Kapitel 31
Sich Bischof Wolfger anzuvertrauen, ehe sie Nürnberg verließen, war ein Glücksspiel gewesen, doch wie Walther fand, ein zu rechtfertigendes. Anders als bei Philipp oder Heinz von Kalden konnte man bei Wolfger davon ausgehen, dass er seinen Mitbischof nicht tot sehen wollte, ob nun aus christlichem Mitgefühl oder der vernünftigen Erkenntnis, dass der Tod eines Amtsbruders ein gefährliches Vorbild schaffen mochte. Gleichzeitig konnte jemand von Wolfgers Autorität auch Judith bei Irene entschuldigen, wenn er vorgab, sie sei auf seinen Wunsch nach Würzburg gegangen. Außerdem empfahl Walter dem Bischof, er solle selbst einen Eilboten zu Konrad schicken, welcher die Strecke mit zwei Pferden an einem Tag schaffen konnte. Einen Gesandten des Bischofs von Passau, dem neuen Patriarchen von Aquileja, würde Konrad sofort empfangen.
»Ihr müsst mir hinterher aber erzählen, woher Euer Wissen stammt, Herr Walther.« An Wolfgers Blick konnte man erkennen, dass er nicht scherzte. »Auf dem Weg über die Alpen.«
Nachdem er sich von Judith und Paul getrennt hatte, erwartete Walther, bei St. Kilian Wolfgers Leute zu treffen und von ihnen zu hören, dass Konrad gewarnt worden war. Doch es kam niemand. So blieb ihm nur, selbst zu versuchen, den ehemaligen Kanzler zu erreichen. Der Pförtner teilte ihm mit, dass der Bischof heute im Dom die Messe lesen würde, also machte sich Walther auf den Weg dorthin. Er war kurz vor der Kirche, als das Geschrei einsetzte. Dann wurde er von zwei galoppierenden Reitern fast niedergeritten. Es fröstelte ihn, als er im letzten Moment auswich und Botho erkannte. Den gleichen Botho, der ihm einmal mit dem Verlust seiner Zunge gedroht hatte: Er schaute weder links noch rechts, während er und sein Gefährte durch die Gassen Würzburgs rasten, und er war zu schnell verschwunden, als dass Walther nähere Einzelheiten hätte ausmachen können. Nur eine war für ihn unübersehbar gewesen: An Bothos mit hellen Hasenfellen gefüttertem Winterumhang und an seinen Händen klebte Blut.
Es brauchte für ihn keine wütende Menge, um sich denken zu können, was geschehen war. Dass er Botho einmal damit erpresst hatte, ihn als welfischen Spitzel hinzustellen, war nun ein bitterer Scherz des Schicksals, aber jetzt war keine Zeit, darüber nachzudenken. Wenn der Erzbischof von Botho ermordet worden war, dann spielte es im Moment keine Rolle, ob dies auf Heinz von Kaldens Befehl hin geschehen war, auf Wunsch von Philipp oder von Judiths Onkel in die Wege geleitet wurde. Später bestimmt, doch jetzt nicht. Zuerst würde die Stadt zum Narrenhaus werden, regiert von Angst, Wut und Trauer. Keine gute Zeit für fremde Gäste darin.
Er und Judith hatten zwei Treffpunkte verabredet: Wenn alles gutging, der Erzbischof bester Gesundheit und Paul nur von guten Absichten gelenkt war, dann wäre auch sie nach St. Kilian gekommen. Andernfalls wollten sie sich bei den Bootsanlegestellen treffen. Im Winter waren kaum Schiffe oder Flöße unterwegs, und niemand würde dort nach ihnen suchen. Es nagte an ihm, dass Wolfgers Leute sich nicht hatten blicken lassen. Gewiss, das mochte Zufall sein. Er wusste auch nicht, welchen Weg von Nürnberg nach Würzburg diese nehmen wollten, und vielleicht hatten sie genau dasselbe wie Judith, Paul und er getan und unterwegs übernachtet und sich schlicht und einfach verspätet.
Wenn er sich in Wolfger geirrt hatte und auch der Bischof in die ganze Angelegenheit verwickelt war, dann würde es für ihn und Judith keine Sicherheit mehr geben, weder bei Staufern noch bei Welfen. Sich Leopold von Österreich zu Füßen zu werfen, war dann noch die beste Möglichkeit, aber dieser hatte bisher nicht angedeutet, Wert auf mehr als einen sehr gelegentlichen Besuch Walthers an seinem Hof zu legen. Im Gegensatz zu seinem Bruder hatte Leopold auch keinen Juden als Münzmeister eingestellt, und er würde niemals eine jüdische Ärztin an seinem Hof beschäftigen.
