Kapitel 38

Es war zu kalt, um in der Nacht lange im Freien zu bleiben, aber Walther brauchte frische Luft. Stille nach dem Lärm im Palas war auch nicht schlecht, doch vor allem frische Luft. Er hatte das Gefühl gehabt, zu ersticken.

In den letzten Tagen hatte es geschneit, doch am Nachmittag war der Himmel klar geworden, und jetzt konnte er die Sterne mit einer ungewöhnlichen Deutlichkeit sehen. Strahlend, unverändert und vor allem unerreichbar.

»Sie hat Euch fallengelassen wie ein Stück Abfall, nicht wahr?«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Deswegen seid Ihr hier.«

Walther drehte sich um und sah, dass die Markgräfin Jutta ihm gefolgt war. Er begegnete ihr nicht zum ersten Mal wieder, doch bei der Verlobungsfeier für ihren kleinen Bruder Ludwig hatte sie ihn geflissentlich übersehen. Er war ihr auch aus dem Weg gegangen, was leichter war, als er zunächst geglaubt hatte.

»Ich bin hier, weil Euer Vater Sängern gegenüber so gastfreundlich ist.«

Sie machte eine ungeduldige Handbewegung. »Das hätte ich vielleicht im Herbst geglaubt, aber nun ist es Winter. Als ich das letzte Mal an einem Hoftag König Philipps teilnahm, da erzählte mir die Königin, dass Ihr der Ärztin nach Salerno gefolgt seid. Also wart Ihr bereit, für sie über die Alpen zu ziehen, weshalb es nur zwei Erklärungen für Euren langen Aufenthalt hier in Thüringen ohne sie gibt: Sie ist tot, oder sie hat Euch fallenlassen.«

Anscheinend war es eine Gemeinsamkeit aller Frauen mit dem Namen Jutta, zu scharfsinnig für seine Gefühle zu sein. »Wer sagt Euch, dass ich nicht ihrer überdrüssig geworden bin?«, entgegnete Walther und versuchte, eine lässige und spöttische Tonart anzuschlagen.

»Ihr habt in Euren Augen die Leere eines Mannes, der sein Herz verloren hat, Walther von der Vogelweide, und nicht auf die glückliche Weise«, sagte Jutta. »Ich kenne sie, diese Leere. Ich kenne sie nur allzu gut. Es hat mich auch durchaus glücklich gemacht, dass sie nun Euch erfüllt.«

In früheren Zeiten hätte er sich vielleicht schuldig gefühlt, aber jetzt nicht mehr. Er war es überdrüssig, und er hieß die Gelegenheit willkommen, endlich etwas von der Bitterkeit, die in ihm schwelte, weiterzugeben.

»Darf ich fragen, was ich getan habe, um Eure Feindschaft zu verdienen? Hatte ich Euch jemals geschworen, dass ich Euch liebte? Nein. Ich hatte den Eindruck, dass wir uns gegenseitig die Zeit vertrieben und so etwas wie Freundschaft schlossen, aber vermutlich hätte ich daran denken sollen, dass Frauen genauso wenig mit Männern Freundschaft schließen, wie edle Herren das mit fahrenden Sängern machen. Ja, es tut mir leid, dass Euer Gemahl ein grober Narr ist, aber das ist nicht meine Schuld. Was zum Teufel gibt Euch also das Recht, mir erst Verstümmelung anzudrohen und Euch dann, wenn wir uns Jahre später wiedersehen, an meinem Unglück zu weiden?«

Ihr Mund hatte sich während seiner Tirade leicht geöffnet. In der Kälte und dem klaren Licht der Sterne und des Mondes sah er die Atemwolke, die ihren Kopf umgab, und er erinnerte sich unpassenderweise daran, dass sie früher so ihren Mund geöffnet hatte, wenn sie ihre Beine um ihn schlang. Mittlerweile zogen sich, anders als früher, Linien von ihren Mundwinkeln zum Kinn, doch gleichzeitig hatte sie noch immer ihre Grübchen, ein wenig unantastbare Jugend, die ihr bereits früh gealtertes Gesicht weicher aussehen ließen.

Er machte eine Verbeugung und wollte gehen, doch sie hielt ihn an seinem Arm zurück.

»Es ist wahr«, sagte sie, »dass ich Euch nicht geliebt habe, Herr Walther, aber Ihr wart über Wochen ein Stück Freude in einem elenden Leben. Dann habt Ihr mir das weggenommen und mir gleichzeitig gezeigt, wie anders Euer Leben war, wie glücklich und erfüllt, doch für mich gab es dergleichen nicht. Sollte ich Euch dafür dankbar sein?«

Walther schaute sie an und dachte, dass dies das erste ehrliche Gespräch war, das er seit Monaten führte. Gleichzeitig brach es etwas in ihm auf, das er vermauert wissen wollte. Und doch, sagte sich Walther, wäre es nicht auch ein Sieg für Judith, wenn ich ihretwegen für niemanden mehr etwas empfinde, selbst Mitgefühl nicht?

»Wenn dies Euch Wunden schlug, dann nehmt als Heilung, dass Ihr richtig vermutet«, entgegnete er leise, ehe er es sich versah.

Sie neigte den Kopf zur Seite. »Es schafft mir keine Heilung. Am Ende bin ich wohl doch nicht bitter genug, um mich an Qualen eines Freundes zu erfreuen.« Durch ihre Hand auf seinem Arm lief ein Zittern, und er sagte: »Es ist kalt.«

»Ihr könntet mir den Pelzmantel anbieten, den Ihr tragt«, sagte sie mit einem leichten Lächeln.

»Das könnte ich, wenn ich nicht wüsste, dass Ihr als Markgräfin über eigene Pelzmäntel verfügt. Außerdem war der Vorschlag, der mir auf der Zunge lag, wieder hineinzugehen, was uns beide wärmen würde.«

»Würde es das?«, fragte sie bedeutungsvoll.

Walther zögerte. Dann dachte er, warum nicht, und nickte. »Ich denke schon.«

* * *

Es hatte sich herausgestellt, dass Gilles ein Talent zum Schnitzen besaß. Früher hatte er nur hin und wieder kleine Arbeiten verrichtet, aber nicht die Zeit für mehr gehabt, doch nun besaß er mehr davon, als ihm lieb war. Als er das erste Mal um ein Stück Holz und ein Messer bat, behielt Judith ihn im Auge. Er verletzte sich kein einziges Mal, sondern fertigte einen Kreisel für Lucias jüngste Kinder an, die er im Garten beim Spielen beobachtet hatte. Das war der Anfang, im Herbst. Bis der Frühling kam, war Gilles so weit, nicht nur Spielzeug für Lucias und Irenes Kinder, sondern auch Becher, Ständer für Bücher und eine kleine Truhe zu fertigen, in der Judith ihre Instrumente unterbringen konnte, wenn sie nicht unterwegs war. Bei der Arbeit schien er sich wohl zu fühlen und summte vor sich hin. Gilles sprach immer noch weniger als früher, doch er führte mittlerweile mit Judith, Lucia, Markwart und deren Kindern Unterhaltungen, die nicht bereits nach zwei, drei Sätzen endeten. Es schien ihm gutzutun, sich nützlich zu fühlen. Einmal jedoch beobachtete Judith, dass er über etwas in Tränen ausbrach: Es war ein Holzstumpf für einen von Philipps Kriegsknechten, dem sie das Unterbein bis zum Knie hatte absägen müssen. Mit dem Kegel aus Holz würde der Mann zwar nicht mehr kämpfen, aber doch immerhin wieder gehen können.

