Kapitel 40

Es war für Beatrix nicht so schön, wie sie geglaubt hatte, als Teil des Hochzeitszugs ihrer Base nach Bamberg zu reisen. Diesmal war es notwendig, für jede noch so kleine Ortschaft, durch die sie kamen, die besten Kleider zu tragen, zu lächeln und zu winken. Außerdem mahnte ihre Mutter sie, die Blumensträuße aufzufangen und mit sich zu tragen, die ihr zugeworfen wurden, ganz gleich, ob die Blumen frisch oder, wie so oft, halbverwelkt waren. Schlimmer waren natürlich die ausgehungerten Gesichter vieler Menschen. Früher hatte Beatrix wie ihre jüngeren Schwestern im Wagen gesessen, wenn sie ihre Mutter begleiteten, was nur zwischen Hagenau und ein paar Residenzen in Schwaben der Fall war; schon Speyer war ein Abenteuer gewesen, weil das Rheinland früher als unsicher gegolten hatte. Diesmal, hatte ihre Mutter erklärt, war es wichtig, dass der Vater dem Volk seine Familie zeigte. Das Elend, das Beatrix vielerorts sah, traf sie so unvermutet wie die Brandspuren, die häufig noch an Häusern zu erkennen waren.

»Das waren alles die Welfen, nicht wahr?«

»Nein«, erwiderte ihre Mutter. »Du bist alt genug, um es besser zu wissen, mein Schatz. Auch die Anhänger deines Vaters haben Feuer und Schwert durch die Lande getragen. Deswegen ist es so wichtig, für den Frieden zu beten, und …« Sie verstummte, denn offenbar war Beatrix immer noch nicht alt genug, um zu hören, was ihrer Ansicht nach offensichtlich war: dass man mehr tun konnte, als nur für den Frieden zu beten.

Als die Magistra in Würzburg wieder zu ihnen stieß, zog Beatrix sie zur Seite, ehe es die Mutter tun konnte, denn sie hatte sich ihre Gedanken darüber gemacht, warum sie im März verschwunden war und erst nun im Juni wieder auftauchte. Entweder es hatte mit Herrn Walther zu tun, aber dann wäre ihre Mutter nicht so unruhig gewesen, als warte sie jeden Tag auf eine Botschaft, oder es ging um das, was in diesem Jahr überall das große Anliegen war: Hochzeiten. Aber nicht die ihrer Base mit dem Andechs-Meranier.

Nun war die Magistra nicht die Einzige, die verschwunden war; auch der Gemahl von Kunigundes Amme war fort, und Lucia war noch unruhiger als die Mutter deswegen. Die Amme war leicht auszutricksen; so erfuhr Beatrix, dass Lucias Gemahl Markwart die Magistra auf einer Reise beschützen sollte, deren Ziel Lucia zwar nicht kannte, die aber auf Befehl von Beatrix’ Mutter stattfand. Das schränkte die Möglichkeiten erheblich ein.

»Ihr wart in Thüringen, in Rom oder beim Welfen, nicht wahr?«

»Wäre ich in Rom gewesen, dann hätte ich schon sehr viel Glück mit den Pässen und dem Wetter haben müssen, um wieder hier zu sein«, entgegnete die Magistra sehr ernst.

»Dann wart Ihr in Thüringen?«

»Wie kommst du darauf?«

»Herr Walther hat lange dort geweilt«, antwortete Beatrix und beobachtete sie. »Das hat mir der neue Sänger erzählt, der von Eschenbach.«

»Nun, ich habe ihn nicht gesehen«, entgegnete die Magistra, was nichts darüber sagte, ob sie nun in Thüringen gewesen war oder nicht. Auf jeden Fall wirkte sie immer noch so, als würde sie von allem anderen lieber sprechen als über Herrn Walther, was der Grund gewesen war, warum Beatrix von ihm angefangen hatte, denn so erhoffte sie sich noch eine Antwort auf ihre wichtigste Frage.

»Ich soll den Welfen heiraten, nicht wahr?«

Die Magistra antwortete nicht.