Doch jetzt ging es darum, überhaupt eine Zukunft zu haben.
Während sich die aufgebrachte Menge durch die Gassen wälzte, fiel ihm ein kräftig gebauter Mann auf, ein wahrer Riese, der eine ältere Frau mit seinem Körper schützte, als sie stürzte und fast überrannt worden wäre. An ihm kam keiner vorbei. »Du solltest nicht hier draußen sein, Mutter«, sagte er freundlich. Die ältere Frau antwortete weinend, sie sei eben zur Messe gegangen, und wer habe denn mit solchen gottlosen Bluttaten gerechnet? Dass die Anrede »Mutter« höflich, nicht wörtlich gemeint gewesen war, zeigte sich, als der Mann fragte, ob er sie zu ihrer Familie nach Hause begleiten solle, was sie ablehnte, da sie nur zwei Häuser weiter im Haushalt ihres Sohnes lebte. Kurzentschlossen lief Walther unter Einsatz seiner Ellbogen hinter dem Mann her, trat an ihn heran, nachdem dieser die alte Frau bis zu ihrer Tür gebracht hatte: »Gevatter, habt Ihr die Zeit, einer weiteren Frau den gleichen Dienst zu erweisen?« Walther zückte eine Münze, um klarzumachen, dass er dies nicht umsonst erwartete.
»Ihr seid nicht von hier«, gab der Mann misstrauisch und mit starkem fränkischen Akzent zurück. »Ihr klingt fast wie ein Bayer oder ein Österreicher.«
»Und das nach all den Jahren in so vielen anderen deutschen Fürstentümern«, sagte Walther gespielt bekümmert. »Das beweist doch mehr als alles andere, wie sehr ich Hilfe benötige, nicht wahr?«
»Ich dachte, ich soll einer Frau helfen.«
»Ihr und mir.« Walther unterließ weitere Schnörkel und erklärte, er und seine Gemahlin hätten sich in dem Tumult aus den Augen verloren, doch da es in Würzburg ein paar alte Feinde aus Köln gebe, mache er sich eben Sorgen um sie und würde sich mit einem starken, ehrlichen Mann an seiner Seite wohler fühlen.
»Was für alte Feinde?«
»Ihre Familie. Der Onkel ist ein alter Geizkragen, der nicht wollte, dass wir heiraten, und nun sieht es so aus, als habe er seinen Sohn geschickt, um sie mit Gewalt zurückzuholen, obwohl unsere Ehe von Bischof Konrad selbst gesegnet wurde, ist das zu fassen?«
Der Mann blickte noch immer ein wenig zweifelnd drein, aber ließ sich von einer weiteren Münze überzeugen und folgte Walther. Er hieß Jakob und war Hufschmied, was die Muskeln an seinen Armen erklärte.
»Wenn Ihr so gut darin seid, Akzente zu hören, Jakob, und Pferde beschlagt … könnt Ihr Euch erinnern, ob Ihr in der letzten Woche irgendwelche Rheinländer in Eurer Schmiede hattet?«
Jakob rieb sich das Kinn. »Mag wohl sein. Der Wirt vom Ochsenschwanz hat mir zwei geschickt. Eigentlich mag ich keine Rheinländer, aber die haben gleich gezahlt, gar nicht erst versucht, den Preis herunterzuhandeln. Das gefiel mir.«
»Ihr mögt keine Rheinländer, keine Bayern und keine Österreicher. Gibt es ein Fürstentum, das Gnade vor Euren Augen findet?«
»Franken«, sagte Jakob schlicht.
»Selbstverständlich.« Walther fragte, ob die zwei Rheinländer denn immer noch im Ochsenschwanz untergebracht seien. Jakob zuckte nur die Achseln. Das ließ Walther die Wahl, entweder zu den Bootsanlegestellen zu gehen oder dem Ochsenschwanz einen Besuch abzustatten.
Wenn Judith wie verabredet zum Treffpunkt ging und ihn dort nicht vorfand, würde sie warten. Wenn sie erst gar nicht zu den Bootsanlegestellen kommen konnte, weil Paul Verstärkung bekommen hatte, dann würde Walther dort wertvolle Zeit verschwenden. Jetzt, wo der Bischof tot war, gab es für Stefans Leute keinen Grund, weiter in Würzburg zu bleiben. Keinen außer Judith.
