VII. Frauenlied

1209–1212

Kapitel 42

Die Feste von Würzburg war über und über mit Gold und Rot geschmückt, den Farben König Ottos, goldene Löwen auf rotem Grund. Beatrix hielt Judiths Hand, nachdem sie aus der Sänfte gestiegen war, mit der man sie auf die Feste gebracht hatte, doch ansonsten ließ sie sich nicht anmerken, was sie empfand.

Noch einen Monat, dann würde sich der Tod ihres Vaters jähren. Noch drei Monate, und auch der Tod ihrer Mutter würde das tun.

Judith schmeckte immer noch das Salz ungeweinter Tränen, wenn sie daran dachte. Philipps Tod war für sie vor allem wegen der Folgen für Irene und deren Töchter ein Schlag gewesen und wurde, soweit es Judith betraf, durch den Tod von Gilles noch übertroffen. Aber Irene, Irene war etwas ganz anderes. In der stickigen Augusthitze auf Hohenstaufen war mit einer Fehlgeburt auch Irenes Leben ausgeblutet, trotz allem, was Judith tat, um es zu verhindern.

»Was hat die arme Seele jetzt noch, wofür sich zu leben lohnt?«, hatte eine der Hofdamen gefragt. Um ein Haar hätte Judith der Versuchung nachgegeben, die hoch edle Gräfin ins Gesicht zu schlagen.

»Ihre Töchter«, hatte sie mit zusammengebissenen Zähnen erwidert. »Ihre lebenden Töchter und sich selbst.« Ob Irene das noch hörte oder nicht, sie hatte um ihr Leben gekämpft, doch nicht gewinnen können. Während Judith ihr Trank nach Trank einflößte, um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen, und versuchte, die Blutungen zu stillen, hatte Irene geflüstert: »Meine Magistra. Ich habe immer geglaubt, mir könne nie etwas geschehen, wenn Ihr bei mir seid, mir und meinen Kindern. Wäre es ein Junge geworden?« Das Kind war im sechsten Monat gewesen, jenseits aller Hoffnung aufs Überleben, aber in der Tat von männlichem Geschlecht.

»Ich hätte Euren Sohn gerne gerettet, meine Königin«, hatte Judith mit erstickter Stimme gesagt. Darauf hatte sich die Königin noch einmal aufgestützt, Judiths Schulter ergriffen und ihr ins Ohr geflüstert: »Dann müsst Ihr bei meiner Tochter erfolgreicher sein. Schwört mir, dass Ihr Beatrix nicht verlassen werdet.«

»Ihr werdet sie selbst …«

»Nein. Auch wenn ich überlebe, der Welfe wird mich nie an seinem Hof dulden, nicht Philipps Witwe. Ihr müsst auf meine kleine Beatrix aufpassen, Magistra, schwört es mir! Was auch geschieht?« Es wäre sinnlos und grausam gewesen, darauf hinzuweisen, dass Otto Judith vermutlich noch weniger an seinem Hof dulden würde, aber sie ließ sich zum zweiten Mal zu einem Versprechen hinreißen, das sie Irene nicht hätte geben sollen.

»Was auch geschieht.«

Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie ihr Versprechen halten sollte, aber das Schlimmste, das Allerschlimmste war, dass es sich als leichter herausstellte, als sie für möglich gehalten hatte. Im November, als der Hoftag in Frankfurt Otto formell als König bestätigte, Beatrix als Philipps älteste Tochter die Mörder ihres Vaters vor ihm anklagte und er ihr vor den Fürsten des Reiches versprach, sie zu heiraten, da war Judith ihrem Onkel wiederbegegnet. Stefan hatte ihr keine Vorwürfe gemacht, weil sie ihn und Paul ausgenutzt hatte. Stattdessen hatte er bewiesen, wie gut er sie trotz allem immer noch kannte – und ihr einen Schlag versetzt, der tiefer ging: »Ich habe jedermann am Hof wissen lassen, was Otto dir schuldet.«

»Was er mir …«

»Das war ein Stauferkind, das nie lebend zur Welt kommen durfte. Für den Frieden des Reiches musste es sterben, sonst wäre der gerade geschlossene Frieden nichts wert. Und wer war besser geeignet als du, um eine Fehlgeburt einzuleiten? Meinen Glückwunsch. Unter diesen Umständen ist Otto natürlich bereit, dich als Leibärztin seiner neuen Königin anzunehmen.«

Sie wäre lieber öffentlich als Hure bezeichnet worden, als dass ihr unterstellt wurde, sie hätte ihren Eid als Ärztin und ihre Zuneigung für Irene verraten, und das wusste Stefan. Vermutlich ahnte er auch, dass sie ihn nicht bei Otto der Lüge zeihen würde, nicht, wenn sie bei Beatrix bleiben wollte. Besser hätte er sich nicht rächen können.


In Frankfurt hatte Beatrix ihre Hochzeit als trauernde Tochter noch aufschieben können, doch nun, da der Tod ihres Vaters sich bald jährte, war das nicht mehr möglich. Überdies hatte Otto vor, die Alpen zu überqueren und sich in Rom vom Papst zum Kaiser krönen zu lassen. Nachdem er einmal schlechte Erfahrungen mit einer ihm versprochenen Kinderbraut gemacht hatte, bestand er diesmal darauf, Beatrix vor seiner Reise in Würzburg vor aller Augen den Ring anzustecken. »Eure Ärztin wird Euch sagen können, wie ich Hochzeiten liebe«, hatte er in Frankfurt betont freundlich erklärt, bei seinem ersten und einzigen Gespräch mit Beatrix, das nur in Gesellschaft ihres Vormundes, des Bischofs von Speyer, und zwei ihrer Hofdamen stattgefunden hatte.

»Herr Otto hält fürwahr seine Versprechen«, sagte Beatrix, als sie in Würzburg inmitten all der welfischen Standarten auch eine der Staufer gewahrte. Sie ließ ihre Stimme ein wenig ansteigen, so dass es von einer Feststellung zu einer Frage wurde.