»Bei uns hat es nie an Brot gemangelt«, sagte Beatrix. »Ich dachte, das wäre überall so. Auf dem Weg habe ich aber Dörfer gesehen, die überhaupt keine grünen Felder mehr hatten, nur verbrannte. Meine Mutter sagt, das liegt daran, dass die Bauern zu den Burgen ihrer Fürsten gingen, um dort zu arbeiten, und keine Felder bestellen konnten, oder dass sie daheimblieben und sie über Nacht verwüstet fänden. Wenn ich den Welfen heirate, dann wird das ein Ende haben.«

»Für ein paar Jahre gewiss«, entgegnete die Magistra. »Aber dann mag es sein, dass du einen kleinen Bruder bekommst, der überlebt, und der Welfe wird sich betrogen fühlen, denn wenn er dich heiratet, dann nicht, weil er aufgegeben hat, König werden zu wollen, sondern weil er aufgegeben hat, vor deinem Vater König zu sein.«

»Den kleinen Bruder kann ich schon dieses Jahr bekommen«, gab Beatrix zurück. »Meine Mutter erwartet wieder ein Kind, und bis man mich verheiratet, ist es allemal auf der Welt.«

»Dann werden wir sehen, was die Zukunft bringt, dir und deinen Geschwistern.« Mehr als diese unbestimmte Antwort ließ sich der Magistra nicht entlocken. Was auch immer zwischen ihr und Beatrix’ Mutter beredet wurde, blieb unter ihnen; alle Versuche, etwas zu erfahren, waren vergebens. Beatrix musste sich die Zeit damit vertreiben, Kunigunde zu necken, die in der Familie manchmal »die Bambergerin« genannt wurde, weil der Vater ihr den Namen der Stadtheiligen gegeben hatte, um sein Bündnis mit dem verstorbenen Bischof Thiemo zu festigen.

»Wenn sie für uns ein Turnier veranstalten, dann kannst du den Bischof bitten, dass er dir einen seiner Ritter als Kämpfer bestimmt, wo du doch die Stadtheilige bist«, sagte sie zu ihrer kleinen Schwester, die ihr die Zunge herausstreckte.

Wenn sie verheiratet wurde, würde sie Kunigunde kaum wiedersehen. Ihre Mutter war keiner ihrer Schwestern je wieder begegnet, nur dem Onkel Alexios, der kaum einen Blick auf Beatrix verschwendet und kein Deutsch gesprochen hatte, bevor er wieder verschwunden war, um in den Tod zu reiten.

Wenn sie verheiratet wurde, würden die Bauern ihre Felder erneut bestellen können, und sie müsste nicht mehr durch Städte und Dörfer ziehen, wo es Menschen gab, die jeden Biss in einen einfachen Apfel mit den Augen verfolgten, als könnte der für sie die Rettung vor dem Hungertod sein.


Ihre Base, die Braut des Andechs-Meraniers, sollte am Albanstag getraut werden, am 21. Juni. Weil Philipps Zug durch das Reich so langsam vorangekommen war, trafen sie erst am Vorabend der Hochzeit in Bamberg ein. Bischof Eckbert hatte ihnen ständig Boten entgegengeschickt, und der Vater musste ihm jedes Mal das Gleiche geantwortet haben: dass er noch rechtzeitig einträfe und nichts verschoben werden müsse.

Es war ein Freitag, der Beatrix und ihre Familie in Bamberg begrüßte, also gab es kein Fleisch zu essen; das war gut so, nach den letzten Erfahrungen mit den hungernden Bauern. Eigentlich war ein Empfangsmahl vorgesehen, aber weil morgen nichts schiefgehen durfte und es noch so viel mit den Leuten des Bischofs zu bereden gab, wurde darauf verzichtet.

Am nächsten Morgen stand Beatrix in ihrem feinsten Kleid aus byzantinischer Seide, purpurn und kostbar bestickt, im Dom zu Bamberg, der immer noch zum großen Teil aus Gerüsten und Brettern bestand, und schaute zu, wie ihre Base mit dem zukünftigen Herzog von Andechs, Istrien und Kroatien vermählt wurde. Neben ihr stand die Königin von Ungarn, seine Schwester, hochgewachsen im Gegensatz zu Beatrix’ eigener Mutter. Gertrud sah ein wenig so aus, wie sich Beatrix Brünhild in dem Lied vorstellte, aus dem ihr Herr Walther manchmal vorgetragen hatte: höchst erhaben, aber ganz und gar nicht glücklich. Ihr Mund war zusammengepresst, und ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Es war, als heirate ihr Bruder nicht eine Nichte des deutschen Königs, sondern versänke vor ihren Augen in einem Sumpf. Beatrix wusste nicht, ob sie beleidigt sein sollte, aber sie war stolz auf ihre Mutter, der die Miene der ungarischen Königin auch aufgefallen sein musste, die aber anders als Kriemhild trotzdem keine Bemerkung darüber machte und der Königin sogar den Vortritt ließ, als die Hochzeitsgesellschaft den Dom verließ, obwohl sie nicht nur Königin der Deutschen, sondern auch die Tochter eines Kaisers von Ostrom war.