»Bringt mich zum Ochsenschwanz.« Walther hoffte mit jeder Faser seines Seins, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Auf jeden Fall kam er schneller mit Jakob vorwärts, als er es alleine geschafft hätte; der Hufschmied war so groß und kräftig, dass ihm selbst die wütenden, aufgebrachten Menschen auswichen, und niemand fragte, wohin er und Walther wollten. Niemand, bis auf einen bewaffneten Mann, der in ein Lederwams gekleidet war und den roten Löwen von Passau auf seinem Umhang trug.
»Walther? Walther, bist du das?«
Warum Wolfger ausgerechnet Hugo geschickt hatte, war Walther schleierhaft, aber er war zu erleichtert über den Beweis, dass der Bischof überhaupt tätig geworden war und somit sein Versprechen erfüllt hatte, um etwas anderes zu empfinden.
»Beim Blute Christi«, sagte Hugo, weil das seine Vorstellung von einem derberen Fluch war, »wo hast du nur gesteckt? Wir haben in St. Kilian auf dich gewartet!«
»Wann?« Walther entschied, dass die Auskunft warten konnte, und fragte Hugo stattdessen, ob er denn Bischof Konrad nicht mehr hatte warnen können.
»Natürlich haben wir ihn gewarnt«, entgegnete Hugo beleidigt.
»Aber warum …«
»Seine Gnaden war überzeugt, dass es sich bei meiner Warnung nur um einen Versuch des Reichshofmarschalls handelte, ihn einzuschüchtern, damit er den Ravensburgern nicht ihre Güter wegnimmt. Das hatte er nämlich vor, nach dem, was Botho sich in den letzten Jahren ihm gegenüber geleistet hat. Er hat uns nur ausgelacht, und ganz ehrlich, ich habe mich auch gefragt, ob du da nicht einer ausgemachten Lüge auf den Leim gegangen bist. Ich meine, wer bringt denn schon einen Erzbischof um?«
»Henry II. von England«, sagte Walther finster, »und Botho von Ravensburg.« Hugo errötete.
»Ich dachte, Ihr sucht nach Eurer Gemahlin«, mischte sich Jakob ein. »Was habt Ihr da mit diesem Fremden zu tun? Was soll das Gerede von Warnungen? Habt Ihr etwa etwas mit dem Mord an unserem armen Bischof zu tun?«
»Der Fremde, der vor Euch steht, hätte den Mord eigentlich verhindern sollen«, entgegnete Walther. Derartige Verschwendung von Chancen machte ihn zornig. Er hatte weder etwas für noch gegen Bischof Konrad, der weder der beste noch der schlimmste von den Kirchenfürsten seiner Bekanntschaft gewesen war. Doch Judith hatte einiges aufs Spiel gesetzt, um das Leben dieses Mannes zu retten; nun sah es so aus, als habe sowohl Hugos als auch Konrads eigener Hochmut zu seinem Tode beigetragen. Unklar blieb, warum es Stefan so wichtig gewesen war, seine Nichte an diesem Tag nach Würzburg zu locken, was ihm immer mehr Angst machte, und wo sie nun steckte. »Das hat er nicht fertiggebracht. Und nun kümmert mich in der Tat nur, wo meine Gemahlin steckt.«
Hugo hatte zu alldem nichts Weiteres zu sagen als »Ihr seid aber doch gar nicht verheiratet«, als ob das jetzt von Bedeutung war! Walther zog Jakob weiter und ließ Hugo einfach stehen.
In der Schenke zum Ochsenschwanz wusste der Wirt nur, dass die Rheinländer gesagt hatten, ihre Geschäfte seien erledigt, und gegangen waren. Eine Frau hatte er nicht gesehen. Bei den Booten am Mainufer konnte man sich auch an die Rheinländer erinnern, weil sie trotz des Winters ein Schiff nach Frankfurt bestellt hatten.
»Ihr habt sie vielleicht um eine Stunde verpasst, Herr. Nein, eine Frau war nicht bei ihnen, aber ein Junge. Und eine Menge Fässer.« Wenn man Judith in Männerkleider gesteckt und ihr das Haar abgeschnitten hatte, würde sie von weitem als Junge durchgehen. Oder es könnte Paul gewesen sein, der kein Riese war. Aber was, wenn diese Fässer nicht nur Wein enthielten?
Nimm dich zusammen, befahl er sich. Hör auf, voreilige Schlussfolgerungen zu ziehen.
