Kapitel 10
In einem von Pferden gezogenen Wagen zu reisen, dessen Breite kaum zwei Schritt beträgt, dachte Judith, ist nicht besser, als auf einem Maulesel zu sitzen. So waren sie und ihr Vater damals nach Salerno gelangt, auf Mauleseln, die auch ihre Habseligkeiten getragen hatten. Das hatte sie zwar nicht vor der Willkür des Wetters geschützt, doch wenn man sich einmal an das Reiten gewöhnt hatte, dann war es angenehmer und weit schneller, als in einem Wagen zu sitzen, wie Fürstinnen es taten.
Judith hatte nun ein paar Wochen lang das zweifelhafte Privileg gehabt, mit der Prinzessin Irene zu reisen. Der Reiz, auf Bärenfellen zu sitzen, hielt sich in Grenzen, wenn man dafür bei jedem Stoß des Rades durchgeschüttelt wurde wie Getreide in einem Mörser und nicht rascher vorwärtskam, als wenn sie gelaufen wären. Zumindest grob vor Wind und Wetter geschützt zu sein, hieß auch, kaum etwas von den bunten herbstlichen Landschaften zu sehen, durch die ihr Tross zog. Da Diepold von Schweinspeunt seine Drohung wahr gemacht und Irenes Damen zurückgelassen hatte, waren der Prinzessin nur Schweinspeunts Mägde geblieben, denen sie nicht traute, und Judith. Unter anderen Umständen hätte Judith bereits nach ein paar Tagen darum gebeten, ein Pferd oder ein Maultier reiten zu dürfen, doch nicht unter diesen. Irene, von Dankbarkeit getrieben, gestattete es sogar Lucia, mit ihrem Kind in dem Pferdewagen zu reisen, doch das führte zu Geschrei und dem permanenten Geruch von Kinderpisse, was wiederum die Prinzessin dazu brachte, sich zu übergeben, bis Judith vorschlug, Lucia in dem Wagen mit dem Gepäck fahren zu lassen, was eine Erleichterung für alle Beteiligten darstellte.
Um die langen Wegstunden im Halbdunkel des Wagens zu verkürzen, schlug Judith Irene vor, ihr Deutsch beizubringen.
»Er wollte, dass ich es lerne«, sagte die Prinzessin düster. »Euer Kaiser. Deswegen habe ich es bisher nicht getan.«
»Nun, Ihr werdet glücklicher sein, wenn Ihr die Menschen versteht, einschließlich Eures Gemahls.«
»Ich habe die Menschen in meiner Umgebung bisher ausgezeichnet verstanden – es hat mich trotzdem nicht glücklich gemacht. Was den Herzog Philipp betrifft, so soll er in einem Kloster erzogen worden sein, und das bedeutet, dass wir uns das, was gesagt werden muss, auf Lateinisch sagen können. Im Übrigen dachte ich«, schloss Irene spöttisch, »dass Ihr die Letzte sein würdet, die mir Empfehlungen gibt, wie man sich mit seinem Gemahl verständigt.«
Meir und sein Vater Eleasar waren sehr bestürzt gewesen, als Judith ihnen von Schweinspeunts »Befehl« berichtete, doch es war ihr nicht entgangen, dass keiner von beiden vorschlug, sie solle sich widersetzen; im Gegensatz zu Judith hatten sie die Brandschatzung Salernos miterlebt. Sie erklärten sich auch bereit, Giovanni als Knecht zu übernehmen, denn der wollte seine Heimat genauso wie Meir nicht verlassen. Lucia dagegen war einverstanden gewesen: »Ich habe hier keine Zukunft ohne Euch.«
»Erinnert Euch an die Geschichte über Adelheid von Burgund: Es ist leichter, in einem fremden Land zu leben, wenn man weiß, was die Menschen von einem wollen, ob man es ihnen nun abschlägt oder gibt«, sagte sie zu Irene, die Bemerkung über Ehemänner überhörend, »und die Menschen können ihre Wünsche in ihrer eigenen Sprache am besten ausdrücken. Glaubt mir, ich spreche aus Erfahrung.«
»Ihr seid darauf angewiesen, die Menschen zu verstehen, damit Ihr herausfindet, was ihnen fehlt. Ich dagegen könnte mir morgen die Zunge abschneiden und die Ohren durchstechen, es würde doch keinen Unterschied machen. Die Staufer brauchen mich, um Kinder in die Welt zu setzen, falls Konstanzes kleiner Junge stirbt, und vielleicht, weil der Kaiser sich einbildet, er könnte sich auch im Osten auf den Thron setzen. Deutsch zu verstehen ist für keinen der beiden Zwecke nötig.«
Die Räder holperten ein weiteres Mal über dicke Steine, und Judith verlor die Geduld.
»Es würde mir die Zeit vertreiben«, sagte sie und schluckte im letzten Moment hinunter: und Euch die Möglichkeit, Euch in einer weiteren Sprache zu beklagen. Irene mochte nur ein Werkzeug für die Staufer sein und von Herrn Diepold wie eine Geisel behandelt werden, doch sie war die Tochter eines Kaisers, die Witwe eines Königssohns und die zukünftige Schwägerin eines weiteren Kaisers. Wenn sie von einem Moment auf den nächsten entschied, dass Judith wegen ungebührlichen Verhaltens eine Hand verlieren sollte oder sogar den Kopf, dann würde jeder Mann in diesem Tross ohne Widerspruch dem Befehl Folge leisten.
»Wenn dem so ist«, entgegnete Irene. Da sich Judiths Augen inzwischen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, konnte sie erkennen, dass die Byzantinerin lächelte.