»Was geschieht jetzt?«, fragte Beatrix leise, als Gertrud von Ungarn davongerauscht war.

»Dein Vater begleitet das neuvermählte Paar ein Stück aus der Stadt heraus«, erklärte ihre Mutter. »Dann kehrt er zurück und ruht sich ein wenig aus. Schließlich steht uns allen heute Abend noch ein großes Fest bevor.« Eigentlich wunderte es Beatrix, dass Braut und Bräutigam sofort die Stadt verließen, aber ihr neuer Vetter hatte darauf bestanden und erklärt, dass seine Verwandten für ihn mitfeiern würden.

Als sie die Domtreppe hinunterlief, traf sie etwas auf die Stirn. Beatrix hob die Hand, wischte es fort und erkannte, dass es sich um den Kot eines Vogels handelte. Angeekelt verzog sie das Gesicht, doch sie wusste es besser, als den Handrücken auf ihrer kostbaren Purpurrobe abzustreifen. Hastig ging sie zum Treppengeländer, dessen Sandstein schon Schlimmeres erlebt hatte. Dabei fiel ihr Blick in die Menge. Eines der Gesichter kam ihr bekannt vor – dort stand, lebhaft winkend, kein anderer als Herr Walther!

Beatrix öffnete den Mund, um ihre Mutter auf ihn hinzuweisen, bis sie sich erinnerte, dass die Mutter wohl böse auf Herrn Walther war. Die Magistra gehörte nicht zur Hochzeitsgesellschaft; sie kümmerte sich um ihren Gemahl, der an Bamberg schlechte Erinnerungen zu haben schien und deswegen auf der Burg geblieben war. Also gibt es nichts, was sie kränken kann, dachte Beatrix, und winkte zurück. Herr Walther rief etwas, doch in dem allgemeinen Jubel der Menge konnte sie ihn nicht verstehen, also schenkte sie ihm nur ein Lächeln, um zu zeigen, dass zumindest sie ihm nicht böse war, und warf ihm eine Kusshand zu.

Da Irene im dritten Monat schwanger war, wurde ihr öfter übel, und sie kehrte nicht auf die Burg zurück, sondern nahm die Gastfreundschaft des Bischofs in seiner Residenz nahe der alten Kaiserpfalz in Anspruch, an die sich Beatrix noch schwach erinnerte. Auf dem Weg dorthin fiel ihr ein, wie sie die Erlaubnis erwirken konnte, etwas anderes zu tun, als herumzusitzen und auf das Festmahl am Abend zu warten.

»Kunigunde ist nach der Stadtheiligen benannt«, sagte sie zu ihrer Mutter, »da gehört es sich doch, dass sie an ihrem Grab betet. Ich glaube, das würde den Leuten hier gefallen. Und sie daran erinnern«, setzte Beatrix listig hinzu, »dass unser Vater das Grab gestiftet hat.«

»Du bist bald nicht mehr mein kleines Mädchen«, antwortete ihre Mutter beeindruckt und gab die Erlaubnis. Lucia brachte Kunigunde und Beatrix zurück in den Dom, wo sich das Grab befand. Sie verrichteten ihre Gebete für die Kaiserin Kunigunde; danach war es leicht, Lucia abzulenken und mit der Schwester aus dem Dom zu rennen, um die buntgeschmückte Stadt zu erkunden, in der niemand verhungert aussah. Beatrix wusste, dass es leichtsinnig war, sie wusste, dass sie eigentlich zu alt für so etwas sein sollte, aber sie wusste auch, dass sie nicht mehr oft Gelegenheit dazu haben würde, also war sie bei weitem nicht reuig genug, darauf zu verzichten.