»Er hat Eurem Vater Gerechtigkeit zuteilwerden lassen, Euer Gnaden«, entgegnete Judith, obwohl die ehrerbietige Anrede für eine Königin noch neu war und beide an Beatrix’ Mutter erinnerte. Sie war froh, etwas ohne Heuchelei behaupten zu können, um das Mädchen zu beruhigen. Heinz von Kalden hatte den Wittelsbacher aufgespürt und ihm mit eigenen Händen den Kopf vom Leib getrennt. Auch die anderen beteiligten Andechs-Meranier waren für gesetzlos erklärt worden. Da sie an den Hof ihrer Schwester in Ungarn geflüchtet waren, ließ sich nicht mehr tun, doch immerhin konnte Beatrix sicher sein, dass die Familie keinen Gewinn aus dem Mord an ihrem Vater gezogen hatte. Das ist mehr, als man vom Landgrafen von Thüringen und seinem Schwiegersohn behaupten kann, dachte Judith bitter. Hermann von Thüringen hatte Otto umgehend zu Philipps Nachfolger ausgerufen und sich zu seinem Anhänger erklärt. Anschließend verfügte er schon wieder über ein paar Städte mehr, und er war unter den Gästen in Würzburg, mit seiner gesamten Familie.

»Das hat er. Wird – wird er auch seine Versprechungen halten, meine Schwestern nicht ins Kloster zu stecken? Kunigunde hat mir damit die ganze Nacht in den Ohren gelegen, ehe wir Speyer verlassen haben. Sie hat Angst davor.«

»Eure Schwestern sind nun seine Schwägerinnen, Euer Gnaden, somit wertvolle Handelsobjekte, mit denen er wuchern und Bündnisse schließen kann«, erwiderte Judith nüchtern. »Er wird sie nicht verschwenden.«

Beatrix nickte und biss sich auf die Lippen. Dann ließ sie Judith los, hob die Hand und winkte den Menschen zu, die ihr zujubelten. Sollten die Würzburger Konrads Tod immer noch Philipp nachtragen, so galt dies nicht für seine Tochter, nicht, nachdem Philipp selbst ermordet worden war. Beatrix war zwar nicht klein für ihr Alter, aber eindeutig noch ein Kind, mit der flachen Brust und dem runden Gesicht – und sie war die Verkörperung des Friedens, der nun zwischen Staufern und Welfen herrschte. Es gab niemanden, der sie nicht schon deswegen schätzte. Es wäre töricht von Otto, sie anders als mit Achtung zu behandeln, sagte sich Judith zum hundertsten Mal, war aber alles andere als beruhigt.

Hastig listete sie sich Errungenschaften Ottos auf, die ein Gegengewicht zu ihrer Meinung über ihn darstellen mochten: Er hatte seit seinem Regierungsantritt einen Königsritt durch das ganze Reich unternommen, Fehden geschlichtet, Recht gesprochen und bisher ein gutes Gleichgewicht an Güterverteilung gehalten zwischen seinen Anhängern, die sich für die jahrelange Treue unter widrigen Umständen reiche Belohnung erwarteten, und den staufischen Anhängern, die ihm nun folgten, weil er Beatrix heiratete, und erwarteten, dass er sich ihnen gegenüber als großzügig dafür erwies. Das war nicht einfach gewesen, doch er hatte es geschafft. Im Gegensatz zu seinem Ruf, rachsüchtig zu sein, hatte er sich auch mit seinem Bruder versöhnt; der Pfalzgraf von Braunschweig und seine Gemahlin gehörten ebenfalls zu den Würzburger Gästen. Da Judith selbst einiges darüber wusste, wie schwer es war, der eigenen Familie einen Verrat zu verzeihen, musste sie zugeben, dass es für Otto sprach, seine neue Macht nicht dazu zu nutzen, seinen Bruder für dessen Seitenwechsel zu bestrafen. Vielleicht war Otto die große Ausnahme unter den Männern, jemand, dessen Charakter von mehr Macht verbessert wurde? Der an der neuen Machtfülle reifte, statt sie sich zu Kopf steigen zu lassen? Schließlich hatte er lange genug darauf gewartet, und er war ein Mensch aus Fleisch und Blut, nicht eine Statue aus Stein, die unveränderlich war und ständig in die gleiche Richtung blickte.

Dann erinnerte Judith sich wieder an Ottos kurze Bemerkung über seine Freude an Hochzeitsfeiern, und ihr Versuch, in ihm das Gute zu sehen, erschien ihr lächerlich.

Um sich abzulenken, schaute Judith auf die Gäste hinter Otto. Der Pfalzgraf aus Braunschweig und seine Gemahlin waren nicht die einzigen Gesichter, die sie erkannte. Den Bischof von Speyer hatte sie erwartet; er war übergangslos von Philipps Kanzler zu Ottos Kanzler geworden, was wohl ebenfalls eine richtige Entscheidung war, die sie Otto anrechnen musste. Wolfger von Passau war eine Überraschung, denn sie hatte ihn in Italien gewähnt. Und zur Linken, bester Stimmung, umrahmt von zwei jüngeren Frauen, von denen eine wohl seine Gemahlin sein musste, stand Hermann, Landgraf von Thüringen. Bei der anderen Frau handelte es sich um die Markgräfin von Meißen. Judith zuckte zusammen, als ihr einfiel, wann ihr diese Dame zum letzten Mal begegnet war. Als sie den Mann sah, der schräg hinter der Markgräfin stand, glaubte sie im ersten Moment, die Erinnerung spiele ihr einen Streich und habe ihn deswegen hierher in den Hof der Feste zu Würzburg gezaubert, doch nein. Hinter Jutta stand Walther.