»Nichts für ungut, aber mir scheint, Eure Frau oder Geliebte oder was sie auch immer sein mag, die müsste sich auch einfacher finden lassen«, brummte Jakob. »Ihr solltet zur Stadtwache gehen und denen sagen, dass die verdammten Rheinländer schuld am Tod von unserem Bischof sind und Euch die Frau entführt haben. Sonst denken die noch, dass es die Schuld des Schwaben war. Das habe ich nämlich geglaubt, bis ich Euch begegnet bin.«
»Meister Jakob, ich glaube, es ist an der Zeit, Euch wieder Eurer Schmiede und Eurer Familie zurückzugeben.«
»Ich könnte für Euch zur Stadtwache gehen«, schlug Jakob bedeutsam vor und schielte in Richtung auf den Beutel mit den Münzen, der unter Walthers Umhang verborgen blieb. Im Grunde war er Jakob dankbar für den Vorschlag, obwohl er ihn ablehnte. Es war besser, als sich ständig den Kopf darüber zu zerbrechen, wo er nun Judith finden sollte.
Walther gab Jakob noch eine Münze, musste sich von diesem deswegen voll Dankbarkeit auf die Schultern schlagen lassen, was ihn fast zu Boden zwang, wünschte ihm viel Glück und verabschiedete sich. Dann lief er noch einmal zur Bootsanlegestelle, doch Judith befand sich immer noch nicht dort, noch hatte jemand eine Frau gesehen, auf die ihre Beschreibung passte.
Wenn sie nach Köln gebracht wird, dachte Walther; sein ganzer Körper zitterte aus Angst und Wut. Wenn sie in Köln ist, dann werde ich eben auch dorthin gehen. Gott, ich wünschte, ich hätte Judith in Nürnberg einen ihrer Schlaftränke verabreicht oder ihr ausgeredet, dass es sie irgendetwas angeht, was aus Konrad wird. Aber wenn Judith jemand wäre, der einem vom Tod bedrohten Menschen den Rücken kehren konnte, dann wäre sie nicht die Frau, in die er sich entgegen aller Vernunft verliebt hatte.
Als Knabe war er einmal in einen Ameisenhaufen gefallen. Die Ungewissheit, was aus ihr geworden war, fraß nun genau in der gleichen brennenden Art an ihm. Walther zwang sich, alles noch einmal zu durchdenken. Wenn Judith nicht auf einem Schiff irgendwo auf dem Main war, wo mochte sie dann sein? Es musste ein Ort sein, der ihnen beiden bekannt war. Einer, auf den sonst niemand kommen würde. Er zwang seinen Verstand, logisch zu denken, nicht Angstgefühlen zu folgen – und bekam seine Antwort.
Die ersten Schneeflocken fielen auf die Erde, als er sie sah, eine einsame Gestalt, die sich unter die einzige Linde auf einem winterlich kahlen Weinberg kauerte. Sie hatte ihr Gesicht in den Händen verborgen, so dass sie mit ihrem hellgrauen Kleid aus der Ferne wie eine Statue wirkte, nicht wie die Frau, die er hier in seiner glücklichsten Stunde in den Armen gehalten hatte. Doch dann hob Judith den Kopf, erblickte ihn und rannte schon auf ihn zu. Er schmeckte das Salz ihrer Tränen, als er sie küsste.
»Ich habe keine Familie mehr«, murmelte sie. »Er, der mein Onkel war, ist tot für mich. Er und seine Kinder. Ich habe das Kaddisch für sie gesprochen, und nun wird ihr Name nicht mehr über meine Lippen kommen.«
Er schloss sie in seine Arme, versuchte, sie zu wärmen, und fragte leise: »Des Mordes wegen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich wusste bereits, dass er nicht vor Mord zurückschreckt, wenn er ihn für nötig hält. Was sonst war der Tod von Richildis’ Dienstmagd? Sie ist genauso tot wie jetzt Konrad, nicht weniger ermordet, weil er es damals durch eine falsche Beschuldigung getan hat, statt wie jetzt durch einen Dienstmann und dessen Schwert.« Sie schlang ihre Arme noch fester um ihn und flüsterte in seine Halsgrube: »Sie wollten mich an Otto verkaufen. Alle beide. Selbst … der Junge.«
Der Schnee um sie wurde dichter, und er spürte, wie die Flocken auf seiner Haut schmolzen.
»Verrat ist das Schlimmste«, sagte Judith. Er wusste nicht, warum, denn er hatte sie nie verraten, aber einen Herzschlag lang hörte er es als Anklage, doch der kalte Wind nahm ihm den Atem, als er unwillkürlich den Mund öffnete, um zu protestieren. Dann holte ihn die Wirklichkeit wieder ein, und er hielt sie nur noch fester.