Sie wollte gerade in die Bibliothek des Doms zu Speyer gehen, um ein Buch über den Verlust von Gliedmaßen zu suchen, als Irene nach ihr schickte. Die Königin ging in ihrer Kemenate auf und ab. Als Judith eintraf, stellte sie als Erstes fest, dass Irene ihre Damen fortgeschickt hatte. Sie waren alleine.

»Es wird Otto werden«, sagte Irene unvermittelt. »Riccardo von Segni, der Neffe des Papstes, nimmt eines unserer jüngeren Mädchen, aber Otto besteht auf Beatrix.«

Judith wusste nicht, was sie sagen sollte. Ein Ausruf der Bestürzung würde Irene nur noch mehr verstören. Sie konnte aber auch nicht so tun, als stimme sie die Aussicht glücklich, die lebhafte und liebenswerte Beatrix, die viel von ihrer Mutter hatte, aber der anders als Irene noch nie im Leben etwas Böses widerfahren war, als Gemahlin Ottos zu sehen.

»Ihr müsst mir helfen, Magistra«, sagte Irene gepresst.

»Wie?«

»Die Menschen ändern sich, das habt Ihr selbst gesagt«, erklärte Irene eindringlich. »Niemand von uns weiß, wie Otto sich verändert haben mag, ob zum Guten oder zum Schlechten. Seine Gesandten verkünden nur, was wir hören sollen. Unsere Leute hatten in den letzten zehn Jahren nur den Auftrag, ihm zu schaden, und haben uns selbstverständlich stets Dinge berichtet, die ihn in einem schlechten Licht zeigen. Deswegen … deswegen möchte ich, dass Ihr für mich zu Otto geht.«

Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Judith sicher war, richtig verstanden zu haben. Irene ergriff ihre Hand.

»Ihr habt Grund, schlecht von ihm zu denken, aber Ihr seid auch ehrlich und einer der klügsten Menschen, die ich kenne. Eurem Urteil werde ich vertrauen. Wenn Ihr von Otto zurückkehrt und mir berichtet, dass er ein besserer Mann geworden ist, dann weiß ich, dass meine Tochter eine Zukunft haben wird und ich nicht für sie fürchten muss.«

»Und wenn ich gar nicht zurückkehre?«, fragte Judith. »Graf Otto hat mir in der Vergangenheit durchaus Grund gegeben zu glauben, er grolle mir. Mag sein, dass er Rücksicht darauf nehmen wird, dass Ihr mich geschickt habt, doch …«

»Das dürft Ihr ihm nicht verraten!«

Judith trat einen Schritt zurück.

»Versteht Ihr denn nicht«, fuhr Irene fort, »genau darauf kommt es doch an. Wenn er weiß, dass ich Euch geschickt habe, dann ist Euer Besuch bei ihm kaum etwas wert. Ich will wissen, wie er eine Frau behandelt, wenn er nicht durch gutes Verhalten irgendetwas erreichen will.«

Was Irene da verlangte, würde Judith ohne jeglichen Schutz lassen. Sie konnte sich eine ganze Reihe von Arten vorstellen, wie der Otto, dem sie damals begegnet war, eine Frau behandelte, wenn er keine Konsequenzen zu fürchten brauchte. Keine davon war auch nur im mindesten etwas, das sie erleben wollte oder das sie einer anderen Frau wünschte.

»Ihr denkt, dass ich Euch in die Höhle des welfischen Löwen schicke, und das ist wahr. Aber ich tue es nicht nur, weil ich Euch vertraue, sondern weil ich Euch kenne. Wenn Euch Unbill trifft, Magistra, dann begegnet Ihr ihm und findet einen Ausweg. Ihr seid in der Lage, aus Stroh Gold zu spinnen. Sollte Otto Euch übelwollen, dann habt Ihr meine Erlaubnis, sofort zu entfliehen – das wird Euch gelingen, weil Ihr meine unbezwingliche Magistra seid«, sagte Irene beschwörend. Unsinnigerweise wurde Judith an Beatrix erinnert, wie sie um Lippenrot gebeten hatte, und um den Namen ihrer Freier.

»Aber wenn ich nicht fliehen kann, wenn Ihr nichts mehr von mir hört, dann habt Ihr ebenfalls Eure Antwort über Otto«, stellte Judith fest und fragte sich, ob sie sich jemals an das Gefühl gewöhnen würde, von Menschen, an denen sie hing, benutzt zu werden. Es war bei Irene gleichzeitig schmerzhafter und leichter als bei Stefan und Paul. Leichter, weil Irene dazu erzogen worden war, von ihren Untergebenen zu erwarten, dass diese sich für sie opferten, und weil sie um ihrer Tochter willen darum bat, nicht für mehr Macht oder die vage Möglichkeit auf ein besseres Reich; schmerzhafter, weil Judith seit Bamberg begonnen hatte, an die Zuneigung zu glauben, die die Königin für sie hegte.

»Ihr werdet entfliehen können. Es gibt drei Dinge, Judith, auf die ich in meinem Leben zu vertrauen gelernt habe, und nichts davon wurde mir in die Wiege gelegt. Das erste und wichtigste ist, dass es immer eine Hoffnung gibt, auch wenn die Lage verzweifelt scheint. Das habe ich von Euch gelernt, in Salerno. Das zweite ist, dass man Liebe auch dort finden kann, wo man sie am wenigsten erwartet. Ich hätte nie gedacht, Philipp von Hohenstaufen lieben zu können, oder daran, dass er mich lieben würde, und doch ist es so gekommen. Und das dritte ist: Meine Magistra findet immer einen Ausweg.«

Das war entweder der größte Vertrauensbeweis, den ihr je jemand gegeben hatte, oder ein Verrat, der nur deswegen nicht der schlimmste war, weil Gilles für den von Walther an jedem Tag seines Lebens bezahlte. Judith klammerte sich an eine Nebensächlichkeit, um nicht gleich eine Antwort geben zu müssen.

»Ihr habt mich Judith genannt.«

»Das ist Euer Name, nicht wahr? Nicht Jutta.«

Sie wusste nicht, von wem Irene das erfahren hatte, oder ob es einfach eine logische Schlussfolgerung war, und sie wollte es nicht wissen. Bis auf die anderen Juden in Salerno und einige Leute in Braunschweig, von denen Irene aber nichts wissen konnte, hatte sie seit ihres Vaters Tod nur Walther so genannt. Das Atmen fiel ihr unerwartet schwer.

»Und wenn ich mit schlechten Nachrichten zurückkehre, was nützt Euch das dann?«, fragte Judith. »Glaubt Ihr wirklich, dass Euer Gemahl sein Hochzeitsangebot zurückzieht und ein weiteres Jahrzehnt gegen Otto kämpft? Mein Herz hängt an Eurer Tochter, doch es gibt viele hundert Mädchen im Reich, die dann ihr Leben verlieren, und viele tausend Männer.« Sie schaute Irene an und ließ alle Vorsicht fahren. »Ihr seid eine Mutter, und so ist Euch das Leben Eurer Tochter kostbarer als das aller anderen. Aber Ihr seid auch Königin dieses Reiches. Und als solche wisst Ihr, dass der Frieden für alle mehr ist als der Frieden im Leben Eurer Tochter.«

Irene hatte einmal das Leben ihres Vaters und ihres Bruders über den Frieden in ihrer Heimat gestellt; das hatte am Ende sowohl Byzanz als auch Alexios und Isaak Angelos bluten lassen, aber obwohl Judith von tausend widerstreitenden Gefühlen auseinandergerissen wurde, brachte sie es nicht über sich, das zu erwähnen. Damals hatte sie selbst ihren Teil dazu beigetragen, dass Alexios zurück nach Byzanz kam. Er wäre mit verschwommenem Blick am Hof von Philipp glücklicher und vor allem lebendiger gewesen, wie Meir, den die Aussicht, Leibarzt eines Kaisers zu werden, mit nach Byzanz gelockt hatte, und der nie wieder nach Salerno zurückgekehrt war. Ihn zu heiraten, wäre ein Unglück gewesen, aber um ihren alten Mitstudenten trauerte sie.