* * *

Walther sagte sich, dass er nach Würzburg gekommen war, weil er Otto als Gönner brauchte und weil der Herzog von Österreich dort sein würde. Es konnte nicht schaden, noch einmal zu versuchen, sich gut mit ihm zu stellen. Es würde Leopold beweisen, was für einen Schatz er an Walther in Wien haben könnte, wenn König Otto sich ihm wohlgeneigt zeigte. Außerdem machte er sich Sorgen um die kleine Königstochter, die nun Königin sein würde, obwohl sich Zuneigung für ein gekröntes Haupt nie empfahl. Doch er wusste, dass sie seine Lieder schätzte; es würde ihr bestimmt Freude bereiten, wenn er bei dieser Feier für sie spielte.

Dass Judith bei ihr sein würde, war Nebensache. Gewiss, nach all dem, was sie in der Vergangenheit miteinander verbunden hatte, würde sie ihn wohl nie gleichgültig lassen, doch sie hatte klargemacht, dass es keine Zukunft für sie beide gab; sie konnte ihm wohl nie verzeihen, und er war sich auch nicht sicher, ob er ihr verzeihen würde. Also war es das Beste, nur noch vorwärtszuschauen und bei gelegentlichen unvermeidlichen Begegnungen höflich zueinander zu sein, wozu er als reifer Mann schließlich imstande sein musste. Es gibt keinen Grund, in rührseligen Erinnerungen zu schwelgen, nur, weil wir hier in Würzburg sind, dachte Walther, bis er daran erinnert wurde, dass Judith nicht die einzige Frau war, in der diese Stadt Erinnerungen wachrufen konnte: Jutta von Meißen trat ein paar Schritte zurück, so dass sie neben ihm stand, als Otto Beatrix’ Hand nahm und sie zu Wolfger geleitete, vor dem sie ihre Versprechen leisten würden.

»Ich weiß bei Hochzeiten nie, wen ich mehr bemitleiden soll, den Bräutigam oder die Braut«, bemerkte sie beiläufig.

»Sie ist ein reizendes Mädchen mit einer Krone im Gepäck, und die reichste Erbin im Land«, gab Walther mit gesenkter Stimme zurück. »Da gibt es keinen Grund, Herrn Otto zu bemitleiden.«

»Nun, zumindest in einer Beziehung gibt es den. So, wie sie aussieht, blutet sie noch nicht, also kann es keine Hochzeitsnacht für ihn geben. Das heißt natürlich nicht«, fügte sie vielsagend hinzu, »dass wir anderen enthaltsam leben müssen, um das Brautpaar zu ehren.«

Erst da fiel Walther wieder ein, wie er Jutta unabsichtlich gedemütigt hatte. Seit seinem Besuch in Thüringen wusste er, wie tief sie das getroffen hatte. Nun aber strich ihr kleiner Finger sacht über seine Hand, ehe sie wieder neben ihren Vater trat. Ihr Gemahl war nicht hier, wie ein Gerücht wissen wollte, weil Dietrich von Meißen und Otto einander nicht ausstehen konnten, woran man den König lieber nicht erinnern wollte.

An jedem anderen Ort hätte Walther Juttas Angebot, ohne zu zögern, beim Schopf ergriffen. Aber die Vorstellung, ausgerechnet in Würzburg mit ihr ein Bett zu teilen, während Judith sich in der gleichen Burg befand, machte ihm unerwartet zu schaffen. Vor allem, weil er sicher war, dass Judith es als Racheakt von seiner Seite empfinden würde, und das Bedürfnis, sie zu verletzen, war spätestens in Bamberg erloschen. Andererseits wusste er, dass es keine Möglichkeit gab, Jutta abzuweisen, ohne ihr noch mehr weh zu tun. Nicht nach dem, was sie ihm auf der Wartburg gestanden hatte. Aber nicht hier in Würzburg. Bitte nicht! Manchmal verstand Walther, warum Wolfger nach einem langen Eheleben das Zölibat gewählt hatte. Schließlich sagte er sich, dass es unwahrscheinlich war, dass Judith von seinen Stunden im Bett der Markgräfin erfuhr, während es gewiss war, dass Jutta ihm eine weitere Zurückweisung nicht verzeihen würde, und beschloss, die Angelegenheit so vorsichtig wie möglich anzugehen.

Mit Rücksicht auf das zarte Alter der Braut fand das Festmahl tagsüber statt, und Walther sparte sich die deftigeren Lieder, die sonst angebracht gewesen wären. Da Otto der Schützling des Papstes war und die Kaiserkrone von ihm erwartete, fielen auch seine spöttischen Lieder über Rom weg; das führte dazu, ihn mit allgemeinen Frühlingsliedern, Tageliedern und einem Loblied zu unterhalten. Walther beschloss, die Gelegenheit zu nutzen, um auch gleich Leopold von Österreich daran zu erinnern, was ihm entging, und verkündete, das nächste Lied sei das eines ehemaligen Gastes am Wiener Hof, der das Glück gehabt habe, lange Zeit dort weilen zu dürfen.

Als Friederich von Österreich solch Heil erwarb
Dass an der Seele er genas, doch sein Leib erstarb,
Da senkt’ er meine Kranichtritte nieder.
Da ging ich schleichend, wie ein Pfau, wohin ich ging,
Das Haupt mir nieder fast bis auf die Knie hing.
Nun aber will ich’s fröhlich heben wieder:
Ich bin zu warmen Herd gekommen,
Das Reich, die Krone hat sich meiner angenommen.
Wohlauf! Wer tanzen will nach meiner Geigen!
Da meine Not mich nun verlassen,
So wird mein Fuß jetzt wieder festen Boden fassen,
Und ich kann auf zu hohem Mute steigen.

Die Gäste lachten und klatschten Beifall, einschließlich Otto, der schließlich die Hand hob, so dass Schweigen einkehrte.

»Wohl gesprochen, Herr Walther. Doch wenn Ihr weitersingen wollt an unserem warmen Herd, dann wünsche ich mir doch eines Eurer Liebeslieder. Meint Ihr nicht, das entspräche dem Anlass?«

Da Walther bereits ein paar seiner Tagelieder vorgetragen hatte, verstand er zunächst nicht. »Haben Euer Gnaden ein bestimmtes Lied im Sinn?« Wenn der König mehrere von ihm kannte, dann war das immerhin ein gutes Zeichen, was Walthers zukünftiges Einkommen betraf.