* * *
Philipp traf mit seinem Hofstaat nur drei Tage später in Würzburg ein. Alle Kleriker der Stadt hatten sich vor den Toren versammelt, um ihn zu erwarten. Sie zeigten ihm die blutigen Kleider Konrads und ein Stück verwesendes Fleisch, das er durch die Ringe als dessen Hand erkannte.
»So hat Bischof Konrad versucht, sich vor seinem Mörder zu schützen!«, klagte der Dompropst.
Philipps eigene Hand krampfte sich unwillkürlich zusammen, und Irene umfasste sie, damit es niemand sah. »Gott sei seiner Seele gnädig«, stieß er hervor; seine Stimme klang rauh. Irene konnte sehen, dass Tränen seine Wangen hinunterliefen.
»Der König und ich«, sagte sie in ihrem besten Deutsch, »trauern um Bischof Konrad und verurteilen die schändliche Tat.«
»Aber werden die Mörder auch bestraft werden?«, fragte der Dompropst und schaute direkt zu Heinz von Kalden, der schräg hinter dem König stand. Irene spürte, wie Philipps Hand in der ihren zuckte, doch äußerlich ließ er sich nichts anmerken.
»Mord ist Mord, und Mord findet seine Strafe«, sagte er laut.
Manchmal wünschte sie sich, sie hätte weniger Glück in ihrer Ehe gefunden. Wenn ihr Philipp gleichgültig wäre oder wenn sie ihn wie seinen verstorbenen Bruder hassen könnte, dann wäre die Lage für Irene jetzt einfach. Nicht nur wäre sie selbstverständlich davon ausgegangen, dass ihr Gemahl seinen ehemaligen Kanzler hatte ermorden lassen, wie es auch die meisten byzantinischen Kaiser getan hätten. Es würde sie auch nicht weiter kümmern, dass seine Seele damit zur ewigen Verdammnis verurteilt wurde, denn da er vom Papst gebannt war, konnte er nicht beichten und die Absolution erlangen. Doch wie die Dinge nun einmal lagen, war es ihr nicht möglich, gleichgültig zu sein. Sie hatte geglaubt, dass Philipp von dem möglichen Seitenwechsel des Kanzlers nichts gewusst hatte, bis Bischof Wolfger ihnen darüber berichtete. Nicht nur, weil der Mord an Konrad ein Verbrechen war, auch, weil er das Schlimmste und Törichtes war, was ihr Gemahl in seiner Lage hätte tun können, und sie achtete ihn zu sehr, um ihn dessen für fähig zu halten.
Sie wollte sogar an die Unschuld des Reichshofmarschalls glauben; nun, das war schwerer zu leisten. Konrad war diesem immer ein Dorn im Auge gewesen, und Botho war sein Neffe. Außerdem war sich Irene des Hauptgrundes bewusst, warum sie nicht Heinz von Kalden als Auftraggeber für Konrads Tod wollte: Er war Philipps starker Arm und sein Schild. Philipp konnte nicht auf ihn verzichten, selbst wenn es Heinz von Kaldens eigenes Schwert gewesen wäre, das Konrad gefällt hatte. Wenn sie es wusste, dann war dieser Umstand Heinz von Kalden erst recht klar. Sollte er aber unbefangen und ohne Rückendeckung des Königs derartige Mordaufträge erteilen, dann wäre dies ein Zeichen, dass er sich bereits als der eigentliche König sah. Irene wusste nicht, wie Philipp dem begegnen sollte.
Das war auch der Grund, weswegen sie bereit war, ihre Magistra sofort zu empfangen, obwohl sie ihr eigentlich grollte, weil Jutta sie nicht um Erlaubnis gefragt hatte, ehe sie gegangen war. Nun, sie hatte Wolfger klargemacht, dass er ihre Leibärztin nicht ohne weiteres ausleihen könne, und das mochte im Moment genügen. Doch die Magistra war klug; was auch immer geschehen war, es war besser, alles darüber zu wissen, ehe ein anderer Irene mit Erklärungen kommen konnte, auf die sie noch nicht vorbereitet war.
Was sie zu hören bekam, half, stimmte sie jedoch nicht ruhiger. »Gibt es einen Beweis dafür, dass die Kölner Kaufleute Botho bezahlt haben?«
»Ihr könntet Botho foltern lassen«, sagte Walther mitleidlos. Die Magistra warf ihm einen undeutbaren Blick zu, irgendwo zwischen Missbilligung und Entsetzen.