»Ich bin eine Königin und eine Mutter, und Ihr habt mich gelehrt, bei zwei schlechten Möglichkeiten nach einer dritten Ausschau zu halten«, sagte Irene. »Bis Ihr mit einer Antwort zu mir zurückkehrt, werde ich sie gefunden haben. Einen Baustein für Frieden ohne Otto habt Ihr mir bereits gegeben, denn die Ehe mit Riccardo Segni bedeutet, dass der Heilige Vater den Bann von Philipp nimmt. Und die Ehe zwischen Philipps Nichte und dem Andechs-Meranier, die im Juni geschlossen wird, stiftet jetzt bereits ein wenig Frieden. Die Andechs-Meranier haben dem abgewiesenen Wittelsbacher eine ihrer eigenen Töchter angeboten, es gibt also keinen Grund mehr, uns die Absage nachzutragen. Er hat bereits sein Kommen zur Hochzeit in Bamberg angekündigt, wie fast jeder wichtige Fürst im Reich. Hermann von Thüringen wird da sein, Hans von Brabant, der Zähringer und die Königin von Ungarn, denn es ist ihr Neffe, der heiraten wird. Nach diesem Fest wird Otto wissen, dass er keine Verbündeten mehr hat, die über Geldmittel und nennenswerte Truppen verfügen. Wer weiß, vielleicht wird er dann mit Schwaben zufrieden sein, ohne Beatrix. Wenn nicht – nun, ich werde einen Weg finden.« Sie hob den Kopf und tat etwas, das noch nie da gewesen war: Sie straffte ihre Röcke und kniete vor einer Untertanin nieder. »Ich muss die Wahrheit wissen, ob bitter oder süß, und ich weiß, Ihr werdet mich nicht belügen, weder im Guten noch im Schlechten. Darum bitte ich, Irene, Tochter des Kaisers von Byzanz, eine Prinzessin, die Königin von Sizilien werden sollte und Königin der Deutschen ist, Euch um Eure Unterstützung.« Bis dahin hatte sie Deutsch gesprochen, doch jetzt fiel sie in das Volgare zurück, mit dem sie einst als Erstes mit Judith geredet hatte. »Ich, Irene, eine Mutter, bitte um Hilfe für meine Tochter.«

Sie breitete die Arme aus, aber da Judith die Vorbereitung für die demütigste aller Unterwerfungen erkannte, den Fall auf den Boden mit dem gesamten Körper, fiel sie rasch selbst auf die Knie und fing Irene auf.

Du hältst dich für klug, höhnte eine Stimme in ihrem Kopf, die verdächtig wie Walther klang. Du bist dabei, dich ein weiteres Mal ausnutzen zu lassen von einer Frau, die in der Macht von großen Gesten bereits unterwiesen wurde, als du noch mit Kreiseln gespielt hast. Wie töricht ist das?

Das mochte sein. Aber sie spürte, wie Irene sich an sie klammerte, dachte an Beatrix und konnte nicht anders.

»Ich werde Euch helfen.«

* * *

Als Walther andeutete, dass er nun, da das Frühjahr gekommen war, seinen Abschied nehmen wollte, machte Hermann von Thüringen keine Anstalten, ihn aufzuhalten. Da er wirklich lange geblieben war, empfand Walther dies nicht als kränkend. Wenn er ganz ehrlich sein wollte, war er hierhergekommen, um an einem reichen Hof, weit von Judith entfernt, seine Wunden zu lecken, und das hatte er getan. Er hätte es auch in Wien versuchen können, aber er hatte das dunkle Gefühl, dass Leopold ihn schon vor Weihnachten gebeten hätte zu gehen, und im Übrigen war Leopolds Gemahlin eine byzantinische Prinzessin, Irenes Base, und alles hätte ihn zu sehr an den Hof erinnert, den er gerade verlassen hatte. Hermann war zwar wetterwendisch, was seine Treue zu den beiden deutschen Königen betraf, aber er schätzte Sänger, egal was sie sangen; Wolfram von Eschenbach, der Glückspilz, hatte sogar einen festen Platz an seinem Hof. Trotzdem hatte der Landgraf Walther immer willkommen geheißen, ganz gleich, auf wessen Seite Hermann gerade stand.

Andererseits war der Landgraf auch jemand, der seine Erwartungen hatte, und zu diesen gehörte nicht nur, gepriesen zu werden. Bei Walthers Ankunft hatte er im jungen Berthold von Andechs Zweifel an Philipp wecken wollen, so viel war offensichtlich, und da er selbst in alles anderer als guter Stimmung bezüglich Philipps gewesen war, hatte Walther mitgespielt. Nun, da er Anstalten machte, wieder zu gehen, fragte Hermann beiläufig: »Wisst Ihr schon, welchen Hof Ihr als Nächstes aufsuchen werdet, Herr Walther?«

Einen, wo mir kein Dummkopf von Ritter das Pferd absticht, dachte Walther. Das war das Ärgernis, das ihn neben der stetig wachsenden Ruhelosigkeit auch veranlasste, den thüringischen Gefilden fürs erste Lebewohl zu sagen: Nicht nur, dass Hermanns Leute zechten und lärmten, während er vortrug, nein, sie versuchten, in angetrunkenem Zustand auch noch zu reiten, und fuchtelten dabei mit ihrem Schwert in die Richtung von harmlosen Sängern, nur, weil dieser so etwas wie »beiß zu, Hildegunde« gemurmelt hatte. Da er nicht mehr mit Pferden aus staufischen Ställen rechnen konnte, war Walther nach dem Tod seines Pferdes deswegen vor Gericht gegangen, was letztendlich auf einen Streit in Eisenach hinauslief, den der Landgraf durch eine salomonische Lösung schlichtete. Herr Atze hatte sein eigenes Ross zur Verfügung zu stellen, was bedeutete, dass Walther nun mit einem sturen Rittergaul verflucht war, der noch nicht einmal einen Namen trug.

Es war nicht seine ursprüngliche Hildegunde gewesen, die ihr Leben durch das Schwert eines betrunkenen Ritters hatte lassen müssen. Die war längst verstorben, aber Walther hatte alle seine Pferde nach ihr benannt und gelegentlich zu Ausfällen gegen unaufmerksame Zuhörer ermutigt. Herrn Atzes Gaul hatte Hildegundes Namen nicht verdient, also nannte er ihn Hagen, des tückischen Blicks und der schwarzen Farbe wegen.

»Könnt Ihr mir denn ein Ziel anempfehlen, Euer Gnaden?«, fragte er, denn er wusste, dass ihn Hermann nicht aus Höflichkeit gefragt hatte.

»Habt Ihr schon am Hof des edlen Hans von Brabant gesungen? Zwischen uns bestehen alte Bande. Auch er war in seiner Jugend eine Weile … zu Gast am französischen Hof. Ich könnte Euch ein Empfehlungsschreiben mitgeben.«

Von Eisenach nach Brüssel war es ein sehr weiter Weg; es gab ein Dutzend Fürstenhöfe, die als Ziel näher gelegen hätten. »Es wäre möglich, dass mich mein Weg dorthin führt«, entgegnete er zurückhaltend, um Hermann Bestimmteres zu entlocken.