»Eines Eurer Mädchenlieder«, gab Otto mit einem Lächeln zurück. Seine Augen glitzerten. »Mir scheint, wir haben genügend von der hohen Minne gehört. Seid Ihr nicht für die handfestere Liebe berühmt?«

Diese Lieder waren größtenteils in seiner Zeit mit Judith entstanden, und er schaute unwillkürlich zu ihr. Sie stand mit ein paar anderen Frauen hinter Beatrix, kerzengerade, das Gesicht starr. Er kannte diesen Blick: Entweder wollte sie jemanden umbringen oder im Boden versinken. Auf gar keinen Fall war es ein gutes Zeichen.

Im Saal erhob sich erwartungsvolles Kichern. Walther hatte schon eine ganze Weile keines dieser Lieder mehr vorgetragen. Er wusste nicht, ob er es fertigbrachte, hier in Würzburg, wo er mit Judith so überwältigend glücklich gewesen war.

»Herr Walther«, sagte Beatrix überraschend, und ihre hohe, klare Kinderstimme übertönte das Kichern, »als die Braut, Eure Königin und die Herrin dieses Festes, scheint mir, ist es an mir, sich Lieder von Euch zu wünschen. Und ich möchte das vom Preis der Liebenswürdigkeit und der Tugend hören.«

»So sei es, Euer Gnaden«, sagte Walther erleichtert und machte eine Verbeugung in ihre Richtung, während sein Knappe mit der entsprechenden Weise auf der Laute begann. Er sah, wie sich Judiths Haltung entspannte, während Beatrix sich kurz zu ihr umdrehte und ihr ein spitzbübisches Lächeln schenkte, ehe sie sich wieder Walther zuwandte, die Hände sittsam gefaltet und aufmerksam lauschend, während er eines seiner älteren Lieder anstimmte. Eine Woge von Zuneigung für die kleine Königin überrollte ihn. Sie musste gewusst haben, dass diese Lieder für Judith und ihn mit zu viel Vergangenheit beschwert waren, und hatte ihnen das erspart. Da sie in der Tat die Herrin des Festes war, gab es nichts, was Otto dagegen tun konnte. Walther sang das alte Lied mit mehr Gefühl, als er je dafür aufgebracht hatte, und als er mit »Wer guten Weibes Minne hat, der schämt sich jeder Missetat« schloss, um den Beifall seiner Zuhörer entgegenzunehmen, war auch der des Königs darunter.

Aber Ottos Blick war kalt, sehr kalt, und leer.

* * *

Beatrix schlief trotz der Aufregungen des Tages rasch ein, als sie erst einmal in der großen Schlafstätte lag. Judith beneidete sie ein wenig. Sie würde im Vorzimmer das Bett mit zwei Edelfräulein teilen, und es war ein sehr warmer Maiabend. Außerdem war sie zu aufgewühlt, um schlafen zu können. Sie beschloss, noch einen nächtlichen Spaziergang durch die Feste zu machen, als sie die Schritte von mehreren Wachen hörte. Die Edelfräulein, die bereits begonnen hatten, ihre Oberkleider abzulegen, rafften sie hastig wieder zusammen, gerade noch rechtzeitig, bis Otto erschien. Alle schauten sie einander verwirrt an. Natürlich war dies eine Art Hochzeitsnacht, doch niemand hatte mit seinem Auftauchen gerechnet – Beatrix war noch nicht zur Frau gereift, und das wusste er. Trotzdem knieten sie alle nieder, als er den Raum betrat.

»Können wir Euer Gnaden behilflich sein?«, fragte Judith und erhob sich.

»Wisst Ihr«, sagte Otto gedehnt, »das frage ich mich selbst. Ich bin ein Mann voller Erwartungen, und dies ist meine Hochzeitsnacht.«

»Das kann nicht Euer Ernst sein«, stieß Judith hervor. Die Hofdamen schauten sie bestürzt an. »Sie ist noch ein Kind.«

»Nun, ich bin nicht erpicht darauf. Genauer gesagt, die Aussicht ekelt mich sogar an. Aber solange die Ehe nicht vollzogen ist, so lange kann sie ohne weiteres annulliert werden, und man weiß als König nie, wann die Kirche einem nicht mehr ganz so wohlwill, nicht wahr? Außerdem scheint mir, meine Gemahlin braucht eine Lektion darin, wer in dieser Ehe das Sagen hat.«

Man hat den falschen König ermordet, dachte Judith und fühlte sich wie damals, als sie den Altenburgberg hinunterrannte, nur dass diesmal rote Funken vor ihren Augen tanzten. Doch das würde Beatrix nicht helfen. Nichts und niemand konnte das Mädchen schützen, wenn sie es nicht tat; Recht und Gesetz gaben Otto die Möglichkeit, mit seiner Braut zu tun, was auch immer er wollte.

Sie sammelte sich und griff nach dem Kern aus Eis, der sie aufrechterhielt, wenn sie einen schweren Eingriff vornahm. Dann sagte sie sehr ruhig: »Es gibt Frauen, die eine Lektion noch viel dringender benötigen als Eure Gemahlin, Euer Gnaden. Die dankbar für eine solche Lektion wären.«

Otto musterte sie. »Ist das so?«

»Ja, Euer Gnaden«, sagte Judith und ließ ihre Stimme ein wenig kehlig klingen. Sie machte sich nichts vor: Wenn Otto auf ihr Angebot einging, dann nicht, weil er sie unwiderstehlich fand, sondern weil sie jemand war, der sich bisher seinen Demütigungen immer entziehen konnte, und das machte den Reiz einer lange hinausgezögerten Unterwerfung aus. Sie war kein Mädchen mehr, und es musste jüngere und schönere Frauen geben, die bereit waren, einem König zum Zeitvertreib zu dienen, aber ihr war klar, die wollte er jetzt nicht.

