsten Fall würde ihn Wolfger für einen undankbaren Menschen halten und nicht mehr willkommen heißen. Das würde keine weiteren Pelze und vertraulichen Gespräche über große Heldenlieder bedeuten, was beides schmerzhaft war, aber besser als das, was mit Walther geschehen konnte, wenn Judith mit ihren Befürchtungen recht behielt.

Einen verrückten Augenblick lang zog er in Erwägung, zu Wolfger zu gehen und offen zu gestehen, was ihm durch den Kopf ging, samt der Frage, wie zum Teufel die Eroberung von Byzanz kirchenrechtlich gerechtfertigt werden mochte und ob das Ganze nicht eine Falle für Philipp war. Aber dazu hätte er Wolfger völlig vertrauen müssen, mit jeder Faser seines Herzens. Und genau das brachte er nicht fertig.

Sehr leise begann Walther, seine Satteltaschen zu packen. Das Manuskript legte er auf den Tisch, weil er es nicht über sich brachte, es dem zugigen Gang anzuvertrauen. Judith hatte seinen neuen Pelzmantel und seine Laute bei sich, weil er davon ausgegangen war, dass er beides in Rom nicht brauchen würde oder dort ein Ersatzinstrument finden konnte. Alles andere ließ sich gut und schnell verstauen.

Es war noch nicht Morgengrauen, als er zu den Ställen schlich. Dann kam ihm in den Sinn, dass Wolfger eine kurze Erklärung verdient hatte. Er nahm eine seiner Wachstafeln, schrieb eine kurze Nachricht darauf und machte sich auf den Weg zur Zelle des Abtes, wo Wolfger untergebracht war. Nachdem er die Tafel leise vor die Tür gelegt hatte, wollte er sich erneut in Richtung der Ställe aufmachen, doch er kam nicht weit. Ob Botho auf dem Weg zu Wolfger war, um eine Erleichterung der Buße zu erbitten, oder aus einem anderen Grund, er kam mit einem seiner Männer geradewegs auf Walther zu und spottete: »Wenn das nicht der Hahn ist, der endlich gerupft werden will, damit er nie wieder kräht, dann will ich zukünftig Jesus heißen!«

Das Spiel der Nachtigall
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