Sie war keine so talentierte Lehrerin, wie es ihr Vater gewesen war, doch bis sie in Wien eintrafen, war Irene immerhin so weit, Herzog Friedrich mit ein paar wohlgesetzten Dankesworten in seiner Sprache zu überraschen, als er ihr aus dem Wagen half. Er pries sie dennoch auf Latein und fügte bedauernd hinzu, seine Frau Mutter habe sich leider nach dem Tod seines Vaters in ein Kloster zurückgezogen, und er sei nicht so glücklich wie Herzog Philipp und Kaiser Heinrich, bereits die Hand einer schönen Frau gewonnen zu haben, so dass es seiner Hofhaltung an Lebensart fehle und vor allem an einer Herzogin mangele. Da er wissen musste, wie die eheliche Verbindung zwischen Philipp und Irene zustande kam und es kein Geheimnis war, wie die Kaiserin Konstanze ihren Gatten verabscheute, waren solche höfischen Reden überflüssig, aber was blieb ihm übrig?
»Nicht doch«, erklärte Irene ebenfalls auf Lateinisch. »Ihr seid ganz so, wie ich mir meinen Gemahl wünschen würde.«
Es kostete Judith einige Mühe, doch ihre Miene blieb unbewegt. Vielleicht hatte sie Irene nur Bruchstücke der deutschen Sprache beibringen können, doch die Prinzessin wusste seit Jahren, wie man aus Worten Geschenke oder Waffen machte. Um sich abzulenken, musterte sie schnell die Edelleute, die hinter Friedrich standen, doch sie erkannte niemanden, außer dem Haushofmeister. Nun, es war nicht so, dass sie sich vorgestellt hatte, bei diesem kurzen Aufenthalt am Wiener Hof irgendjemanden wiederzusehen. Oder doch?
Irene wurde in den Räumen der Herzoginwitwe untergebracht. Es war eigenartig für Judith, wieder hier zu stehen, wo sie um ihren Vater gebangt und versucht hatte, Helena zu beeindrucken. Sie fragte sich, ob die Witwe des Herzogs freiwillig ins Kloster gegangen war oder ob ihre Söhne sie dorthin abgeschoben hatten. Soweit sie wusste, war es für adlige christliche Witwen ein sehr geschätzter Lebensabend, doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Frau, die sie vor wenig mehr als zwei Jahren in diesen Gemächern erlebt hatte, sich wirklich das Leben einer Nonne wünschte.
Friedrich hatte angekündigt, dass es am heutigen Abend ein Gastmahl zu Ehren von Irene geben würde. Judith fragte sich, ob ihr das noch Zeit ließ, ihre Verwandten zu besuchen. Das versprach, nicht leicht zu werden: Vetter Salomon würde sie als Erstes nach ihrem Vater fragen und dann darauf bestehen, dass sie hier in Wien bliebe. Aber morgen war Freitag, und wenn sie zwei Tage blieben statt einen, dann würde Judith vielleicht nicht nur den Sabbat einhalten, sondern auch an der Seder teilnehmen können. Es wäre das erste Mal, seitdem sie Salerno verlassen hatte.
Ihre Religion zu verheimlichen, war nicht ihre Absicht gewesen. Doch weder Diepold von Schweinspeunt noch Irene hatten sie danach gefragt; jeder war davon ausgegangen, dass sie selbstverständlich eine Christin war. Nachdem sie sich einmal entschieden hatte, Salerno zu verlassen, um nicht heiraten zu müssen, wollte sie nicht mehr zurückgeschickt werden, und sie wusste nicht, ob Diepold eine Jüdin in Irenes Nähe geduldet hätte. Sie wusste auch nicht, ob Irene dies wollte, und schob es Woche um Woche hinaus, es auf die Probe zu stellen.
Ihr Vater wäre entsetzt gewesen. Aber auch Rabbi Mosche ben Maimon hatte, wie sie wusste, eine Zeitlang vorgegeben, er und seine Familie seien Moslems, als er auf der Flucht nach Ägypten war. Nur eine kurze Zeit, doch das änderte nichts. Er hatte sogar eine Schrift verfasst, in der er um Verständnis für diejenigen bat, die ihrem Glauben abgeschworen hatten; man sollte ihnen die Möglichkeit der Rückkehr zum Judentum offenhalten, sagte er, statt sie endgültig zu verdammen.
»Er mag der klügste Kopf sein, den wir in diesem Jahrhundert hervorgebracht haben«, hatte ihr Vater erzürnt erklärt, »doch hier irrt er. Verkleidung für eine kurze Zeit mag angehen, doch ein Abtrünniger ist ein Abtrünniger! Wir haben kein Land mehr, wir haben nichts als das Buch, um uns zusammenzuhalten. Wer uns im Stich lässt, um ein leichteres Leben führen zu können, der ist es nicht länger wert, ein Sohn Abrahams zu sein.«
Der Bruder ihrer Mutter war Christ geworden und nicht nur zum Kaufmann, sondern auch zum besten Freund des Münzmeisters von Köln aufgestiegen, doch es war Judith und ihren Geschwistern stets verboten gewesen, ihn zu besuchen oder auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln, wenn er versuchte, seine Schwester zu sehen, was ihr Vater ihrer Mutter strikt untersagt hatte. Selbst der Tod von Judiths Mutter hatte diesbezüglich keinen Unterschied gemacht. Judiths ältester Bruder hatte deswegen mit ihrem Vater gestritten, so laut, dass man es durch das ganze Haus hörte. »Auch du behandelst Christen. Du brichst das Brot mit Christen. Du korrespondierst mit Christen und erzählst uns immer mit Tränen in den Augen, wie wundervoll es doch in Salerno war mit all den christlichen und muslimischen Ärzten.«
»Keiner von ihnen«, hatte ihr Vater eisern erklärt, »war ein Abtrünniger. Sie sind in ihrem Glauben geboren worden, wie ich in dem meinen.«
Sie war keine Abtrünnige, sagte Judith sich. Sie betete im Stillen, und sie nahm nicht die Hostie der Christen, was anging, weil Irene erst nach ihrer Ehe mit Philipp von der oströmischen zur weströmischen Kirche übertreten würde und glaubte, Judith täte deswegen ihre griechischen Gebete nicht mitsprechen, weil sie nicht die ihren waren.