Es gibt Schlimmeres, dachte Judith. Das schlafende Kind in der Kemenate vergewaltigen zu lassen, das war schlimmer.

»Also gut«, sagte Otto abrupt. »Aber diesmal, Magistra, wird es keine Verzögerungen geben. Keine Listen.« Er schnipste mit den Fingern. »Ihr könnt gehen«, sagte er zu den Edelfräulein.

»Aber …«

»Hinaus«, sagte er scharf. »Es ist mir gleich, wo Ihr die Nacht verbringt, aber nicht hier. Wagt es nicht, vor morgen früh zurückzukommen!« Sie flohen.

»Auf die Knie«, sagte er zu Judith, während er sein Gewand hochzerrte. »Wir werden sehen, ob Euer Mund noch für andere Dinge gut ist, als Lügen zu plappern. Für den Anfang.«

* * *

Markwart, dachte Walther, ich muss unbedingt herausfinden, wie es um Markwart steht. Lucias Stellung als Amme der Königskinder würde ihr einen festen Platz verschaffen, auch wenn die Mädchen eines nach dem anderen alt genug wurden, um verheiratet zu werden, aber was nach Philipps Tod aus Markwart geworden war, hatte er noch nicht in Erfahrung bringen können. Als er seinem alten Freund zum letzten Mal begegnet war, hatte dieser zum Geleit für Irene von Bamberg nach Hohenstaufen gehört.

Da es Freundespflicht war und niemand hier seine Frage wohl so gut beantworten konnte, musste er wohl Judith aufsuchen. Im Übrigen konnte er bei dieser Gelegenheit auch der kleinen Königin für ihren Liederwunsch danken, verschleiert natürlich, doch sie würde ihn schon verstehen. Sich damit versichernd, dass er nichts als freundschaftliche Erkundigungen im Sinn hatte, fand er sich nach seiner Nacht mit der Markgräfin Jutta gleich bei Sonnenaufgang vor den Räumen der Königin ein. Zwei Wachposten standen davor, aber bei Beatrix’ altem und neuem Rang verwunderte ihn das nicht. Was ihn hingegen mehr als überraschte, war, Otto mit dem Gesicht eines befriedigten Mannes in seinem Hochzeitsgewand vom vergangenen Tag die Räume verlassen zu sehen. Die Möglichkeit, die Walther sofort in den Sinn kam, löste Übelkeit und Empörung in ihm aus. Da die Wachposten Otto folgten, gab es niemanden, der Walther daran hinderte, das Vorzimmer sofort zu betreten, obwohl er nicht wusste, was um alles in der Welt er tun konnte, um einem geschändeten kleinen Mädchen zu helfen.

Das Erste, was ihm ins Auge stach, war das lange Unterkleid aus Seide, das Judith nur unter Feiertagsroben trug, weil es leicht knitterte, und das am Ausschnitt zerrissen war; an ihrem Brustansatz erkannte er blaue und braune Druckstellen. Das Zweite war, dass ihre Lippen wund gebissen schienen, und ihre Augen wie aus Stein. Als sie ihn erkannte, flackerte etwas in ihnen, während er begriff.

»Ich dachte«, begann er tonlos, weil die Stille zwischen ihnen schrecklich war, weil er sie umarmen wollte und doch keine Hand rühren konnte. Wenn er in diesem Moment die Wahl gehabt hätte, ins Spinnhaus zurückzugehen und dafür die vergangene Nacht ungeschehen zu machen, er hätte es getan.

In Judith kam Bewegung. Sie deutete mit dem Kinn zur Kemenate der Königin. »Sie darf nichts merken«, flüsterte sie. Dann raffte sie aus einem Reisekorb ihren Mantel und den Kittel aus Leinen, den sie für gewöhnlich als Oberkleid trug, wenn sie mit irgendwelchen Tinkturen hantierte, und fragte bittend: »Bringst du mich zum Burgbrunnen? Ich … ich muss mich waschen.« Die eiserne Selbstbeherrschung, die sie umhüllte, begann zu schmelzen, und er sah, wie ihr Mund zu zittern anfing. »Ich muss mich wirklich waschen.«

Als er Jutta von Meißen verlassen hatte, war ihr in einem Bottich warmes Wasser für ein morgendliches Bad gebracht worden. Wenn er länger darüber nachdenken würde, dann müsste er den Einfall als wahnsinnig verwerfen, aber gerade jetzt dachte er nicht; er fühlte nur, und was er fühlte, war zum größeren Teil nichts als der Wunsch, Judith eine neuere, bessere Welt zu Füßen zu legen, in der ihr nie mehr dergleichen geschehen konnte.

»Es gibt Besseres für dich«, gab er zurück, nahm sie bei der Hand und führte sie in das Gemach der Markgräfin. Dass Judith ihn nichts weiter fragte, sondern ihm widerspruchslos folgte, war ein weiteres Zeichen dessen, was ihr geschehen war, und er fragte sich, warum um alles in der Welt er sie nicht in Bamberg, als sie ihm auf dem Altenburgberg vor die Füße gefallen war, genommen und weit fortgebracht hatte, nicht in den Dom, sondern irgendwohin, wo es keine Fürsten gab.

Jutta war bereits dabei, von ihren Mägden angekleidet zu werden. Sie starrte Walther erst überrascht an, dann, als ihr Blick zu Judith glitt und sie erkannte, stirnrunzelnd.

Es geschah nicht häufig, dass ihm die Worte fehlten, doch dies war so ein Zeitpunkt. Statt einer leichtfüßigen Erklärung bat er hilflos: »Freunde helfen einander.«

Juttas Stirnrunzeln vertiefte sich. Sie trat näher; ein Hauch des Erkennens glitt über ihre Züge, während sie ihr Gegenüber musterte. Sie streckte eine Hand aus und legte sie unter Judiths Kinn, ihren Kopf vorsichtig zur Seite drehend, die Augen auf ihren blutverkrusteten Mund gerichtet.