»Das geht nicht. Er ist von Adel«, entgegnete Irene sachlich. »Sein Onkel würde eher seine Hinrichtung hinnehmen als eine Folterung.«
»Ich verstehe«, sagte die Magistra; ihr Tonfall machte klar, dass sie nur zu gut verstand. »Hingerichtet wird er wohl auch nicht werden. Aber, Euer Gnaden, wenn Botho von Ravensburg straflos davonkommt, dann ist es gleich, wer für den Mord gezahlt hat. Das ganze Reich wird glauben, dass der Auftrag von Eurem Gemahl stammt.«
»Philipp wird zu einem neuen Kreuzzug auffordern«, sagte Irene, was sie eigentlich nicht hatte tun wollen, denn es sollte erst zum Weihnachtsfest verkündet werden. Das war der Plan, mit dem sie sowohl ihrem eigenen Vater und Bruder als auch Philipp hatte helfen wollen, der Plan, über den sie jahrelang gegrübelt hatte. Einem Aufruf zu einem Kreuzzug würden auch Fürsten folgen, die Otto anhingen. Es war eine Möglichkeit, selbst in diesen zerrissenen Zeiten ein gemeinsames Heer aufzustellen, wie es keine zweite gab. Natürlich konnte Otto versuchen, die Führung an sich zu reißen, aber er hatte keine Verbindung zu Byzanz, und das war der zweite Teil von Irenes Plan. Wenn das Heer der Kreuzfahrer den traditionellen Weg ins Heilige Land nahm, konnten sie ihrem Vater zur Freiheit und ihrem Bruder auf den Thron verhelfen. Das war eine gerechte Sache, Gott wohlgefällig.
»Aber sie werden es nicht aus der Güte ihres Herzens tun«, hatte Alexios protestiert.
»Sie werden es tun, wenn du ihnen versprichst, das Schisma zu beenden, und die Kirche wieder vereinst.«
Ihr Bruder hatte sie mit seinen trüben Augen entsetzt angeblickt. »Ich kann nicht glauben, dass du so etwas ernsthaft vorschlägst, Irenikon. Du, die du in der Hagia Sophia getauft worden bist!«
»Bruder, es ist mir klar, dass der Patriarch von Konstantinopel und die Priester des Reiches niemals zustimmen werden. Aber es geht auch nicht vorrangig darum, es Wirklichkeit werden zu lassen. Du wirst versprechen, es zu versuchen, und wenn du selbst hier die Messe besuchst und das römische Credo sprichst, was schadet das. Das musste ich tun, als ihr mich nach Sizilien schicktet, also sollte es dir möglich sein, um dein Reich zu erobern und unseren Vater zu retten. Wirst du es tun, so werden sie dir glauben. Dem Papst wird keine andere Wahl bleiben, als meinen Gemahl aus dem Bann zu lösen und als König der Deutschen zu unterstützen, der Krieg hier hört auf, du gewinnst Byzanz und alles findet ein glückliches Ende.«
»Dein Wort in Gottes Ohr, Irenikon.«
»Mit Verlaub, Euer Gnaden«, sagte Irenes Magistra jetzt, und ihr Gesicht war sehr weiß, »ein Kreuzzug wird nichts an der Meinung der Menschen über den Tod Bischof Konrads ändern, wenn den Mördern keine Strafe droht.«
»Wir können den Reichshofmarschall nicht zwingen, seinen Neffen auszuliefern«, entgegnete Irene. In diesem Moment hasste sie die Magistra dafür, sie gezwungen zu haben, das laut auszusprechen. Was war ein Thron wert, wenn der König darauf nicht die Macht hatte, eine solche Entscheidung zu treffen? Diese Frage glaubte sie nun auch in den Augen der Magistra zu lesen, und sie brannte sich in ihr Herz und ihren Verstand.
»Euer Gnaden«, warf Walther überraschend ein, »es gibt eine Lösung, die gerecht wäre und der der Reichshofmarschall zustimmen müsste. Wer Blutschuld auf sich geladen hat, kann nach Rom pilgern, um sich vom Papst selbst entsühnen zu lassen. Es gibt sogar zwei Generalablässe im Jahr und einen weiteren, wenn der Papst es will. Ihr könnt von Botho verlangen, sich dem Urteil des Heiligen Vaters zu stellen. Das würde jeden Christen hier im Reich zufriedenstellen, denn es ist bekannt, dass der Papst ein Freund Bischof Konrads war.« Unausgesprochen, doch deutlich im Raum stehend war der Zusatz: und Heinz von Kalden, der weiß, wie sehr der Mord Philipps Ansehen schadet. Er konnte unmöglich ablehnen, seinen Neffen auf diese Pilgerfahrt zu schicken.