Aber es würde guttun, wieder gesäuertes Brot zu essen, in Wein getunkt, es würde guttun, einen anderen Mund als den ihren Hebräisch sprechen zu hören. Sie dachte an Salomons Familie und daran, wie stolz er erzählt hatte, dass die neue Synagoge auch mit seinem Geld erbaut worden war.
»Magistra, was ist Euch?«, fragte Irene ein wenig ungeduldig. »Ich hatte Euch gebeten, mir noch etwas von Eurer Melisse für mein Bad zu verschaffen. Wenn ich ein Gastmahl mit diesem Herzog durchstehen muss, der behauptet, mit mir verwandt zu sein, dann will ich nicht mehr jeden einzelnen Knochen in meinem Leib spüren. Man soll mir Wasser mit Kräutern heiß machen.«
»Euer Gnaden«, sagte Judith mit einem rasch gefassten Entschluss, »die Melisse habe ich noch, doch dann muss ich meinen Vorrat an Heilkräutern erneuern. Wer weiß, wann wir das nächste Mal die Gelegenheit dazu finden. Im Übrigen habe ich Verwandte hier, so dass ich Euch bitten möchte, mich für ein paar Stunden zu entschuldigen.« Jetzt schon um die nächsten zwei Tage zu bitten, war vielleicht voreilig; am Ende war Vetter Salomon gar nicht mehr willens, sie ohne ihren Vater zu empfangen, vor allem, wenn er herausfand, dass die Magistra Jutta von Köln für eine Christin gehalten wurde. Aber nein, so war er nicht; er diente selbst einem christlichen Herrn, und bei aller Missbilligung vor zwei Jahren war er doch stets nur aus verwandtschaftlicher Zuneigung besorgt gewesen. Zweifellos würde er ihr alle möglichen Ratschläge erteilen, Vorschriften sogar, doch er würde es von Herzen gut meinen. Sie nahm sich vor, geduldig zu sein.
Da sie ihre Kräutervorräte tatsächlich erneuern musste, erkundigte sie sich beim Haushofmeister, der sie nicht erkannte, und erfuhr, dass der Medicus des Herzogs seine Kräuter aus dem Kloster der Zisterzienserinnen bezog. Sie wollte gerade fragen, wie sie auf dem schnellsten Weg dorthin gelange, als der Haushofmeister hinter ihr jemanden sah, auf den er offenbar gewartet hatte: »Da seid Ihr ja endlich, Herr Walther! Ich muss jetzt wirklich wissen, wie viele Lieder Ihr vortragen werdet, wenn das Fest heute Abend gelingen soll! Haben wir noch Zeit für das Singspiel der sieben Kardinaltugenden, oder nicht?«
»Mehr als eines und weniger als alle«, entgegnete eine Stimme, die ein wenig rauher klang als in ihrer Erinnerung, »und wenn Ihr mich fragt, sollte das Singspiel von den sieben Todsünden handeln. Schließlich will eine Braut wissen, was ihr alles entgeht.«
Es war eigenartig: Sie war ihm nur einmal begegnet, und das lag Jahre zurück, aber der Klang seiner Stimme löste trotzdem ein Echo in ihr aus, ein wenig, als stünde sie neben einer Glocke, die geschlagen wurde, als glitten die Wellen des Schalls über ihren Körper. Zweifellos musste das ein medizinisches Phänomen sein.
»Was ihr entgeht? Ein Leben ohne Schnarchen, das einen nachts wach hält, kein Zahnverlust durch Schwangerschaften und keine vorzeitig ergrauten Haare, die ihr der Gatte verschafft«, sagte Judith und drehte sich um, lächelnd, um ihm zu zeigen, dass sie sich über das Wiedersehen freue. Sie erwartete eine schlagfertige Bemerkung, vielleicht sogar eine unverschämte. Was sie nicht erwartete, war, dass er aussah, als hätte er nächtelang nicht geschlafen: Die Haut war fahl, seine grünen Augen blutunterlaufen, und sein Haar sollte auch dringend gewaschen werden. Außerdem starrte er sie an, als sei er einem Geist begegnet.
»Jutta von Köln«, sagte sie, als er sie nicht begrüßte. Sie wäre weniger enttäuscht gewesen, wenn er sie wie der Haushofmeister nicht erkannt und den Tag längst vergessen hätte, was immerhin möglich war, doch dann würde er sie jetzt nicht so entgeistert anschauen. »Ich habe meine Ausbildung in Salerno beendet und bin derzeit die Ärztin der Prinzessin Irene, wenigstens bis zu ihrer Hochzeit.«
Ein Echo seines alten Lächelns kehrte auf sein Gesicht zurück, doch es war wie eine Maske, die er sich aufsetzte, ganz so, wie es die Menschen in Salerno im Februar während der Fastnachtstage taten. Auch sein neckender Tonfall war ein wenig zu aufgesetzt, um ehrlich zu sein.
»Aber einem Einhorn seid Ihr immer noch nicht begegnet, Frau … Jutta?« Offenbar erinnerte er sich an ihren richtigen Namen und an ihr Streitgespräch. Eigentlich wäre es besser gewesen, so zu tun, als wisse sie nicht, wovon er redete. Schließlich gab es keinen Grund, warum sie sich an den genauen Wortlaut einer Unterredung, die so lange zurücklag, erinnern sollte. Andererseits hatte er dabei die Schule von Salerno heruntergesetzt, und so etwas merkte man sich eben als Ärztin.