»Ach, Herr Walther, Ihr wisst ja, wie das mit den Empfehlungsschreiben so ist: Wenn man sie zu lange in der Satteltasche ruhen lässt, dann sind die Dinge, die ein Gönner so an einem Sänger schätzt, vielleicht nicht mehr wahr, bis dieser Sänger eintrifft.«

»Weiß ich denn, welches Lied Ihr im Sommer hören wollt?«, fragte Walther.

»Nun, es könnte nicht schaden, wenn Ihr dem Herzog von Brabant das Lied von der Freigiebigkeit singt, wider Euch und andere«, meinte Hermann leichthin, »und natürlich würde ich mich freuen, wenn Ihr in der Ferne meiner gedenkt und Gutes über meinen Hof singt. Aber am dringendsten, so scheint mir, müsste der edle Herr Hans so wie ich Euer Lied von den drei Dingen hören. Wie ging das noch? Die Untreu’ liegt im Hinterhalt, und auf der Straße fährt Gewalt; der Friede und das Recht sind wund, die dreie haben keinen Schutz, eh’ diese zwei nicht sind gesund?«

Das kam überraschend. Es war offensichtlich, dass Hermann einen weiteren Seitenwechsel plante und Verbündete haben wollte, um sich dagegen abzusichern, alleine zu stehen und von Philipp einfach überrannt zu werden. Das Haus Andechs-Meranien kam ihm da schon sehr gelegen, vor allem, weil die Ländereien des Bamberger Bischofs im Süden an sein Thüringen grenzten. Die Ungarn hatte er sich bereits durch die Verlobung seines Sohnes gesichert und musste daher auch keine üblen Überraschungen von dieser Seite erwarten.

Walther hätte daher verstanden, wenn Hermann ihm empfohlen hätte, Otto aufzusuchen, wenngleich der Landgraf bessere Boten besaß, um mit dem Welfen erneut Fühlung aufzunehmen. Aber von Hans von Brabant, dessen Verbindung zu Otto in den letzten Jahren empfindlich erkaltet war, je offensichtlicher wurde, dass er nicht die Absicht hatte, die versprochene Ehe mit seiner Tochter Marie je Wirklichkeit werden zu lassen, konnte Hermann keine Fürsprache beim Welfen erwarten. Als wohlhabender, mächtiger Herzog war Hans von Brabant natürlich nie als Verbündeter zu verachten, doch seine Ländereien lagen viel zu weit von denen Hermanns entfernt, als dass ihm der Brabanter bei einem Rachefeldzug Philipps zu Hilfe eilen könnte.

Was aber vor allem nicht ins Bild passte, war, den Brabanter zum Frieden im Reich zu mahnen, wenn Hermann gerade die Absicht hatte, diesen zu brechen.

Ungewollt musste Walther an seine Gespräche mit Bischof Wolfger denken. Nun, er war einmal bereit gewesen, sich um des Friedens willen zurückzuhalten, was den Papst betraf. Hatte das irgendjemandem geholfen? Nein. Ein Jahr, ein einziges Jahr des Friedens hatte es gegeben, und mehr nicht. Als Walther danach seine alten Spottgesänge wiederaufnahm, war es, als sei nichts geschehen. Mittlerweile kam ihm der gesamte Krieg wie ein Tretrad mit lauter Mäusen darin vor, das sich immerzu im Kreis bewegte und aus dem es kein Entkommen gab. Er nahm es Hermann nicht übel, dass dieser nach dem Spruch lebte, jeder sei sich selbst der Nächste. Aber er fand es bedauerlich, dass der Landgraf auf seine alten Tage mit der Heuchelei anfing. Friedensmahnungen nach Brabant schicken? War das sein Ernst?

Andererseits: dringend, hatte Hermann gesagt. Noch vor dem Sommer sollte der Brabanter seine Botschaft bekommen. Dennoch wollte er keinen gewöhnlichen Boten schicken, der zwar viel schneller vorwärtskommen könnte als Walther, aber anders als ein Sänger in Brüssel Neugier auslösen würde.

Etwas roch hier faul, und es waren nicht die dunklen Ecken überall in der Burg, die zeigten, dass hier ein Hofstaat überwintert und sich erleichtert hatte; kein Wunder, dass Hermann den März schon auf einer seiner anderen Burgen verbringen wollte. Natürlich zwang niemand Walther, irgendwelche Botschaften zu überbringen. Aber seine alte Neugier, die Unfähigkeit, an einem brodelnden Kochtopf vorbeizugehen, ohne zumindest hineinzusehen oder gar selbst zu rühren, meldete sich unerwartet heftig.

»Ihr erweist mir Ehre, Euer Gnaden. Bei einem so aufmerksamen Zuhörer meiner Verse bleibt mir gar nichts anderes übrig, als auf Euren Rat zu hören und sofort nach Brüssel zu ziehen. Ich nehme nicht an, dass Ihr noch weitere Empfehlungsschreiben an andere Fürsten habt?«

Hermann lachte und schlug ihm wohlwollend auf die Schulter. »Ihr seid ein Mann nach meinem Herzen, Herr Walther. Warum mit einem Zoll zufrieden sein, wenn man eine Elle haben kann, wie? Aber nein. Wenn Ihr erst in Brüssel Euer Lied gesungen habt, dann habe ich nur noch einen Rat für Euch, und bei dem braucht Ihr kein Empfehlungsschreiben von mir.«

»Kunst kann niemand in Zoll oder Elle messen«, sagte Walther trocken. »Was das andere betrifft, so seht Ihr mich stumm vor Erwartung.«

»Ihr stumm? Das bezweifle ich. Nun, es ist höchst einfach. Kommt im Juni nach Bamberg, wenn dort Hochzeit gefeiert wird. In einem Jahr voller Hochzeiten wird das die wichtigste, glaubt mir. Wenn es je eine Feier gab, bei der alle Sänger unserer Zeit gegenwärtig sein sollten, dann diese.«

Was auch immer Hermann plante, würde also im Juni geschehen und hatte mit der Hochzeit der Staufernichte mit dem Andechs-Meranier zu tun. Es kam Walther in den Sinn, dass Hermann, der selbst für seine Sprösslinge keine Stauferbraut bekommen hatte, nicht der Erste wäre, der versuchte, durch eine Entführung neue Tatsachen zu schaffen. Bei dieser Hochzeit würde nicht nur Philipps Nichte als Braut gegenwärtig sein, sondern alle seine Töchter, genau wie ein Großteil des deutschen Adels. Die Stadt würde wieder bis zum Bersten gefüllt sein. Irene und ihre Töchter wurden natürlich gut bewacht, aber in dem Wirbel einer Hochzeit würde es für einen Mann, der es sich leisten konnte, alle und jeden zu bestechen, ein Leichtes sein, eines der Mädchen zu entführen. Und hatte er sie erst einmal in seiner Gewalt, dann gab es genügend willfährige Priester, um sie mit seinem jüngeren Sohn zu vermählen. Dann blieb Philipp nichts anderes übrig, als den Landgrafen von Thüringen als seinen lieben Verwandten zu akzeptieren, ganz gleich, wie zornig er war. Der Brabanter, der gewiss ebenfalls nach Bamberg kam, wäre sehr genehm, um Hermanns Flucht mit seiner neuen Schwiegertochter zu decken, und die Andechs-Meranier, die ja in Bamberg den Bischof stellten, hatten Hermann bereits in ihrer Familie willkommen geheißen und würden ihm wohl gleich noch die heimliche Trauung mit der Entführten stiften.

Mit einem Mal war Walther sich gewiss, dass dies Hermanns Plan sein musste. Und er wusste auch, wer ebenfalls in Bamberg sein würde, bei Irene und ihren Töchtern, und so furienhaft gestimmt, sich zwischen Entführer und Mädchen zu werfen.