»Der König«, sagte Walther bitter.

Jutta presste die Lippen zusammen. Dann befahl sie ihren Mägden zu gehen und sagte: »Das Wasser wird bald kalt, wenn es nicht genutzt wird, Magistra.«

Judith schluckte, einmal, zweimal, dann ließ sie ihren Umhang und den mitgebrachten Leinenkittel zu Boden fallen. Als sie versuchte, aus dem Unterkleid zu schlüpfen, versagten ihre Arme. Walther wollte ihr helfen, doch Jutta war schneller und zog ihr vorsichtig das Gewand über den Kopf. Er dachte daran, wie er Judith das seidene Unterkleid mitgebracht hatte, das kostbarste Geschenk, das er sich leisten konnte, gewebt in Apulien, wohin ihn während ihrer Zeit in Salerno seine Fahrten zu den wenigen noch verbliebenen deutschen Fürsten in Italien geführt hatte. Sie hatte davon geschwärmt, wie es sich auf ihrer Haut anfühlte: zärtlich wie ein Kuss. Nun erkannte er Samenspuren darauf, und er wusste, dass sie es nie mehr tragen würde, weil es sie an die vergangene Nacht erinnerte.

Jutta half ihr auch in die Wanne hinein. Judith begann, sich mit dem feuchten Tuch, das über dem Rand hing, abzureiben, immer schneller, bis ihm klarwurde, dass sie sich so wund scheuern würde, und er sagte hastig: »Lass mich.«

Ohne sich darum zu kümmern, dass er selbst noch sein Festtagsgewand trug, kniete er neben dem Bottich nieder, nahm ihr das Tuch aus der Hand und begann sehr vorsichtig, ihr damit über die Arme zu streichen, über Schultern, Nacken, Brüste und schließlich das Gesicht. Erst, als er ihren Mund erreichte, begann sie am ganzen Körper zu zittern, aber sie weinte nicht und gab auch sonst keinen Laut von sich.

»Am Morgen nach meiner Hochzeit«, sagte Jutta von Meißen, »verbrachte ich eine Stunde lang in einem Badezuber. Ich ließ mir immer wieder heißes Wasser bringen und nachschütten, bis ich das Gefühl hatte, alles, was von meinem Gemahl war, wäre endlich weggespült. Aber am nächsten Abend kam er wieder. Wird das für Euch das letzte Mal gewesen sein, Magistra, oder wird er wiederkommen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Judith tonlos. »Ich weiß nur, dass es nicht Beatrix sein darf, bis er nach Rom verschwindet.«

»Und was, wenn er wieder zurückgekehrt ist?«, beharrte Jutta. Walther lag auf der Zunge, zu protestieren, dass dies nicht der Moment war, um Judith mit der Zukunft zu ängstigen. Doch er wusste, dass es keine unberechtigte Frage war. Wien, dachte er, ich nehme sie mit mir nach Wien und schmeichele Leopold so lange, bis er mir eine feste Stelle bei Hofe gibt. Oder Aquileja. Wolfger heißt mich immer willkommen, und sie auch. Alles, nur so weit wie möglich von Otto entfernt und an Orten, an die er nie kommen wird.

»Dann«, sagte Judith, »wird er andere Sorgen haben … wie den Verlust seines Reiches.«

In seltener Einmütigkeit hörte sich Walther gleichzeitig mit der Markgräfin von Meißen völlig überrumpelt »Was?« fragen.

Judith, die bisher in dem Bottich gekauert hatte, setzte sich gerade auf und hielt Walthers Hand fest. In ihre Augen kam wieder Leben. »Man weiß als König nie, wann die Kirche einem nicht mehr ganz so wohlwill«, erklärte sie. »Das hat er letzte Nacht gesagt. Aber welchen Grund hätte er jetzt schon, die Feindschaft der Kirche zu fürchten? Der Papst hat ihn all die Jahre unterstützt. Es gibt nur einen Grund, warum sich das ändern könnte.«

Jutta von Meißen sog hörbar die Luft ein. »Ihr meint …«

»Er will nicht nur über die Alpen ziehen, um sich zum Kaiser krönen zu lassen. Jetzt ist er mit Beatrix vermählt, also wird er all die alten Eroberungen der Staufer beanspruchen – einschließlich des Königreichs Sizilien.«

»Er hat dem Papst zugesichert, auf die Rechte an allen Gebieten unterhalb des Patrimoniums Petri zu verzichten, wenn er erst auf dem Thron sitzt«, sagte Walther zweifelnd. »Ich kann mich noch erinnern, wie Bischof Wolfger seinerzeit davon sprach. Das war der Grund, warum Otto überhaupt die Unterstützung des Heiligen Vaters gewonnen hat.«

»Auf etwas, das einem nicht gehört, kann man leicht verzichten«, sagte Judith, und ihre Stimme gewann von Wort zu Wort mehr Leidenschaft. »Aber wen gibt es jetzt noch, der ihn aufhalten könnte? Diepold von Schweinspeunt wird schnell bereit sein, sich auf seine Seite zu schlagen. Und nach all den Jahren des Krieges und den nun entfallenden englischen Anleihen braucht er Geld. Er wird einfach in die Fußstapfen Kaiser Heinrichs treten und es sich in Sizilien holen.«

»Bei Gott, das klingt vernünftig.« Jutta war zu sehr die Tochter ihres Vaters, als dass ihr nicht die Möglichkeiten einfielen, die es auch für andere deutsche Fürsten geben würde. »Doch wenn er das tut …«

»Dann wird der Papst ihn bannen«, vollendete Walther. »Ich kenne diesen Papst. Er ist nicht bereit, zu teilen. Seit zehn Jahren gefiel er sich in der Rolle des Schiedsrichters, der hofiert wird, und er hat es genossen, auf diese Weise kaum noch deutsche Truppen in Italien zu wissen. Wenn Otto sich das Königreich Sizilien zu eigen macht, dann ist das genau das, was der Papst vermeiden wollte, als er Philipp bannte.«