»Wenn Ihr Menschen nicht glaubt, wenn sie Euch die Wahrheit erzählen, wie wollt Ihr dann je imstande sein, Lügen zu erkennen, Herr Walther?«, fragte sie zurück.
»Nun, ich weiß, was er ganz gewiss nicht erkennen kann, und das ist eine einfache Frage«, mischte sich der Haushofmeister säuerlich ein. »Wie viele Lieder genau werdet Ihr singen, Herr Walther? Es wird sechs Gänge geben! Ich muss wissen, wer wann was darbieten wird.«
»Drei Lieder«, sagte Walther abrupt. »Eines für die Vergangenheit, eines für die Gegenwart und eines für die Zukunft. Für den Rest habt Ihr die Musikanten und Herrn Reinmar.«
»Wenn er denn kommt. Er hat sich erkältet, und seine Stimme ist zu heiser und unschön, um der Fürstin aus Byzanz zu gefallen, so ließ er durch seinen Knappen ausrichten.«
»Nun, vielleicht kann ich helfen, ich bin Ärztin«, sagte Judith.
Walther überraschte sie damit, dass er ihr Handgelenk ergriff. Seine Finger waren sehr warm, als hätte er selbst Fieber. »Nein«, sagte er. »Auf gar keinen Fall.«
Er klang so drängend, dass sie entschied, sein merkwürdiges Verhalten müsse andere Ursachen als das unerwartete Wiedersehen haben.
»Ihr solltet dem armen Herrn Reinmar wirklich nicht so zusetzen, Herr Walther«, erklärte der Haushofmeister missbilligend, »und ihm seinen Platz an der Sonne noch ein Weilchen gönnen. Müsst Ihr denn unbedingt der Einzige sein, dem die edlen Herren und Damen gewogen sind?«
»Nein, aber wenn die Magistra sich bei ihm ansteckt, dann wird sie wohl auch die zukünftige Schwägerin des Kaisers krank machen, und ihre Herrin wird Wien in der allerschlechtesten Erinnerung behalten. Glaubt mir, das wird dem Herzog nicht gefallen.«
»Nun ja …«, begann der Haushofmeister und verstummte.
»Herr Walther«, sagte Judith, die mittlerweile der Überzeugung war, dass sie nicht erfahren würde, warum sich der Sänger so merkwürdig verhielt, bis sie den Haushofmeister los war, »ich bin auf dem Weg ins Zisterzienserinnen-Kloster. Für meine Magd und mich ist diese Stadt hier fremd, und männlicher Geleitschutz wäre willkommen.« Sie hatte Lucia bei der Prinzessin gelassen, doch sie wollte nicht, dass der Haushofmeister merkte, dass sie mit Walther allein sein wollte.
»Es wird mir eine Freude sein.« Wenn sein Gesicht nicht dem eines Patienten geähnelt hätte, der vorgab, es ginge ihm blendend, während sich gleichzeitig riesige gefräßige Würmer in seinem Magen befanden, hätte sie ihm geglaubt.
Sie waren noch nicht weit von der Residenz entfernt, als er sich nach ihrem Vater erkundigte und wissen wollte, ob dieser in Salerno geblieben sei. Mit einem Mal war sie gewiss, dass er ihr das, was bei ihm nicht stimmte, nicht erzählen würde, wenn sie ihm die Wahrheit sagte. Stattdessen würde er versuchen, sie zu trösten, und sich in Höflichkeiten über einen Mann flüchten, den er überhaupt nicht gekannt hatte. Also nickte sie nur. In gewisser Hinsicht stimmte es sogar: Das, was von der irdischen Hülle ihres Vaters noch vorhanden war, lag in Salerno.
»Meine Magd ist die Einzige, die mit mir gekommen ist«, fügte sie hinzu, »denn unser Aufbruch geschah sehr überraschend. Ich konnte der Prinzessin behilflich sein, und Herr Diepold hatte es eilig. Das hat er noch immer. Ich glaube nicht, dass wir länger als zwei, drei Tage hier bleiben werden.«
»Dann habt Ihr wohl nicht vor, Euren Vetter hier in Wien zu besuchen?«, fragte Walther mit undeutbarer Miene.
»Selbstverständlich«, sagte sie, während etwas in ihrem Kopf begann, einen namenlosen Verdacht zu murmeln. »Schließlich habe ich ihn jahrelang nicht gesehen, ihn und seine Familie.«
Walther blieb im Schatten eines der neuen Häuser stehen, die nur aus Holzbalken anstatt aus Mauern zu bestehen schienen. »Es gibt keine gute Art und Weise, Euch dies zu erzählen, also will ich es erst gar nicht versuchen. Euer Vetter ist tot, und von seiner Familie sind nur die erwachsene Tochter und der jüngste Sohn noch am Leben.«
Im ersten Augenblick dachte sie, er erlaube sich einen grausamen Scherz mit ihr; das, was er da sagte, klang unmöglich. Vetter Salomon, der vorsichtige, nörgelnde Vetter Salomon, seine Gemahlin, sein ältester Sohn, die Tochter, die Judith Strümpfe und Beinlinge geliehen hatte …
»Welche Krankheit war es?«, stammelte sie und versuchte, nicht an das Sterben ihrer eigenen Familie in Köln zu denken, was wenigstens nicht in so kurzer Zeit geschehen war. Walther blieb stumm, und sie biss sich auf die Lippen.