»Herr Walther«, sagte Irene mit aufrichtiger Dankbarkeit und Bewunderung, »das ist ein wundervoller Gedanke.«
»Ich lebe, um Euer Gnaden zu dienen«, sagte er auf höfische Manier, was sie trotz ihrer Dankbarkeit sofort misstrauisch stimmte. Mittlerweile kannte sie den Sänger gut genug, um zu wissen, dass er immer auch etwas wollte, wenn er so hilfreich war. »Bischof Wolfger wird die Alpen überqueren, um sein Patriarchat in Aquileja anzutreten«, fügte er harmlos hinzu, so harmlos, dass sie vermutete, Wolfger habe ihn auch darüber unterrichtet, dass er dem Papst den Vorschlag mit dem Kreuzzug und der Eroberung von Byzanz im Auftrag Philipps unterbreiten sollte. »Da wäre es sinnvoll, wenn Botho in seiner Gesellschaft reist. Auch das würde den Menschen im Reich die Gewissheit geben, dass Botho nicht flieht, sondern willens ist, sich tatsächlich dem Urteil zu stellen, denn das Ansehen Bischof Wolfgers ist sehr hoch.« Auch dagegen war nichts einzuwenden, und es klang alles höchst vernünftig; Irene wartete aber immer noch darauf, den Pferdefuß zu entdecken.
»Ihr seid so still, Magistra«, wandte sie sich, um Zeit zu gewinnen, an ihre Leibärztin. »Seid Ihr anderer Meinung als Herr Walther?«
»Nein, Euer Gnaden«, antwortete die Magistra. Sie war immer noch bleich; es lag etwas Wundes in ihren Augen, aber auch Kälte. »In der Tat möchte ich einen weiteren Vorschlag machen. Prinz Alexios braucht ärztliche Hilfe. Lasst mich ihn nach Salerno geleiten. Wenn er nicht auf das Heer wartet, sondern bereits mit Bischof Wolfger über die Alpen reist, dann wird er die Zeit haben, sich nach einem Eingriff zu erholen, bis die Kreuzfahrer in Italien eintreffen. Niemand braucht je davon zu erfahren, dass Euer Bruder überhaupt am Star litt.«
War das der Preis? Sie schaute von der Magistra zu Walther und wieder zurück. »Hattet Ihr nicht ein Gelübde abgelegt, niemandem etwas von Alexios’ Schwierigkeiten zu erzählen?«, fragte Irene scharf und starrte bedeutungsvoll zu Walther.
Die Magistra wich nicht zurück. »Mann und Frau sind ein Fleisch, Euer Gnaden. Ich sprach nur zu mir selbst.«
»Ihr seid nicht mit Herrn Walther verheiratet«, sagte Irene, »aber Ihr habt die Kunst des Wortspiels von ihm gelernt.« Sie versuchte zu verstehen, was sie empfand. Ein Teil von ihr, der ewig sechzehn und alleine gelassen sein würde, wollte der Magistra ins Gesicht schlagen ob des Ansinnens, sie schon wieder zu verlassen, denn darauf lief es hinaus. Alexios mit Wolfger loszuschicken, das war vernünftig, doch er brauchte nicht die Magistra, um nach Salerno zu gelangen. Gewiss, sie konnte verschleiern, wie schlecht er inzwischen sah, wogegen neue Begleiter die Gefahr vergrößerten, dass sich sein Leiden herumsprach. Aber es war eine Aufgabe, die auch ein anderer übernehmen konnte! Doch Irene war keine sechzehn mehr, und etwas, was sie hier im Reich gelernt hatte, war die Kunst, mit Falken zu jagen. Man musste sie fliegen lassen, damit sie zu einem zurückkehrten, denn wenn man sie nur in ihrem Verschlag hielt, dann verloren sie den Willen, zu leben, oder wurden wild und zerfleischten sich selbst.
»Ich nehme an, Ihr wollt ebenfalls mit Bischof Wolfger nach Süden ziehen«, sagte sie zu Walther, und der nickte.