Überall wurde zu Ehren des jungen Paares Honigkuchen verkauft, außerdem gebratene Würste, und obwohl Beatrix wusste, dass es heute Abend ein Festmahl geben würde, wünschte sie, sie könnte etwas davon versuchen. Kunigunde hatte ebenfalls einen hungrigen Blick. Vor der Messe hatten sie nichts gegessen, und bis zum abendlichen Festmahl würden sie auch nichts mehr bekommen. Genug ist genug, entschied Beatrix und kehrte die Königstochter heraus. »Ich bin die Base der Braut und die Tochter des Königs«, sagte sie zu einem Wirt, der vor seiner Schenke gebratene Würste und Bier verkaufte. »Gebt mir von den Würsten, mir und meiner Schwester.«

Er lachte sie aus und empfahl ihr, das gestohlene Kleid so schnell wie möglich zurückzugeben. Kunigunde, die sich schon auf die Würste gefreut hatte, stiegen die Tränen in die Augen. Beatrix kam sich dumm vor.

»Bei allen Heiligen, Euer Gnaden, was tut Ihr hier?«, hörte sie eine vertraute Stimme, drehte sich um und sah zu ihrem Entzücken Herrn Walther. Er bezahlte rasch die Würste und sagte zu ihr, er müsse mit ihrem Vater sprechen, es sei sehr, sehr wichtig; er habe es schon vorher versucht, sei jedoch vom Haushofmeister und den Wachen abgewiesen worden.

»Das tut mir leid, Herr Walther. Ich werde Euch beschützen«, versprach Beatrix, und nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Ich glaube auch, dass die Magistra nicht mehr ganz so wütend wie früher auf Euch ist.«

Sein Gesicht verhärtete sich. »Der Magistra wegen bin ich nicht hier, Euer Gnaden.«

»Sie ist es auch nicht. Hier, meine ich. Sie ist auf der Burg geblieben«, versicherte ihm Beatrix, um klarzumachen, dass es nicht die Schuld der Magistra war, wenn der Haushofmeister Herrn Walther abgewiesen hatte.

Während sie den Domberg hochliefen, schaute Beatrix zu Walther auf. »Erzählt meiner Mutter nichts von unseren Bratwürsten«, bat sie. Kunigunde, die sich das Fett vom Kinn wischte, nickte eifrig.

»Welche Bratwürste?«, fragte Herr Walther mit einem Augenzwinkern, und sie wusste, dass sie sich nicht in ihm getäuscht hatte und dass die bitteren Worte der Magistra bei dem einen Mal, als sie von ihm gesprochen hatten, nicht stimmen konnten. Er musste ihr Minnesänger werden!

Mit einem Mal hielt er inne; einen Augenblick danach hörte sie es auch: Geschrei, ganz wie heute Morgen für die Brautleute, aber anders, sehr, sehr anders. Außerdem sah sie eine Gruppe von Rittern zu Pferde auf sich lospreschen, als sei sie eine der mit Sand gefüllten Puppen bei einem Turnier. Zehn oder zwölf waren es bestimmt, darunter zwei der Andechs-Meranier, die heute Morgen mit ihr und der Königin von Ungarn in der Kirche gestanden hatten, und ein Mann, in dem sie Otto von Wittelsbach erkannte. Herr Walther packte sie und ihre Schwester an den Schultern und drückte sie zur Seite.

Sein Gesicht war kalkweiß.

* * *

Als Lucia allein zurückkehrte, war Irene außer sich vor Sorge und versuchte vergeblich, sich zu sagen, dass Beatrix alt genug war, um auf sich und ihre kleine Schwester achtzugeben, alt genug, um zu wissen, warum sie nicht einfach durch die Stadt streifen durfte. Sie schickte zwei Wachen los, um nach ihren Töchtern zu suchen, und machte sich dann auf den Weg zu Philipp, der inzwischen wieder eingetroffen war und mit dem Haushofmeister, seinem Kanzler, dem Bischof von Speyer und dem Truchsess zusammensaß. Sie war nur noch zehn Schritte von dem Gemach entfernt, als sie jemanden schreien hörte: »Das ist kein Spiel!«

Dann hörte sie Philipp. Ein Ruf nur, ein Laut, kein Wort.

Irene kannte den Ton. Sie hatte ihn nicht mehr gehört, seit sie ein junges Mädchen gewesen war und Philipps Bruder den letzten König Siziliens vor ihren Augen blenden und kastrieren ließ; nicht mehr seit jenem zweiten Weihnachtstag, als der normannische Adel nach Palermo gekommen war, ohne Waffen die Kirche betrat und von den deutschen Rittern getötet wurde.

Sie hörte Philipp schreien, ein ersticktes Gurgeln, dann nichts mehr.