»Verzeiht – natürlich könnt Ihr das nicht wissen. Ich bin überrascht, dass Ihr überhaupt vom Tode meines Vetters wisst, denn ich hatte nicht den Eindruck, dass Ihr miteinander bei Hofe zu tun hattet« sagte sie, um überhaupt etwas zu sagen, denn wenn sie schwieg, dann wurde das alles wirklich: Salomons Familie und Salomon selbst so tot wie ihre eigene, wie ihr Vater in Salerno, wie die Mutter und die Geschwister in Köln.
Seine Gesichtsmuskeln zuckten. Was auch immer an ihm fraß, war noch längst nicht heraus.
»Von Seuchen weiß ich wirklich nichts«, sagte er langsam.
»Lügt mich nicht an«, gab sie scharf zurück. »Ich bin eine Ärztin. Wir wissen, wann man uns anlügt.«
»Ich bin ein Verfasser von Unwahrheiten, und ich weiß, wann jemand die Wahrheit hören will. Glaubt mir, die Menschen bilden sich das vielleicht ein, doch sie wollen es nicht wirklich. Euer Vetter und die meisten der Seinen sind tot. Lasst es dabei bewandt sein. Und kehrt nicht wieder nach Wien zurück.«
Die Anmaßung in diesen Worten war so unerträglich wie das, was er vor ihr verbarg. Sie schlug ihm nicht wieder ins Gesicht, das nicht, doch sie packte seine Hand und presste seine Finger auf eine Art und Weise zusammen, die ihm Schmerzen bereiten musste.
»Maßt Euch nie wieder an, mir zu sagen, was ich hören will und was nicht. Mir ist es gleich, für wen Ihr sonst schöne Worte finden müsst, aber nicht für mich. Es gibt nichts, das ich von Euch wissen möchte, als die Wahrheit.«
Mit einem Ruck machte er sich los und packte sie bei den Schultern: »Man hat sie erschlagen, weil sie Juden waren!«, stieß er hervor. »War es das, was Ihr hören wolltet? War es das? Sind sie nun weniger tot, Magistra?«
Ich war noch ein Kind, flüsterte ihr Vater in ihrer Erinnerung, aber ich werde nie vergessen, was mit Simon dem Frommen in Köln geschehen ist, als sie wiederkehrten von ihrem Kreuzzug.
Erst, als sie ihre eigene Stimme hörte, wurde ihr bewusst, dass sie die Lippen bewegte. »Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig.«
Der Mann, der ihr ins Gesicht starrte, war ein Fremder, dem sie erst einmal begegnet war. Er war ein Christ. Er kannte die Sprache nicht, in der sie sprach, in der nur die Gebete gesprochen wurden, weil sie zu heilig für den Alltag war. Es gab nichts, das sie teilten. Aber solange er hier war, konnte sie nicht weitersprechen, sie konnte nicht »Gelobt der Name der Ehre, seine Herrschaft für immer und ewig« flüstern.
»Lasst mich los!«
»Ich wusste, dass Ihr –«
»Nein«, sagte sie bitter, »nein! Ihr habt Eure bequeme Lüge nicht für mich aufrechterhalten wollen. Ihr habt es für Euch selbst getan. Ihr wolltet, dass ich Euch weiter anschaue und nicht das Blut an Euren Händen sehe.« Weil er ein Christ war, meinte sie, und weil sie in diesem Moment ein wenig von dem verstand, was Salvaggia gefühlt haben musste, als sie sagte, sie würde das Kind des Kaisers ins Meer schleudern, obwohl es ihr nichts getan hatte; ein Gefühl, das nichts mit Gerechtigkeit zu tun hatte, mit Schuld oder Unschuld.
Doch an der Art, wie sich seine Augen weiteten, wie er sie sofort losließ und einen Schritt zurücktrat, an seinem unwillkürlichen Atemholen erkannte sie, dass er sie anders verstand. Dafür konnte es nur einen Grund geben.
»Ihr wart dabei.«
* * *
Mit fünf Jahren hatte Irene zum ersten Mal an einem Bankett teilgenommen, das im Blachernen-Palast stattfand, der Residenz ihres Vaters in Byzanz. Rosenblätter lagen überall auf dem Boden verstreut, der überdies mit warmen Teppichen bedeckt war; die Mosaike an den Wänden stammten noch aus der Zeit Justinians. Kaiser und Kaiserin waren auf einer mit Rädern und Hebeln betriebenen mechanischen Empore zu den übrigen Gästen aufgefahren wie heidnische Götter, und dem byzantinischen Hofzeremoniell gemäß hatte sich bei ihrem Anblick jeder Gast langgestreckt auf den Boden geworfen.
Was der Herzog von Wien unter einem Gastmahl verstand, war, um eine Tafel inmitten eines nicht allzu großen Raumes zu sitzen, die aus einer auf zwei Böcken abgesetzten großen Platte bestand. In den kaiserlichen Bankettsaal hätte dieser Raum mehrfach gepasst. Die Gäste saßen weder auf Stühlen, noch waren Liegen vorgesehen, sondern man hockte auf Holzbänken, wobei Irene, dem Herzog, dem Bischof von Passau und einigen der edlen Herren immerhin mit Federn gefüllte Kissen zur Verfügung gestellt wurden. Decken, um die zugige Kühle abzuwehren, gab es nicht.