»Kein Vogel, Euer Gnaden, den es nicht hin und wieder in den Süden zieht, um neue Weisen zu lernen.«
Zu ihrer Überraschung trat die Magistra vor, kniete sich vor Irene und erfasste ihre Hände. »Kein Vogel, der nicht in den Norden zurückkehrt«, sagte sie eindringlich. Irene wusste nicht, ob sie ärgerlich oder besänftigt war, weil die Magistra wusste, dass sie vermisst werden würde. Irene hatte so viele Damen und Mägde, die bestrebt waren, ihr zu dienen und ihr auch noch den kleinsten Wunsch von den Augen abzulesen. Es bestand kein Grund, ihr Herz an eine zu hängen, die von niederer Geburt war und nie richtig zu schätzen wusste, was für ein Glück es war, einer Königin zu dienen.
»Was, wenn er im Norden kein Nest mehr findet?«, fragte Irene und versuchte, den Kloß in ihrer Kehle zu ignorieren, der sich dort bei der Aussicht ansammelte, die Magistra könne in Salerno bleiben. Hatte sie nicht selbst zu ihrem Bruder gesagt, dass man Versprechen leicht machen konnte und es eine andere Sache war, sie einzulösen? Doch sie wäre lieber gestorben, als vor der Magistra noch einmal erkennen zu lassen, dass ihr deren Abreise oder Rückkehr irgendetwas bedeuten würde. Nein, sie würde klarmachen, dass es die Magistra war, die darum werben und sich sorgen musste, ob Irene sie je wieder empfing.
»Dann wird er wie Noahs Taube sein«, entgegnete die Magistra, »froh, überhaupt Land zu finden, mit einem Olivenzweig des Friedens im Schnabel.«
Irene wurde sich bewusst, dass die Magistra noch immer ihre Hände hielt und ihre eigenen Finger sie verrieten, weil sie sich in die der Magistra verhakt hatten, statt sie wegzustoßen.
»Vor Noahs Taube kam die Sintflut, vergesst das nicht. Und auch eine Nachtigall sollte stets ihr Gedächtnis bemühen, wenn sie nicht als gerupftes Huhn enden will.« Irene richtete ihren Blick auf Walther. »Ich habe mich nie auf die Güte von Kirchenfürsten verlassen; Euren Liedern nach zu schließen, habt Ihr das auch nicht. Sollte Bischof Wolfger sich durch die Nähe des Heiligen Vaters und die Entfernung von deutschen Landen dazu veranlasst sehen, unsere Sache nicht mehr angemessen zu vertreten, so finde ich, dass der König und ich das früher erfahren sollten als durch ein kirchliches Edikt.«
Sie war sich bewusst, dass auch Walther der gedeckte Tisch am erzbischöflichen Hof näher als ein königliches Versprechen stehen musste. Das gleichzeitig Beunruhigende und Gute an Walther war, dass man sich seiner Treue nie gewiss sein konnte, und das galt für den Bischof gewiss genauso. Walther mochte um der reinen Herausforderung willen Wolfgers Geheimnisse erforschen, oder auch nicht, doch es konnte nicht schaden, ihm den Auftrag zu erteilen.
»Euer Gnaden, nichts, was ich je hörte, ist meinem Gedächtnis entfallen«, erwiderte Walther und schaute zu der Magistra, was Irene daran erinnerte, dass er nun auch das Geheimnis ihres Bruders kannte. Sie runzelte die Stirn. War das etwa die Andeutung eines Erpressungsversuches? »Da Herr Botho mit uns reist«, fuhr Walther fort, »werdet Ihr sicher verstehen, wenn ich wünsche, so weit wie möglich von ihm entfernt zu reiten. Der Anblick, den er in Würzburg bot, bleibt mir unvergessen; ich glaube nicht, dass sich der Gestank der Blutspritzer so rasch aus seinem Wintermantel entfernen lässt. Meine Hildegunde ist allmählich betagt, und das Pferd, das mich hierhergebracht hat, ist geliehen. Ein neues Ross wäre eine Gabe Gottes«, schloss er mit einem kleinen Lächeln, »und würdig einer höchst gnädigen Königin.«
»Sehr gnädig«, sagte Irene trocken. »Also gut. Ein Ross für Euch und für die Magistra, denn wie ich mich erinnere, schätzt sie es nicht, die ganze Zeit im Wagen zu reisen. Aber achtet auf meinen Bruder, Magistra. Als mein Bruder trägt er einen Teil meines Herzens mit sich, und damit ist es in Eurer Obhut.« Es war heraus. Sie hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen, denn obwohl sie es sorgsam verkleidet hatte und es stimmte, dass sie sich um Alexios Sorgen machte, hätte sie nicht deutlicher sagen können: Komm zurück zu mir.
»Ich schütze, was in meiner Obhut ist, Euer Gnaden. Immer.«