Den Mann, der aus dem Gemach stürzte und sie grob zur Seite stieß, sah sie und sah ihn nicht; sie nahm nichts mehr wahr nach jenem erstickten Schrei, der in ihren Ohren hallte und ihr Herz erstarren ließ. Danach verwischte alles vor ihren Augen.

Später, als sie sich die Bilder wieder und wieder in die Erinnerung rief, wusste sie, dass der Bischof von Speyer sich hinter den Tisch gekauert hatte und der Truchsess blutend auf dem Boden lag, aber alles, was Irene wirklich sah, als sie in den Raum taumelte, war Philipp, Philipp, dessen Hals zu zwei Dritteln gespalten war wie der eines Tieres, das an der Decke einer Küche zum Ausbluten hing.

Jemand redete auf sie ein. Es mussten ein paar der Knechte des Bischofs sein, die man ihnen zur Verfügung gestellt hatte, denn sie erkannte keinen von ihnen, und die Laute, die aus ihren Mündern drangen, waren ihr genauso fremd. »Wer seid Ihr?«, fragte sie auf Griechisch.

Sie fiel neben Philipps Leiche auf die Knie und versuchte immer noch, seinen Hals wieder zusammenzupressen, als man ihr die Nachricht brachte, ihre Töchter seien gefunden worden. Das wirkte wie ein Schwall kalten Wassers auf sie, denn es machte ihr klar, dass es immer noch Schlimmeres gab: Ihre Kinder konnten die Nächsten sein, die starben. Rasch erhob sie sich, eilte hinaus in den Innenhof, wo ihre Töchter auf sie warteten und bei dem Blut auf ihrem Gewand entsetzt aufschrien. Aber sie lebten, sie waren auf wunderbare Weise am Leben, und Irene dankte Gott, bis ihr wieder einfiel, wen er ihr gerade genommen hatte.

»Die Magistra muss Euch versorgen, Mama, und Herr Walther muss den Vater sprechen«, rief Beatrix. Erst da bemerkte Irene, dass der Sänger hinter den Mädchen stand, und ihr wurde klar, dass ihre Töchter glaubten, das Blut stamme von ihr selbst. Sie wussten nicht, dass ihr Vater tot war.

»Geht«, sagte sie zu Walther, weil sie nicht laut aussprechen wollte, dass Philipp nie wieder jemanden empfangen konnte, denn wenn sie es laut aussprach, wurde es wirklich.

»Das ist ungerecht. Er hat uns beschützt!«, protestierte Beatrix.

»Euer Gnaden, es tut mir leid«, sagte der Sänger leise.

»Es ist nicht wahr, versteht Ihr?«, fuhr sie ihn an. »Es ist nicht wahr.«

»Euer Gnaden, es mag sein, dass noch nicht alles vorbei ist. Die Kinder! Ihr müsst Euch sofort mit Euren Rittern auf die Altenburg zurückziehen. Mit Euren Leuten, nicht mit denen der Andechs-Meranier.«

»Aber«, sagte Irene, weil es etwas war, über das sie nachdenken konnte, anders als die Ungeheuerlichkeit, deren Blutspuren sie auf ihrem Kleid trug, »dort sind bereits Ritter der Andechs-Meranier. Die Königin von Ungarn hat sich dorthin zurückgezogen, gleich nach der Messe, mit all ihren Leuten.«

* * *

Judith saß mit Gilles über einem Schachspiel, als sie Lärm im Burghof hörte, doch sie schob es darauf, dass die Königin von Ungarn wie angekündigt eingetroffen sein musste, und achtete nicht weiter darauf. Keiner von ihnen war gut in dem Spiel, aber sie hatten Freude daran. Da es ein sehr warmer Tag war, hatte Judith das Schachbrett und die Figuren, die Gilles geschnitzt hatte, im Freien aufgebaut. Sie saßen hinter einer hohen Buchsbaumhecke, was erklärte, warum die Königin sie nicht sah, als sie den Burggarten mit einem ihrer Brüder betrat.

»… keine Wahl!«, stieß Gertrud von Ungarn heftig hervor. »Ihr habt die Sache begonnen, und das ist die einzige Art und Weise, sie zu einem Ende zu bringen, die euch nicht den Hals kostet.«

»Du bist eine Frau, da solltest du zartere Gefühle haben«, sagte die Stimme Bischof Eckberts entsetzt.