Zunächst erleichterte es Irene, dass zumindest ein Becken zum Waschen der Hände gereicht wurde, bis sie verstand, dass es nicht allein für sie gedacht war, sondern für alle anderen Gäste auch. Die Musikanten spielten nicht übel, aber die Ritter sprachen so laut, dass sie von der Musik kaum etwas hörte; das wenigstens, musste Irene eingestehen, war auch in Byzanz nicht anders gewesen. Das Lateinische klang im Munde von Friedrich und seinen Leuten hart, ganz anders als in Byzanz oder Sizilien, und bis auf Friedrich selbst und Bischof Wolfger machte jeder grauenhafte Fehler, so dass sie oft Mühe hatte, dem Sinn des Gesagten zu folgen. Dem Most, der zuerst gereicht wurde, war einiges abzugewinnen, doch danach gab es keinen Wein, sondern eine braune, schäumende Flüssigkeit, die ihr als »Bier« vorgestellt wurde. Rülpsen schien allgemein üblich zu sein. Was das Essen betraf, so gab es zunächst Trockenfleisch vom Schaf, das nicht gewürzt war, dann einen Bohneneintopf, bei dem wenigstens Salz verwendet worden sein musste, doch als die Innereien aufgetischt wurden, hatte sich das bisschen Appetit, das Irene geglaubt hatte zu besitzen, verloren; unwillkürlich musste sie wieder an Palermo denken, daran, wie Menschen schrien, denen Innereien aus dem Leib gerissen worden waren, daran, wie der kleine Guglielmo gebrüllt hatte, als man ihn entmannte, weil es keine Erben der Hautevilles mehr geben durfte, die nicht auch staufisches Blut in sich hatten.
Für einen Moment wünschte Irene sich, die Magistra hätte ihr nicht geholfen, sondern sie aufgeschnitten und verbluten lassen, aber dann erinnerte sie sich wieder, wie lange es dauerte, bis ein Mensch starb, und an das Schicksal, das allen Bewohnern Salernos gedroht hatte.
Außer den Musikanten gab es noch Troubadoure, ganz wie die Magistra es ihr auf dem Weg versprochen hatte, doch keiner von ihnen sang in Französisch. Anscheinend glaubten sie, dass ihre eigene Sprache ähnlich wohlklingend wäre. Zunächst wollte Irene das als Arroganz abtun, doch sie musste zugeben, dass bei dem, was der grauhaarige Ritter namens Reinmar von sich gab, zumindest der Sprachrhythmus den Ohren schmeichelte, obwohl sie nur wenig davon verstand. Die Magistra hatte recht gehabt; sie musste die hiesige Sprache besser lernen.
Nach dem Lied des Herrn Reinmar wurden Pasteten aufgetischt, und sie würgte ein kleines Stück hinunter, um höflich zu sein. Immerhin war nicht an Pfeffer gespart worden. Die Mischung aus Hühnerfleisch, Speckwurst und Schafsmagen hätte ihr unter anderen Umständen vielleicht sogar gemundet, doch ihr Appetit war immer noch nicht wieder erwacht.
Bischof Wolfger sprach mit ihr über Schiffsreisen und über die Hagia Sophia. »Vielleicht werde ich sie in diesem Jahr noch selbst sehen!«, erklärte er fröhlich. »Das habe ich mir schon immer gewünscht, und es wird ein gutes Omen für die Weiterreise ins Heilige Land sein.«
»Dann werdet Ihr selbst am Kreuzzug des Kaisers teilnehmen?«
»In der Tat, wie auch unser guter Herzog Friedrich hier. Wenn Ihr es wünscht, kann ich Briefe für Euch an Eure Familie mitnehmen«, schloss er freundlich.
»Mein Vater ist, wie man mir sagte, nunmehr blind«, entgegnete Irene mit zusammengeschnürtem Hals. »Mein Bruder wird wie er gefangen gehalten, und ich glaube nicht, dass mein Onkel großen Wert auf ein Schreiben von mir legt.«
An seiner betretenen Miene war abzulesen, dass die Frage wohl ein Versehen gewesen war, keine absichtliche Erinnerung daran, dass sie Glück hatte, von den Staufern überhaupt noch als ehewürdig betrachtet zu werden. Gleich darauf zeigte sich jedoch, dass der Bischof nicht umsonst als einer der führenden Kirchenmänner im Reich und Anwärter auf den Patriarchenstuhl von Aquileja galt. »Nun, das kann man nicht wissen«, sagte er. »Mag sein, dass Euer Onkel seine Verwandtschaft mit Euch nun mit anderen Augen sieht, vor allem, wenn Euer Schwager mit seinem Heer in seinem Hafen einläuft. Natürlich liegt es mir fern, mich in die Belange Ostroms einzumischen, doch mich dünkt, wenn Ihr das Schicksal Eures Vaters und Bruders etwas erleichtern wollt, dann wäre ein Bittschreiben, von mir an des Kaisers Seite überbracht, nicht etwas, das Euer Onkel so leicht ablehnen könnte.«
Nein, dachte Irene, kein Versehen. Sie musste seine Klugheit bewundern: Ihr so etwas vorzuschlagen, war eine edle und christliche Tat, die ihr Vertrauen und Dankbarkeit für ihn einflößen sollte, zumal die Taktik, die er vorschlug, Erfolg haben konnte, zumindest, was ihren Vater betraf; in seinem jetzigen Zustand musste ihn der Onkel nicht mehr fürchten und hatte nichts zu verlieren, wenn er ihn wie einen Verwandten statt einen Gefangenen behandelte. Doch was Wolfger wohlweislich nicht aussprach, war, dass Kaiser Heinrich, mit einem solchen Brief bewaffnet, sehr wohl in der Lage war zu sagen, die Behandlung seines geschätzten Verwandten, des gestürzten Kaisers Isaak Angelos, empöre ihn, und hier sei die Bitte von der Tochter des armen alten Mannes, ihrem Vater zu seinem Recht zu verhelfen. Wenn das nur mit Waffengewalt geschehen konnte – und wenn am Ende der alte Kaiser des Ostens eben nicht mehr fähig war, wieder die Regierung zu übernehmen –, dann musste es vielleicht zu seinem großen Bedauern der opferbereite Kaiser des Westens tun …
Irene war an einem Hof aufgewachsen, an dem seit Jahrhunderten jedes Wort einen doppelten und dreifachen Sinn hatte, ihr eigener Vater sich vom General zum Kaiser gemacht hatte, wo nur die Palastdiener und Verwaltungsbeamten ewig waren und Angehörige der Herrschaftsfamilien an einem Tag geschätzt und am nächsten verbannt oder tot sein konnten. Sie war dreizehn Jahre alt gewesen, als man sie nach Sizilien verheiratet hatte, ein Jahr, nachdem sie ihre Blutungen bekommen hatte, doch sie war schon lange kein Kind mehr gewesen. Was ihr noch an gutgläubiger Mädchenhaftigkeit geblieben war, das war spätestens in dem Gemetzel von Palermo gestorben.