Es ist mir gleich, sagte er sich. Aber seine Fähigkeit, sich selbst zu belügen, musste schlechter geworden sein, denn er glaubte es keinen Moment lang und wusste, dass er nach Bamberg gehen würde.

* * *

Markwart wich zunächst ihrem Blick aus, wie er es schon seit Monaten tat, aber Judith hatte keine Zeit, auf seine Befindlichkeit Rücksicht zu nehmen, und zog ihn zur Seite. Als sie ihm ihren Plan erklärte, starrte er sie an, als sei sie wahnsinnig geworden. »Und dabei soll ich Euch begleiten?«

»Ganz gewiss. Otto führt derzeit irgendwo zwischen Lübeck und Schwerin Krieg. Ich ziehe nicht durch ein Gebiet voller Kriegsknechte ohne jemanden an meiner Seite, der sich mit dem Schwert auskennt.«

»Aber ich bin Philipps Mann! Das wäre Verrat.«

»Mein lieber Markwart«, sagte Judith in der Art, in der sie Männer darüber unterrichtete, dass sie für das nächste halbe Jahr enthaltsam leben sollten, »vor allem seid Ihr der Mann, der Walther dabei geholfen hat, mich wegen Gilles anzulügen. Meint Ihr nicht, da schuldet Ihr mir noch etwas?«

Er schwieg betreten, und als sie keine Anstalten machte, ihn loszulassen oder ihm durch eine weitere Äußerung entgegenzukommen, murmelte er: »Wir … ich … wir haben Gilles wirklich gesucht, aber wir fanden ihn nicht, niemand hatte ihn gesehen, und wir haben eine Menge gefragt, das schwöre ich! Und da dachte … Walther eben, dass er sich davongemacht hatte. Wenn wir geahnt hätten, was wirklich geschehen war …«

»Ihr hättet mir schlicht und einfach sagen können, dass Ihr ihn nicht gefunden habt. Dann hätte ich weitergesucht. Wahrscheinlich hätte die Königin mir ein paar Soldaten zur Verfügung gestellt. Wir hätten ihn gefunden und …« Sie schluckte den Rest ungesagt hinunter. Markwart wusste auch so, was sie meinte, und schaute noch elender drein. Unter anderen Umständen hätte sie Mitleid mit ihm gehabt, aber sie brauchte wirklich jemanden, und einem beliebigen Kriegsknecht, den Irene ihr zur Seite stellen konnte, traute sie nicht, ganz zu schweigen davon, dass er ihre vorbereitete Geschichte unglaubwürdig würde klingen lassen.

»Wenn ich nicht mit Euch komme, bin ich auch die längste Zeit im Hofstaat von Philipp gewesen, nicht wahr?«

»Ich hoffe, dass Ihr mit mir kommt, damit ich meine Reise überlebe. Mit allen meinen Gliedmaßen«, setzte sie gnadenlos hinzu.

»Aber wollt Ihr denn Gilles im Stich lassen, nach alldem?«, rief Markwart aus, erkennbar als sein letztes Argument.

»Ich kann Gilles nicht mit mir nehmen, nicht auf diese Reise. Doch die Königin hat mir geschworen, dass er hier sicher sein wird, als Mitglied des Gesindes ihrer Kinder. Er ist zum königlichen Spielzeugmacher ernannt und hat zwei Knechte, die sich um ihn kümmern, bis ich wieder da bin.«

»Dann kommen wir zurück?«, fragte Markwart erleichtert. Judith entging das wir nicht.

»Das liegt bei uns, mein Freund. Das liegt allein bei uns.«


Es lag auch an ihren Vorbereitungen. Irene hatte ihren Verstand gepriesen, und wenn er je nötig gewesen war, um sich auf ein völlig irrsinniges Unternehmen einzulassen, dann jetzt. Es war Judith durchaus in den Sinn gekommen, dass es für alle Beteiligten bis auf Beatrix das Beste wäre, wenn sie sich für zwei Monate in einem Bauernhaus verkroch, anschließend zu Irene zurückkehrte und behauptete, Otto sei nunmehr ein geläuterter Mann, dem man nicht nur zutrauen konnte, den Frieden im Land zu wahren, sondern auch, Beatrix gut zu behandeln. Es war für sie eine mehr als starke Versuchung, aber sie hätte danach jeglichen Respekt vor sich selbst verloren.

Markwart war verwundert, als sie ihm, nachdem sie Hagenau hinter sich gelassen hatten, mitteilte, dass sie zunächst nach Köln gehen würden. »Aber ich dachte, Otto residiert nicht mehr dort. Haben sich die Kölner nicht König Philipp unterworfen, bei der Angelegenheit mit dem Bischof?«

»Sie sind mit ihm handelseinig geworden. Und ehe wir zu Otto reisen, habe ich noch einen Besuch zu machen.«

»O Gott«, sagte Markwart. »Heißt das, ich habe schon wieder an der Armenspeisung teilzunehmen und vor Häusern bestimmter Kaufleute auf Euch zu warten?«

Auf diese Weise erfuhr sie von dem Aufenthalt Walthers und Markwarts in Köln vor ein paar Jahren. Walther hatte es in Braunschweig erwähnt oder auf dem Weg nach Würzburg, genau wusste sie es nicht mehr; sie hatte es vergessen, bis Markwart sie wieder daran erinnerte. Judith zwang sich, nicht an eine Zeit zu denken, in der sie froh und glücklich gewesen war, in Walthers Gegenwart zu sein, und setzte stattdessen bei dem an, was sie für sich nutzen konnte. Ihr Onkel besaß ein sehr gutes Gedächtnis, was Menschen betraf, selbst welche, die er nur flüchtig gesehen hatte oder keine hohe Stellung hatten. Sie bat Markwart also, bei dem Haus des Kaufmanns Stefan eine Bestellung für roten und weißen Wein abzugeben, keine Fässer, sondern gerade so viel, dass es für vier Becher genügen würde.

»Kein Weinhändler wird sich auf eine derartig dumme Bestellung einlassen!«, protestierte Markwart.

»Mein Onkel wird es tun, und er wird dir folgen. Er selbst, keiner seiner Leute. Also kehre auf dem direkten Weg zu dem Badehaus zurück, wo ich mich aufhalten werde.«

»Ihr wollt in ein Badehaus?«

»Ich bin Ärztin«, sagte Judith mit undurchdringlicher Miene. »In einem Badehaus können sie Ärzte immer gut gebrauchen.« Dort konnte man außerdem keine Waffen tragen – selbst damals in Chinon hatten Ottos Wachen draußen warten müssen –, denn man lief nackt oder so gut wie nackt herum. Sie wollte ihren Onkel so verwundbar wie möglich haben; Stefan war inzwischen ein alter Mann, und die wenigsten von denen brachten es fertig, in Gesellschaft anderer unbefangen zu ihren Körpern zu stehen. Der allgegenwärtige warme Dampf mochte helfen, um ihn weniger überlegen als sonst zu machen, aber bei Stefan, so wie sie ihn kannte, hielt sie es auch durchaus für möglich, dass er in Hitze und Schneesturm gleichermaßen selbstbeherrscht blieb.


Als sie Stefan wiedersah, ohne Paul, ganz wie sie vermutet hatte, krampfte sich etwas in ihr zusammen, denn sein Haar war kaum noch vorhanden, der Rest schlohweiß. Sie musste an ihren Vater denken, obwohl er ihm nicht im Geringsten ähnelte. Durch die faltige Haut hatte sich auch die leichte Ähnlichkeit zu ihrer Mutter verloren. Judith fragte sich, ob er wohl immer noch seine Schwester in ihr sah. Doch ob er es nun tat oder nicht, er würde es behaupten, früher oder später, um sie verwundbar zu machen. Das durfte sie nicht einen Herzschlag lang vergessen.