»Ich habe vor allem meinen Verstand beisammen. Ihr habt gerade dem Wittelsbacher aus der Stadt geholfen, du und Berthold, also wird euch kein Mensch glauben, dass wir mit der Angelegenheit nichts zu tun hatten. Nur wenn die Byzantinerin und ihre Brut ebenfalls sterben, gibt es niemanden, der Rache verlangen kann. Dann sind wir die Familie, die das Reich gerettet und Hans von Brabant zum König gemacht hat. Wenn sie überlebt … du hast vielleicht vergessen, wie gut die Staufer darin sind, sich zu rächen, aber ich nicht!«

»Sie ist eine Frau, ihre Kinder sind Mädchen. Sie werden in Klöstern verschwinden; in ein paar Jahren fragt niemand mehr nach ihnen. Philipp war ein nötiges Opfer, Schwester, aber wir sind doch nicht Herodes, der Kinder tötet!«

»Wenn Irene den Dom erreicht, ist sie in Sicherheit, das weißt du, also lasse es nicht dazu kommen.«

»Wir haben alles bedacht!«, protestierte ihr Bruder.

»Nein«, sagte Gertrud aufgebracht, »ihr seid Dummköpfe, die ich bald als nutzlose Fresser an meinem Hof haben werde, weil ihr nirgendwo sonst in Sicherheit sein werdet. Sie ist schwanger, du Tor, und Heinz von Kalden wird gewiss nichts lieber tun, als jetzt schon darauf zu schwören, dass es ein Sohn wird, um die Anhänger der Staufer hinter ihr zu versammeln!«

Bereits nach den ersten Worten war Judith klar, dass man sie auf gar keinen Fall entdecken durfte. Es ging um ihr Leben, aber auch um das von Irene und ihrer Kinder. Sie rührte sich nicht und atmete so flach wie möglich, während sie einen Finger auf ihre Lippen legte. Gilles verstand von alleine, was auf dem Spiel stand. Er hatte eine Hand noch auf dem Springer, um zu ziehen, und er hielt sie dort, ohne eine Regung, während Gertrud und ihr Bruder weiter darüber stritten, wie sie die Folgen eines Königsmordes zu handhaben hatten. Nach einiger Zeit, die ewig erschien, entfernten sich die Stimmen endlich. Judith sackte in sich zusammen. Ich muss Irene und die Mädchen warnen! Aber sie wusste nicht, wie sie aus der Burg kommen konnte, wer hier nun das Sagen hatte, wem sie noch trauen konnte, vor allem mit Gilles an ihrer Seite, der sich zwar über kürzere Strecken in seinem Wagen vorwärtsstoßen konnte, aber jede Unauffälligkeit unmöglich machte.

»Les enfants«, sagte er, »die Kinder. Du musst gehen. Lass mich hier, mir wird nichts geschehen.«

»Ich habe dich bereits einmal in Bamberg einem grauenhaften Schicksal überlassen, das werde ich nicht ein zweites Mal tun. Sie weiß nicht, dass wir sie gehört haben«, sagte Judith fieberhaft. »Daher hat sie auch keinen Grund, dich und mich zurückzuhalten. Welchen Wert haben wir für sie? Sie werden uns gegenüber noch nicht einmal zugeben, dass der König tot ist. Du wirst sehen, sie werden uns gehen lassen.«

Sie wartete noch eine Weile, um ganz sicher zu sein, dass Gertrud weit genug vom Burggarten entfernt war, dann half sie Gilles in seinen Karren und fing mit schweißbedeckter Stirn an, ihn durch die Pforte zu ziehen, welche in den Gang führte, durch den man in den Garten kam. Um in den Innenhof und von dort aus zur Zugbrücke zu gelangen, würden sie Treppen steigen müssen, und dazu brauchten sie Hilfe. Schließlich fasste sie sich ein Herz und zog Gilles in die Wachstube, um ihre Bitte vorzubringen, als sei nichts geschehen. Zwei Ritter und ein paar Knechte waren dort. Einer der Ritter wies seinen Knecht an, ihr zur Hand zu gehen. Dann hielt er inne.

»Wartet.« Er kniff die Augen zusammen und musterte sie. Wegen der Junihitze und weil sie im Garten mit Gilles allein gewesen war, hatte Judith ihre Haube abgelegt und war zu aufgewühlt gewesen, um daran zu denken, ihr Haar erneut zu bedecken. »Ihr seid die Rothaarige.«

»Ich bin die Leibärztin der Königin«, sagte sie so gewichtig wie möglich.