»Ich danke Euch sehr für Eure Güte und werde über Euren Vorschlag nachdenken«, sagte sie auf Deutsch statt auf Latein und hoffte, dass sie die richtigen Worte gewählt hatte.
»Das freut mich«, meinte Bischof Wolfger in Koine, dem Griechisch, wie es in Byzanz gesprochen wurde, und schenkte ihr ein noch wärmeres Lächeln. »Ich werde mit Euch nach Frankfurt reisen, um Eure Hochzeit zu feiern, und sollten Euch auf dem Weg dorthin noch andere Wünsche einfallen, dürft Ihr sie mir immer gerne anvertrauen.«
»Euer Gnaden sind zu gütig«, entgegnete Irene, nun wieder auf Latein, das ihr am unverpflichtendsten erschien. »Doch wenn Ihr und ich nun Reisegefährten werden, dann darf ich hoffen, dass dem Herrn von Schweinspeunt sein Wunsch erfüllt wird, so bald wie möglich wieder an die Seite seines Herrn zurückzueilen? Es täte mir leid, wenn ich den Kaiser länger als unbedingt nötig des Dienstes eines so wackeren Ritters beraube.«
Diepold war ihr anfangs nicht mehr zuwider gewesen als jeder andere Ritter im Dienst des Kaisers, doch sie würde ihm nie verzeihen, dass er ihr ihre Damen fortgenommen hatte. Ob die Magistra nun seine Spionin war oder wirklich das, was sie zu sein schien, dessen war sich Irene immer noch nicht sicher. Sie hoffte auf Letzteres, doch selbst, wenn die Magistra ihr Vertrauen verdiente, dann änderte es nichts daran, dass sie Diepold von Schweinspeunt zur Hölle wünschte.
»Da habt Ihr völlig recht«, mischte sich Herzog Friedrich in das Gespräch. »Herr Diepold ist seiner Pflichten bei Euch nun ledig. Aber unser hochwürdigster Bischof hier ist ein Mann Gottes, und auf den Straßen, auf denen Ihr bis Frankfurt gut zwei Monate unterwegs sein werdet, lauern manchmal Gefahren. Daher wird es Euch freuen, zu hören, dass auch ich beabsichtige, an Eurem Hochzeitsfest teilzunehmen. Zwar kann ich noch nicht gleich mit Euch aufbrechen, doch ich beabsichtige, Euch und unserem edlen Bischof meine Gepäckwagen und ein paar wackere Streiter mitzugeben, zusätzlich zu seinen eigenen Leuten. Kämpfer, die wie der Bischof und ich bald ins Heilige Land ziehen werden.«
Wieder sprach Irene ihren Dank aus; der Austausch an Liebenswürdigkeiten zwischen dem Bischof, ihr und Friedrich erinnerte sie an das Byzanz ihrer Kindheit, so sehr, dass sie sich fragte, ob sie bei den Speisen vielleicht doch einen Vorkoster hätte beschäftigen sollen.
Die Magistra hätte ihr sagen können, ob das Fleisch, der Most oder das »Bier« merkwürdig schmeckten, doch Jutta saß selbstverständlich nicht neben ihr; die Ehefrauen dreier Ritter, die mit dem Geschlecht des Herzogs blutsverwandt waren, saßen am gleichen Tisch, weil Herzog Friedrich unverheiratet und seine Mutter nicht mehr bei Hofe war, um als ranghöchste Dame die Gastgeberin für Irene zu spielen. Nein, die Magistra saß zusammen mit dem Schreiber des Bischofs, dem Medicus des Herzogs und einigen Leuten, die Irene nicht vorgestellt worden waren, an dem dritten, kleineren Tisch, mit kerzengeradem Rücken und einer Miene, als sei sie Medusa.
Sie war später als erwartet von ihrem Ausflug in die Stadt zurückgekehrt; Irene hatte bereits angefangen, sich Sorgen zu machen, was lächerlich war. Schließlich hatte sie sich vorgenommen, nie wieder ihr Herz an einen Menschen zu hängen, schon gar nicht an eine Frau mit anmaßendem Verhalten und noch nicht erwiesener Treue, ganz gleich, wie kundig und sanft ihre Hände sein mochten. Dennoch, es ließ sich nicht leugnen: Irene hatte sich Sorgen gemacht und darauf bestanden, dass die Magistra sie zu dem Festmahl begleitete.
»Euer Gnaden, ich habe die Tochter meines Vetters besucht. Es gibt traurige Neuigkeiten. Unter diesen Umständen …«
»Nun, es tut mir natürlich leid, dass Ihr weitere Todesfälle in der Familie habt, Magistra, doch mir scheint, wenn Euch der Tod Eures Vaters nicht daran gehindert hat, mich zu behandeln, dann sollte Euch der Tod eines Vetters nicht davon abbringen, für mich bei diesem Gastmahl Augen und Ohren offen zu halten. Ich will wissen, was an diesem Hof geredet wird über mich, über den Kaiser, über den Kreuzzug und über meinen zukünftigen Gemahl. Ihr hattet recht: Man muss wissen, was die Menschen von einem wollen und warum. Das ist für einen selbst gut und für die Familie. Es gibt Dinge, von denen spricht man in Eurer Gegenwart gewiss anders als in der meinen.« Es war eine bessere, adeligere Rechtfertigung für die Gegenwart der Magistra als: Bitte lasst mich nicht allein unter all diesen Fremden.