»Es ist ein christliches Badehaus, in dem du mich erwartest«, sagte er; seine Stimme war unverändert. »Und doch hast du die Weinmischung für eine Seder bestellt. Dabei ist das Pessach-Fest schon vorbei.«

Sie hatte sich nicht getäuscht; er hatte sofort gewusst, wer diese Bestellung abgegeben hatte. Onkel, dachte sie, ist dir klar, dass du jetzt derjenige bist, der berechenbar geworden ist?

»Paul sagte mir, dass du Kaddisch für uns gesprochen hast«, fuhr Stefan fort. »Willst du von mir hören, dass ich dir den Gefallen erwidert habe? Du hast mir Leid zugefügt, Nichte. Ich weiß nicht, ob dir das klar ist.«

Er begegnete ihren Vorwürfen, ehe sie diese machen konnte, indem er seine eigenen aussprach, um Schuldgefühle in ihr zu wecken. Warum nur konnte sie erst jetzt seine Schachzüge so schnell als solche erkennen?

»Du hast meinen Gemahl gerettet, ihn beherbergt und ihn mir zurückgegeben«, entgegnete sie. »Du hast mir Gutes getan, Onkel. Ich weiß nicht, ob dir das klar ist. Schließlich war das nicht der Grund, warum du es getan hast.«

In seinen Augen tanzte etwas, das Entzücken sein könnte, aber das mochte an den Öllampen liegen, die hier von der Decke hingen. »Jutta, Jutta, Juditlen«, murmelte er. »Du hättest ein Junge sein sollen und mein Sohn.«

»Dann hättest du mich Mordaufträge übernehmen lassen, statt mir die Geschichte von Esther zu erzählen«, antwortete sie. »Ich habe nie gewünscht, ein Mann zu sein, Onkel, noch eine andere als die Tochter meiner Eltern. Aber …« Sie zögerte. Jetzt kam es darauf an, darauf, dass er ihr glaubte. »Ich habe festgestellt, dass ich mehr deine Nichte bin, als ich es wahrhaben wollte.«

»Nun, die Art, wie man eine Bitte vorbringt, hast du nicht von mir gelernt«, stellte er trocken fest. »Um wessen Leben geht es? Denn nichts Geringeres könnte dich wohl dazu bringen, hier bei mir aufzutauchen.«

Sie spürte, wie in der feuchten Wärme des Badehauses Wasser und Schweißtropfen über ihre Haut rannen.

»Du bist hier bei mir aufgetaucht, Onkel, und ich kann nicht glauben, dass es nur aus Neugier oder alter Zuneigung geschah. Wenn es nicht etwas gäbe, was ich für dich tun könnte, dann wärst du Markwart nicht gefolgt. Du hättest einen deiner Leute geschickt und nur versucht, herauszufinden, wo ich bin. Warum verrätst du mir nicht, was du dir von mir erhoffst, und ich sage dir, was du für mich tun kannst?«

»Du könntest mich untersuchen«, sagte er. »Manchmal spüre ich es dieser Tage in meinen Knochen, wenn das Wetter umschlägt. Und jetzt, im Frühjahr, schwellen meine Augen wieder an. Ich muss niesen, ich habe rote Flecken, kurzum die alljährlichen Kümmernisse. Mich dünkt, eine gute Ärztin könnte mir da helfen.«

Wenn ihr das etwas bewies, dann, dass er immer noch so gut im Fechten und Umgarnen mit Worten war wie eh und je. Er wusste, dass derjenige, der als Erster seine Absichten bekanntgab, in die schlechtere Position gedrängt wurde, und er hatte zu viel Übung, um selbst derjenige zu sein. Nun, sie hatte nicht vor, ihm die Wahrheit zu erzählen, aber sie hatte sich nun hoffentlich lange genug geziert, damit er ihr eine Lüge glaubte. Noch ein Hinauszögern vielleicht, und dann ihre Bitte. »Sag mir nicht, dass du vergessen hast, was ich dir empfohlen hatte, als ich noch unter deinem Dach lebte«, entgegnete sie und ließ eine Spur von Zuneigung in ihre Stimme fließen. »Jeden Tag ein halber Liter Joghurt mag für ärmere Männer schwer zu erhalten sein, aber du kannst es dir gewiss leisten, ihn dir in die Stadt bringen zu lassen. Das Gleiche gilt für Brennnesseln. Man braucht keine Ärztin zu sein, um einen heißen Brennnesseltrank zu brauen.«

»Weißt du, Nichte, ich werde tatsächlich alt, denn ich hatte vergessen, dass es Brennnesseln waren. Ich dachte immer, es seien sanftere Kräuter gewesen, doch ich hätte es besser wissen müssen. Brennnesseln passen zu dir«, gab er zurück. In seiner Stimme lag Zuneigung und Neckerei zugleich. Sie fragte sich, wer von ihnen diesmal mit der Wahrheit log und wer mit einer Lüge eine Wahrheit ausdrückte.

»Onkel, ich mache mir Sorgen um meine Zukunft«, sagte sie abrupt.

»Hast du denn Grund dazu? Du bist die Leibärztin der Königin, und ich muss eingestehen, dass es für die Staufer derzeit besser aussieht als für die Welfen. Wenn wir hier in Köln nicht davon überzeugt wären, dann hätten wir nicht mit ihm verhandelt und uns ihm unterworfen. Immerhin haben wir von ihm Zollvorrechte und eine Bestätigung der Kölner Münze bekommen, und das Befestigungsrecht, so dass wir die Mauern erneuern dürfen, die er beschädigt hat. Alles in allem hätte es schlimmer kommen können. Du hast wohl auf den Richtigen gesetzt, Nichte.«

Sie schlug die Augen nieder. »König Philipp«, sagte sie und versuchte, gleichzeitig beschämt und bitter zu klingen, »nimmt es mir übel, dass er durch mich den Mann verloren hat, der ihm überall die Herzen des Volkes gewann. Noch hängt die Königin an mir, aber es bedrückt sie, dass meinetwegen Unfrieden herrscht zwischen ihrem Gemahl und ihr. Ihren Kindern graut es vor dem armen Gilles; auch das bringt die Königin dazu, in ihrer Zuneigung für mich nachzulassen. Kurzum, ich fürchte sehr, dass meine Zeit bei Hofe höchstens noch ein Jahr dauern wird, nicht länger. Danach werde ich einen neuen Gönner suchen müssen, der bereit ist, auch Gilles zu versorgen, und das kann nicht als Ärztin in einer kleinen Stadt geschehen. Auch nach Salerno kann ich nicht mehr zurückkehren, nicht mit Gilles in seinem Zustand. Nur ein anderer Hof kommt in Frage.«

Ihr Onkel schwieg und setzte sich auf der Steinbank, wo die Menschen sich nach dem Bad ausruhten, etwas gerader. Dann sagte er: »Du bittest nicht um einen Platz unter meinem Dach.«

»Nein«, gab sie zurück.