Der Griff von Judiths Hand verstärkte sich. »Ich hoffe«, sagte sie, und wieder klang sie, als zitiere sie etwas, »dass er so qualvoll wie möglich zur Hölle fährt, und dass das Letzte, was er sieht, kein Priester ist, sondern eine Frau, die ihn verflucht.«

»Das hoffen wir alle am Morgen danach, meine Liebe«, sagte Jutta nüchtern. »Als jemand, der Erfahrung in solchen Dingen hat, kann ich Euch versichern, dass es einen vergiftet, wenn man nicht bereit ist, eines von zwei Dingen zu tun: sich damit abzufinden oder sich des Mannes endgültig zu entledigen. Und mit Verlaub, Ihr scheint mir nicht die Frau zu sein, die einen Kaiser tötet und sich dafür vierteilen lässt. Von dem Bann würde ich mir an Eurer Stelle auch nicht viel erwarten. Wenn er klug ist, dann ahmt er nicht Kaiser Heinrich, sondern den alten Kaiser Rotbart nach und nutzt seine Truppen in der Nähe von Rom, um dem Papst klarzumachen, wer der Mächtigere ist. Wie Ihr schon sagtet – wen gibt es jetzt noch, der ihn aufhalten kann? Mein eigener Vater liebt das Spiel um Macht und Land so sehr wie nur irgendein Fürst und war sich dennoch gewiss, dass letztes Jahr sein letzter großer Wurf stattgefunden hat.«

Judiths Augen brannten sich in Walthers; er wurde an die alte Geschichte von dem Vogel erinnert, der sich aus seiner Asche erhebt. Es war ihm, als nehme sie ihre Demütigung, ihre Verzweiflung, mache sie zu glühendem Metall und schmiede ein Schwert daraus. »Es gibt uns«, sagte sie.

»Ich glaube, jetzt sprecht Ihr irre«, sagte Jutta. Doch Walther begann zu begreifen, und was er erfasste, war so kühn und ungeheuerlich, dass es ihm den Atem nahm.

»Ich bin eine Ärztin«, sagte Judith würdevoll. »Ich töte niemanden. Walther, du bist ein Sänger, der es nicht versteht, eine andere Waffe zu führen als seine Zunge. Und Ihr, Euer Gnaden, seid ein Faustpfand, wie alle Eures Standes, das hierhin und dahin geschickt wird, wie es gerade nützlich ist. Aber wir haben Verstand. Und mein Verstand sagt mir, dass der Papst nicht der Einzige ist, der Otto nicht als allmächtigen Kaiser sehen will. Die deutschen Fürsten sind in den letzten zehn Jahren auf den Geschmack gekommen, sich von zwei Seiten umwerben zu lassen, statt einfach nur hinzunehmen, was ihnen wie Hunden von der Tafel zugeworfen wird. Außerdem gibt es noch jemanden im Königreich Sizilien, einen gewählten deutschen König, der nicht Otto heißt. Beatrix ist nicht die letzte staufische Erbin.«

»Friedrich?«, fragte Jutta ungläubig. »Ein Knabe kann kein König sein, das haben wir doch seinerzeit morgens, mittags und abends von allen Seiten gehört.«

»Nur, dass er kein Kind mehr ist«, stellte Walther fest. »Nach normannischem Recht ist er mit Erreichung seines fünfzehnten Lebensjahres mündig geworden.« Er drehte den Kopf zu Jutta und sah, dass sie ihn und Judith mit einer Mischung aus Misstrauen, Neugier und beginnender Sehnsucht musterte. »Ihr kennt Euren Vater viel besser, als ich es je könnte. Vielleicht irre ich mich, doch mir scheint, wenn er die Möglichkeit hätte, noch einmal im Spiel um Macht und Thron mitzuwirken, noch einmal einen König zu schaffen, er würde es tun.«

»Als du in Frankfurt warst«, sagte Judith zu ihm, »da konntest du sie lenken, da hattest du Macht über sie, durch deine Worte. In Rom hast du erlebt, was Worte an Angst und Furcht säen können, in Wien, was an Hass. Worte sind mächtig.«

»Die Geschichte von David und Goliath ist nur eine Geschichte aus alten Tagen«, sagte Jutta, doch ihre Stimme ließ Zweifel erkennen. »Herr Otto hat Streitkräfte, und ganz gleich, was die Zukunft bringen mag, jetzt hat er den Segen der Kirche und den Gehorsam eines Reiches.«

Judith wandte sich erneut ihr zu. »Es wird nicht von heute auf morgen geschehen. Erst muss er seine Maske dem Papst gegenüber fallen lassen. Aber es wird geschehen, und was wir bis dahin gesät haben, davon werden wir ernten können. Die Fürsten werden bereit sein, einen neuen König zu wählen. Otto wird verlieren, was ihm kostbarer ist als das Leben: seine Macht und alles Ansehen, was er je errungen hat.«

»Es ist Wahnsinn«, sagte Jutta von Meißen.

»Das sind alle Taten, die die Welt verändern, wenn man sie beginnt«, entgegnete Walther. »Was ist härter, Wasser oder Stein? Und doch höhlt Wasser Stein und bringt ihn zu Fall. Herr Otto wird nie glauben, dass irgendjemand, der weniger Macht hat als er, anders kann, als sich ihm zu unterwerfen und ihm zu schmeicheln. Wenn ich sein Lob singe, welchen Grund soll er haben, etwas anderes zu glauben, als dass ich sein Wohl will, auf dass er meines mehre? Wenn ich von Fürstenhof zu Fürstenhof ziehe, dann wird er nie etwas anderes glauben, als dass ich ihn besinge.«

»Er glaubt mich gebrochen«, fiel Judith ein. »Es sollte mich wundern, wenn er mich nicht schon deshalb hin und wieder in seiner Nähe haben will, um sich an meiner Machtlosigkeit zu weiden. Erging es Euch denn anders, Euer Gnaden?«

Jutta starrte sie an. »Nein«, murmelte sie. »Aber was für einen Unterschied macht es für mich, ob Otto auf dem Thron sitzt oder ein anderer? Was ändert das für mich?«

Judith ließ Walther los und erhob sich aus dem Wassertrog, nackt und nass, und doch erschien sie Walther in diesem Moment wie ein Ritter, der in seine Rüstung gehüllt zum Kampf antrat. Sie kniete vor Jutta nieder.