Ob die Magistra, die bisweilen beunruhigend scharfe Ohren hatte, nun hörte, was Irene nicht aussprach, oder ob sie einfach einem Befehl folgte, sie war hier. Es half, ab und zu in ihre Richtung zu schauen und zu wissen, dass es jemanden gab, der so wenig hier sein wollte wie sie selbst. Gerade jetzt veränderte sich ihre Miene; statt steinern und gleichgültig wirkte sie so, als sei gerade ihr ärgster Feind erschienen. Irene folgte ihrem Blick und bemerkte, dass ein weiterer Troubadour aufgetaucht war.
»Herr Walther von der Vogelweide«, sagte Herzog Friedrich zu Irene, »wird ebenfalls Euch zu Ehren singen.«
Sie erwartete nicht, mehr von den Worten zu verstehen, als sie es bei dem Troubadour Reinmar getan hatte, doch das Verhalten der Magistra erregte ihre Neugier. An Herrn Walther war nichts, das auf Anhieb abstoßend wirkte. Im Gegenteil: Er hatte ein angenehmes Gesicht mit einer langen Nase, seine Lippen waren schmal, was sie zusammen mit seiner großen, hageren Gestalt ein wenig an einen schönen Raubvogel erinnerte; seine Hände, mit denen er Laute spielte, waren langfingrig wie die der Magistra, und die Stimme war klangvoll und warm, als er zu sprechen begann. Was Irenes Neugier jedoch noch steigerte, war, dass er sich nicht nur vor ihr verbeugte, sondern auch etwas in der Art sagte, dass dort, wo die Vergangenheit Wunden geschlagen hatte, eines Tages auch Heilung erfolgen würde; dass nur, wo Vergebung erfolgte, auch eine Zukunft sein konnte. Es schien ihr eine eindeutige Anspielung auf ihr eigenes Schicksal zu sein, darauf, dass sie bald in die gleiche Familie einheiraten würde, die ihr früheres Zuhause und ihre Familie zerstört hatte. Zum ersten Mal wurde so etwas vor ihr und in der Öffentlichkeit ausgesprochen, und sie fühlte sich Herrn Walther ob seiner Kühnheit und Ehrlichkeit auf Anhieb gewogen. Ob allerdings seine Hoffnung, Heilung könne auch durch die Verursacher der Wunden geschehen, sich erfüllen würde, das wagte sie zu bezweifeln. Trotzdem war sie froh, wenigstens für die Dauer eines Liedes, von dem sie leider wegen der Melodie viel weniger verstand als von den einführenden Worten, nicht mehr so tun zu müssen, als sei sie freiwillig hier und nichts als eine frohe junge Braut auf dem Weg in die Arme ihres Herzallerliebsten.
»Wie ich sehe, findet das Lied Euren Gefallen«, sagte Bischof Wolfger, als sie dem Troubadour applaudierte. »Ich muss zugeben, dass ich selbst große Freude an Gesang und Dichtkunst unserer Ritter habe. War nicht König David selbst auch ein Sänger, und singen wir die Psalmen nicht immer noch? Es ist ein höchst gottgefälliger Zeitvertreib.«
»Das ist es. Kennt Ihr den Sänger?«
»Der hochwürdige Bischof versucht ihn mir schon seit geraumer Zeit zu stehlen«, warf Herzog Friedrich ein; obwohl er lächelte, um zu zeigen, dass er nur scherzte, lag ein gewisser Biss in seiner Stimme. »Das nenne ich höchst unchristlich.«
»Im Gegenteil«, parierte der Bischof. »Ich möchte Herrn Walther mitnichten nur bei mir hören, sondern finde, dass er und alle anderen seines Schlags ihre Kunst weiter an Eurem Hof ausüben sollten, aber eben auch an so manchen anderen. Nur durch ständige Vergleiche lernt man dazu.«
Für einen Moment vergaß Irene, dass sie wenig mehr als eine Geisel war, entschlossen, ihre neue Umgebung zu verabscheuen, und tat stattdessen, was sie am Hof in Palermo getan hätte, wenn zwei normannische Edelleute um einen Troubadour stritten.
»Mir scheint, Ihr verdient beide, dass ich den Bischof beim Wort nehme und Herrn Walther bitte, seine Kunst an meinem eigenen Hof auszuüben, um ihm mehr Vergleichsmöglichkeiten zu geben und Euch so wieder in christlicher Eintracht miteinander zu verbinden.«
Erst, als sie beide lachten, stürzte die Wirklichkeit wieder auf Irene ein: die Wirklichkeit, dass sie keinen eigenen Hof hatte, nicht wusste, ob Philipp von Schwaben die Dichtkunst liebte oder verabscheute, ob er vorhatte, ihr eine Wahl bei der Zusammenstellung ihrer Höflinge zu lassen, oder im Gegenteil genau wie sein Bruder völlig unzugänglich im Umgang mit seiner Frau sein würde.
»Nun, welcher Sänger würde nicht überglücklich sein, auf der Hochzeit einer so anmutigen Dame zu singen?«, sagte Friedrich aufgeräumt, doch Irene war nicht länger nach Scherzen zumute. Sie schaute wieder zu der Magistra hinüber, während die Dienerschaft auf einer großen Zinnplatte einen Fasan hereinschaffte, der nach der Zubereitung wieder mit seinen Federn bestückt worden war. Doch die Magistra saß nicht mehr auf ihrem Platz. Sie musste während des Vortrags von Herrn Walther gegangen sein.