»Dann …«

»Ich glaube nach wie vor, dass du dich seinerzeit getäuscht hast, Onkel, was die Geschichte von Xerxes und Esther betrifft. Dazu hätte Graf … König Otto in mich verliebt sein müssen, was nicht der Fall war. Aber es mag sein, dass er mir doch ein wenig gewogen ist, genug, um mir einen Platz als Ärztin an seinem Hof zu geben.«

»Es ist Jahre her«, sagte Stefan, mit einem Mal hart klingend. »Wahrscheinlich hat er dich längst vergessen.«

»Oder er will mir übel statt gut, wenn er sich erinnert«, gab sie sofort zurück. »Deswegen wärest du mir eine große Hilfe, Onkel. Wenn er mich vergessen hat, dann wäre eine Empfehlung von dir eine Möglichkeit, ihn zumindest dazu zu bewegen, mich zu empfangen, damit ich um eine Stelle bei Hofe für mich und Gilles bitten kann. Wenn er mich nicht vergessen hat und mir grollt, dann wäre es ein Grund, mich nur fortzuschicken, statt sich zu rächen, wenn er auf dich Rücksicht nehmen muss.«

»Wer sagt, dass er noch auf mich Rücksicht nehmen muss? Immerhin ist ihm Köln inzwischen verlorengegangen. Da mag es ihm gleich sein, was Kölner Kaufleute denken.«

»Er war im letzten Jahr in England, Onkel, und kam mit englischen Geldern zurück, wie man hört. Auch von deinem Haus gehen ständig Handelszüge nach England und in den Teil der Normandie, der noch nicht wieder französisch ist. Das alles scheint mir ein roter Faden in einem immer noch sehr fest gewebten Teppich zu sein. Ganz gleich, was für die Stadt Köln insgesamt gilt, Herr Otto und du gehen noch lange nicht getrennte Wege.«

»Du hättest mein Sohn sein sollen«, sagte ihr Onkel wieder und seufzte. Mit einem Mal hatte sie Mitleid mit Paul. »Und was, meine Teure, bekomme ich für dieses Empfehlungsschreiben?«

»Kein Schreiben, Onkel, sondern eine mündliche Empfehlung, überbracht von deinem Sohn, damit Herr Otto sieht, wie ernst sie dir ist. Du bekommst das, wonach wir uns alle sehnen: einen neuen Anfang. Ich werde dir dankbar sein, und was wir uns auch angetan haben, wird ungeschehen sein.«

»Das hältst du für möglich?«, fragte er sehr, sehr ernst.

Sie dachte an Chinon, Würzburg, aber auch an Gilles und seine verlorenen Beine, seine Jahre als zur Schau gestelltes Tier. Sie dachte daran, wie Walther gefragt hatte: »Was kümmert dich das? Du warst doch nie mit ihm verheiratet.«

»Manchmal«, entgegnete Judith. »Manchmal.«

* * *

Der direkte Weg von Eisenach nach Brüssel mochte zwar nicht über Bamberg führen, doch die Stadt lag zumindest nahe genug, dass der Umweg zu verantworten war. Walther war nicht so gutgläubig, versiegelte Empfehlungsschreiben zu überbringen, die eine geheime Botschaft enthalten mussten, ohne zu wissen, was darin stand, und er hielt es obendrein für einen guten Gedanken, sich in Bamberg umzuschauen, bevor es im Sommer nur so vor Fürsten und ihrem Gefolge wimmeln würde. Falls er mit seiner Vermutung hinsichtlich Hermanns Absichten recht hatte, konnte es nicht schaden, über bessere Ortskenntnis zu verfügen und ein paar Verbindungen. Nicht, dass er die Absicht hatte, irgendjemand anderem zu helfen als den kleinen Königstöchtern, die nicht verdient hatten, entführt zu werden, nur weil der Landgraf von Thüringen seinen Rachen nicht vollbekam. Es waren alles aufgeweckte Mädchen, nicht zu hochmütig für Fürstentöchter und auf quirlige Weise lebensfroh. Er stellte sie sich in einer ungewollten Ehe wie der Jutta von Meißens vor; obwohl sie früher oder später wohl nichts anderes erwartete, war ihm der Gedanke zuwider, dass es jetzt schon so weit sein könnte.

Falls Judith bei ihnen sein sollte, nun, das ließ sich nicht ändern. Er würde kein Wort mit ihr wechseln. Nie mehr.

Der Erzbischof von Bamberg war bereit, Herrn Walther von der Vogelweide zu empfangen, obwohl sein Haushofmeister warnend mahnte, von Liedern über den Papst abzusehen. Schließlich sei sein Herr Eckbert von Andechs erst nach langem Hin und Her und nach Erreichen des dreißigsten Lebensjahrs vom Heiligen Vater bestätigt worden. Auch der Dompropst – Eckberts Bruder Berthold – sei ein frommer Herr und nicht gewillt, Böses über den Stellvertreter Gottes auf Erden zu hören. Andererseits seien die beiden keine freudlosen Herren, und Lieder, welche die angenehmen Dinge des Lebens feierten, selbst solche, die dem geistlichen Stand gewöhnlich fremd waren, seien durchaus willkommen.

Walther erkannte Berthold von der kurzen Begegnung auf der Wartburg. Sein Bruder Eckbert glich ihm bis zu dem kleinen Ränzlein, das beide trotz ihrer Jugend schon trugen, hatte jedoch ein kantigeres Kinn und erweckte nicht den Eindruck, wegen irgendetwas unsicher zu sein. Walther trug ein paar Frühlingslieder und seine Beschwerden über die lauten Ritter auf der Wartburg vor; die Andechs-Meranier und der Rest der Bamberger Domherren lachten an den richtigen Stellen. Um eine Vermutung zu überprüfen, ließ Walther etwas Ernsteres folgen und stimmte sein Klagelied von den drei Dingen an. Es wurde ruhig im Saal; anschließend winkte der Bischof Walther zu sich und sagte etwas davon, wie sehr alle für den Frieden im Reich beteten und das Ihre tun müssten, um ihn endlich zu erreichen. »Leider herrschen Zustände wie beim Turmbau in Babel«, seufzte er, »weil jeder mit anderer Zunge redet und etwas anderes will. Wenn wir uns nur mehr verstehen könnten! Mein Bruder erzählt mir, dass Ihr vertraut mit König Philipps Hof seid?«

»So ist es, Euer Gnaden.«

»Und mit dem König? Mir sind ein paar Eurer Lieder über ihn bekannt, und ich muss gestehen, ich bin verwirrt. Manche preisen ihn als milden Herrscher, andere vergleichen ihn zu seinen Ungunsten mit dem heidnischen Saladin. Habt Ihr keine feste Meinung?«

»Wir stehen mitten im Leben, Euer Gnaden, und unsere Taten beeinflussen die Meinung, die andere Menschen von uns hegen. Solange wir also handeln, so lange können Meinungen sich ändern. Wenn der König wirklich den Frieden erreichen und halten kann, dann wird ihn keiner inniger preisen als ich.«

»Wohl gesprochen«, entgegnete Eckbert nach einem winzigen Zögern. »Im Frieden wird König Philipp wohl auch weniger Eisenerz benötigen als im Krieg«, fuhr er fort und blickte Walther forschend an, als müsse er wissen, von was die Rede war. Walther hatte zwar nicht die geringste Ahnung, aber seiner Erfahrung nach sollte man das hohe Herren nie erkennen lassen.

»In der Tat.«

»Und er wird Versprechungen erfüllen?«

Das war halb als Frage, halb als Feststellung ausgedrückt, und allmählich dämmerte es Walther, von was die Rede war. Immerhin verheiratete Philipp seine Nichte mit einem der Brüder des Bischofs, also mussten die Andechs-Meranier auf eine reiche Mitgift hoffen. Im Nordgau, das an die Ländereien des Fürstbischofs von Bamberg grenzte, gab es Eisenerz, und als Mitgift wäre so ein Landstrich sehr naheliegend.