»Ja, richtig«, sagte er. »Das war die Geschichte auf der Reise von Wien nach Frankfurt. Aber der Sänger hat uns damals verraten, was Ihr wirklich seid: ein Bastard des alten Kaisers, mit dem roten Haar der Staufer!« Er fing an zu lachen. »Wenn das die Königin erfährt!« Es war klar, dass er nicht Irene meinte. Alle Männer erhoben sich.

Judith erstarrte. Sie hoffte vergeblich, dass ihr etwas einfiel, eine erleuchtende Idee, etwas, das sie aus dieser Falle herausholen würde, aber wenn Gott noch auf ihrer Seite stand, hörte er ihr nicht mehr zu. Der Ritter vor ihr war für sie ein Unbekannter. Doch dann zerrten seine Worte etwas aus ihrem Gedächtnis: Walther hatte ihr erzählt, dass er außer den Trossknechten auch den Mördern ihres Vetters Salomon weisgemacht hatte, sie sei die uneheliche Tochter des Kaisers Rotbart, um sie davon abzuhalten, sie zu belästigen. Warum dem Mann diese alte Lüge ausgerechnet jetzt wieder einfiel, wusste sie nicht; schließlich hatte er sie seither so wenig wiedergesehen wie sie ihn. Aber er hatte sich erinnert, warum auch immer, und alles in ihr wurde starr im Bewusstsein, dass ihr Weg hier bereits zu Ende war.

Dann pfiff etwas an ihr vorbei, einen Moment später sah sie, wie der Ritter mit verwundertem Blick zurückfiel, während Blut aus seinem Mund sickerte – und ein Messer in seiner Kehle stak!

»Lauf!«, sagte Gilles, während die übrigen Männer in der Wachstube ihn erschrocken anstarrten, und zückte ein zweites Messer. »Ich hatte lange, lange Zeit, um solche Kunststücke zu üben. Ich weiß, dass ihr Kerle zu viel für mich seid, aber einen von euch kriege ich noch, also überlegt euch gut, wer der Frau folgt oder mich als Nächster angreift. Und du – lauf!«, sagte er wieder zu Judith.

»Ich kann …«

»Judith, es war ein gutes letztes Jahr«, sagte er in der Volgare, die ihnen beiden vertraut war, ohne seinen Blick von den Männern zu wenden. »Du und die Kinder, ihr habt es schön gemacht. Aber jedes Mal, wenn ich aufwache und weiß, was mir fehlt, ist es wieder die Hölle. Lass mich ein Mal noch etwas tun, auf das ich stolz sein kann, bevor ich sterbe, und lass es nicht umsonst sein. Lauf!«

»Du bist der beste Mann, den ich je gekannt habe«, entgegnete sie mit erstickter Stimme, drehte sich um und sprang zur Tür. Sie rannte, ohne einen Moment innezuhalten, auf den Burghof, hin zu der Zugbrücke, die wegen des Festtags ständig herabgelassen war. Sie rannte, rannte, rannte an allen flirrenden Gestalten vorbei, die ihr hinterherbrüllten, und erreichte die andere Seite der Brücke, als die ersten Pfeile an ihr vorbeiflogen. Sie rannte nicht den Weg entlang, sondern durch das Stück Wald, wo ihr die eisentragenden Kriegsknechte nicht so leicht nachlaufen konnten, bis wieder ein Weg auftauchte. Sie fiel, stolperte, stürzte, rollte einen Teil der Strecke und kam endlich mit zerschürften Armen und Beinen bei den ersten Gärten an.

Zwei Reiter, die den Berg in einer Geschwindigkeit hochgaloppierten, als hinge ihr Leben davon ab, zügelten vor ihr die Pferde, und obwohl ihr immer noch flirrende Punkte im Blickfeld tanzten, erkannte sie einen von ihnen sofort.

»Judith«, sagte Walther; einen Moment lang lag die alte vertraute Zärtlichkeit in seiner Stimme, vermischt mit unglaublicher Erleichterung. Er atmete einmal tief aus. »Die Königin«, setzte er dann hinzu und klang feindselig, als überbringe er eine Herausforderung, »wird froh sein, Euch zu sehen, Magistra.«

Das Spiel der Nachtigall
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