»Ihr wäret kein Faustpfand mehr, kein Instrument für Euren Vater und Euren Gatten. Sie wären die Euren. Die Männer dieses Reiches haben ihre Herrscher bestimmt, und wir hatten zehn Jahre Krieg und Elend, Morde um Morde und am Ende einen Mann auf dem Thron, dem niemals Macht über Schwächere gegeben werden sollte, nicht über Frauen, nicht über Männer, unter keinen Umständen. Lasst uns einen besseren König machen, Jutta von Meißen. Einen unserer Wahl.«

Erst, als Jutta tief Atem holte, merkte Walther, dass er den seinen noch anhielt. »Aber wer sagt uns, dass dieser König besser sein wird? Was, wenn wir uns nur vom Regen in die Traufe begeben?«

Es war eine berechtigte Frage. Seine eigene Antwort, die er wohlweislich für sich behielt, lautete, dass der junge Friedrich ein nutzloser Trinker sein konnte, aber er würde ihn sich selbst dann auf den Thron wünschen, wenn es nur bedeutete, dass Otto ihn verlor. Bis auf Botho hatte er nie jemanden so gehasst wie Otto von dem Moment an, als er Judith im Vorzimmer der Königin sah. Und Otto war schlimmer, denn er besaß mehr Macht als Botho selbst in seinen kühnsten Träumen. Zum ersten Mal erinnerte sich Walther absichtlich an die Qualen der Hölle, so wie er sie den Papst in Rom hatte schildern hören, und wünschte sie einem Menschen aus ganzem Herzen.

Über das Jenseits hatte kein Mensch Gewalt, und das war wohl gut so – aber im Hier und Jetzt konnten sie gemeinsam Berge versetzen. In diesem Augenblick, während er auf Judith und Jutta blickte, glaubte er es, ohne Spott und Zweifel, mehr, als er irgendetwas in seinem Leben geglaubt hatte.

»Walther«, erwiderte Judith. Zuerst dachte er, sie spräche zu ihm, bis ihm klarwurde, dass sie Juttas Frage beantwortete. »Walther wird es uns sagen. Er wird die Alpen überqueren und ihn finden, den letzten Staufer, und er wird mit der Antwort zurückkehren, noch ehe Otto es tut.«

Jutta hob eine Augenbraue. »Ihr haltet Walther für einen guten Menschenkenner? Den Mann, der mich Euretwegen aus seinem Bett geworfen hat und dann noch nicht einmal die Vernunft hatte, darüber zu lügen?«, fragte sie spöttisch. Judiths Mundwinkel hoben sich. Walther wusste nicht, ob er empört oder erleichtert darüber war. Unter anderen Umständen hätten ihm zwei Frauen, die über seine Schwächen zu Verbündeten wurden, ganz und gar nicht behagt, aber in der Lage, in der sie sich gerade befanden, musste ein Mann wohl Opfer bringen.

»Er kann manchmal ein Narr sein«, räumte Judith ein; dann schaute sie zu ihm und sagte sehr ernst: »Aber es gibt niemanden, dem ich mehr vertraue, mit meinem Verstand und meinem Herzen. Ich habe das Schlimmste gesehen, dessen er fähig ist, und er hat das Schlimmste gesehen, was ich vermag. Wenn wir einander nicht vertrauen können, wem dann?«

Er hörte die Vergebung und Bitte um Verzeihung in ihrer Stimme. Seit Speyer hatten eiserne Bande um sein Herz gelegen, und wenn sich auch in Bamberg das Band ein wenig gelockert hatte, so fiel es doch erst jetzt, und das Fallen machte ihm klar, wie schwer er daran getragen hatte. Aber sie hatte in ihren braunen Augen immer die Schlüssel zu seinem Herzen getragen; es war mehr als an der Zeit, aufzuhören, sich vorzumachen, dass es je anders sein würde.

»Mir, wie es scheint«, sagte Jutta trocken. »Da Ihr wohl nicht damit rechnet, dass ich umgehend zu Otto renne und ihm erzähle, was Ihr gerade von Euch gegeben habt.«

»Das wäre Eure Wahl«, sagte Walther zu ihr. »Und wie die Magistra sagte – es ist mehr als an der Zeit, dass wir alle in diesem Raum die Möglichkeit haben, eine Wahl zu treffen.« Er schenkte der Markgräfin ein Lächeln. »Aber als schlechter Menschenkenner maße ich mir an, Euch besser zu kennen, Jutta. Ihr seid kein Stück Falschgold, das ständig in andere Formen gehämmert werden will. Ihr seid ein Edelstein.«

Jutta schüttelte den Kopf und seufzte. Dann nahm sie Judiths Hand und half ihr auf. »Es wäre wirklich besser, wenn ich nach Sizilien ginge, aber mir fehlt die Rechtfertigung. Nun, Magistra, mir scheint, die Wahl ist sehr einfach. Wenn ich Euch und Herrn Walther bei Otto verklage, dann bringt das meinem Gatten noch nicht einmal eine zusätzliche Burg, und mir überhaupt nichts als weitere Jahre des Lebens, das ich bisher geführt habe. Wenn ich Euch helfe, so irrsinnig Euer Plan auch ist, dann lebe ich schlimmstenfalls ein paar Jahre in der Hoffnung, die Welt verändern zu können – aber bestenfalls gelingt uns dies.«

Das Spiel der Nachtigall
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