»Der Landgraf von Thüringen«, warf Berthold von Andechs ein, »hat mir erzählt, dass nicht alle Versprechungen des Königs gehalten wurden. Und Ihr, wenn ich mich recht erinnere, habt etwas von Schneidern berichtet, welche durch die Kleider für Schönheit zu sorgen hatten, egal was darunter verborgen bleibt.«

Es war eine einfache Rechnung, die sich vor Walther auftat: Er konnte den beiden Andechs-Meraniern entweder versichern, dass Philipp ein Mann seines Wortes war, der ihrem Bruder gewiss sämtliche Gebiete übereignen würde, die sie sich vorstellten, oder er konnte das Gegenteil zum Ausdruck bringen. Dass er von Philipps Plänen so wenig wusste wie ein Bettler auf der Straße, tat nichts zur Sache. Sich wissend zu geben, war eines seiner leichtesten Unterfangen. Darin hatte er Übung. Wenn er für Philipp bürgte, dann würden sie ihn hier nun für einen treuen Stauferanhänger halten, nicht nur der Bischof, sondern auch sein Mundschenk, der gerade Wein nachgoss, die Magd, die neue gesalzene Fische auf Zinntellern auftischte, und all das Gesinde, mit dem er sich bereden wollte. Also würde er überhaupt nichts von dem erfahren, was sich für den Juni zusammenbraute, wenn die vor ihm sitzenden Andechs-Meranier etwas damit zu tun hatten. Also sagte Walther: »Ich glaube, der König ist vor allem ein vorsichtiger Mann, der seine Schafe erst zählt, wenn er sie in den Stall getrieben hat. Noch haben wir keinen Frieden, und Eisenerz ist für die Staufer nun einmal wichtig. Vor allem das im Nordgau.«

Die Brüder wechselten einen Blick. »Ich habe es dir gesagt, Eckbert«, murmelte Berthold.

»Es ist gut, Herr Walther. Ihr könnt für heute gehen.«


In der Küche waren die Mägde und Knechte, die Köche und Dienstmannen mehr als dankbar für einen deftigeren Vortrag und danach wie erwartet ausgesprochen redselig. Offenbar rechneten die Andechs-Meranier auf die Nordgau als Mitgift, und mit noch mehr. Sie waren bereits verärgert gewesen, dass Philipp statt einer Tochter nur seine Nichte zur Verfügung gestellt hatte. »Gut genug für den König von Ungarn, gut genug für den König von Frankreich, aber nicht gut genug für den König der Deutschen? Wofür hält der sich eigentlich? Ist noch nicht einmal Kaiser, außerdem gibt es noch einen König«, sagte der Mundschenk des Bischofs naserümpfend, der nicht aus Franken stammte, sondern als Familienbediensteter mit nach Bamberg gekommen war.

»Glaubt Ihr denn, die Familie wird die Hochzeit abbrechen?«

»Einer derer von Andechs steht immer zu seinem Wort«, sagte der Mundschenk. Eine der jüngeren Köchinnen erinnerte Walther ein wenig an die Schankwirtin seiner Jugend. Er machte ihr schöne Augen, was dazu führte, dass er ein warmes Bett für die Nacht hatte und sie für ihn das versiegelte Empfehlungsschreiben Hermanns unter Wasserdampf öffnete, damit er es mit etwas neuem Siegellack unter dem alten Siegel später wieder verschließen konnte. Zu seiner Enttäuschung stand in dem Brief an den edlen Hans von Brabant nichts von Entführungsplänen oder Hermanns Absicht eines Seitenwechsels. Immerhin empfahl der Landgraf Walthers Dienste tatsächlich, doch er fügte auch hinzu, manche Vögel dürfe man nicht zu lange an einem Ort halten, vor allem keine Raubvögel mit ihren scharfen Schnäbeln, die manchmal eben allzu gierig seien.

Wer ist hier gierig, dachte Walther und las weiter, doch Hermann drückte ansonsten nur seine Hoffnung aus, dem Herzog von Brabant bald wieder zu begegnen, ob in Bamberg bei der Hochzeit oder beim nächsten Hoftag, wo auch immer dieser stattfinden würde. Falls sich hinter den Worten des Landgrafen ein zweiter Sinn verbarg, dann gründete er vermutlich auf Dingen, die nur ihm und dem Brabanter bekannt waren. Nun, vielleicht würde er in Brüssel mehr dazu erfahren können.

»Das wird viel, viel Arbeit werden mit der Hochzeit dieses Jahr«, seufzte die Köchin. »Nicht nur wegen der hohen Herren, die wir verköstigen müssen, sondern auch wegen all der Gaukler für die Festlichkeiten. Nichts für ungut«, fügte sie rasch hinzu. »Aber jedes Mal, wenn Gaukler und Spielleute bei Festen eingeladen sind, stopfen sie doppelt so viel wie die hohen Herren in sich hinein, weil sie sonst nicht so gutes Essen bekommen. Selbst die, bei denen gar nicht so viel zum Hineinstopfen vorhanden ist! Wir hatten einmal einen Zwerg hier und einen beinlosen Kerl, und glaubst du, die hätten weniger gewollt als der Spielmann, der doch gerade so groß war wie du? Nein. Beinahe die Haare vom Kopf haben die mir und Seiner Gnaden in der Küche abgeluchst, statt dankbar zu sein, dass die überhaupt etwas bekamen. Dabei war der Beinlose noch nicht einmal von hier. Hat kaum das Maul aufgemacht, und wenn er etwas sagte, dann hat er Französisch gequakt.«

Walther war in Gedanken noch immer dabei, zu versuchen, Hermanns Brief zu deuten; außerdem trommelte er mit seinen Fingerspitzen auf den Rücken und dem wohlgeformten Hintern der Köchin den Takt des Liedes, das ihm derzeit nicht gelingen wollte. Aber etwas von dem, was sie plapperte, riss ihn trotzdem aus seiner Grübelei und ließ ihn aufhorchen. »Sprichst du denn Französisch, dass du es unterscheiden kannst?«

»Der Herr Bischof hat manchmal welsche Gäste, wegen seiner Schwester. Und ungarische, wegen seiner anderen Schwester. Wir sind hier wirklich ein Hof von Welt! Das fränkische Rom sind wir, hat der Haushofmeister erst neulich gemeint.«

»Mit französischen Krüppeln als Unterhaltung seid ihr das ganz sicher«, gab Walther zurück. »Aber es wundert mich, dass die Königin von Frankreich einen als Boten schickt.«

Sie wälzte sich auf ihren Rücken, um ihm ihrerseits einen Klaps zu versetzen. »Der Krüppel war doch nicht ihr Bote, du Schelm. Den hat die Gauklergruppe, zu der er gehörte, sogar hier gekauft, bei uns in Bamberg.« Sie runzelte die Stirn. »Norbert der Zwerg und der beinlose Schill, so hießen die zwei Fresser. Ist jetzt schon ein paar Jahre her, aber so, wie die geschlungen haben, als hätte sie drei Tage lang niemand gefüttert, so sind sie mir im Gedächtnis geblieben.«

»Gilles?«

»Ist ein dummer Name für einen Krüppel, nicht wahr?«, fragte die Köchin. »Schill. Wie Schild.«

»Vielleicht war er nicht immer ein Krüppel«, sagte Walther tonlos und hörte nicht mehr, was sie antwortete, weil ihm schlecht wurde. Als er das letzte Bröckchen Fisch herausgewürgt hatte, warf ihn die Köchin in rechtschaffener Empörung ob seiner Undankbarkeit hinaus. Es kann nicht sein, sagte er sich immer wieder, doch in seinem Herzen wusste er nur zu gut, dass es so war.

Das Spiel der Nachtigall
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