Kapitel 12
Manchmal wünschte sich Judith, Irene würde noch einmal krank werden. Nicht aus Bosheit, doch mittlerweile stand sie fast drei Monate im Dienst der Prinzessin, und der jungen Frau fehlte nichts. In Salerno hatte es jeden Tag mehrere Herausforderungen für eine Ärztin gegeben, immer wieder neue Dinge, die Judith so lernen konnte. Das war ihr Lebenstraum gewesen, das hatte sie glücklich gemacht. Nicht mehr zu tun zu haben, als Irene Deutsch beizubringen und sie aufzumuntern, gab Judith noch dazu mehr als genügend Zeit, über alles nachzudenken, was sie lieber vergessen wollte. Es gab ihr Zeit, immer wieder die Stimme ihrer Base zu hören, als sie die Leichen ihrer Verwandten beschrieb. Es gab ihr Zeit, sich selbst zu verwünschen, weil sie so dumm gewesen war, sich über das Wiedersehen mit Walther gefreut zu haben, ehe sich ihr die Wahrheit eröffnet hatte.
Es gab ihr aber auch die Zeit, sich ihrer eigenen Feigheit zu schämen, weil sie immer noch nichts über ihre wahre Religion zu Irene gesagt hatte. Ihre Feigheit, die ihr auch das Verstehen von Walthers Verhalten leichter machte. Dann wieder dachte sie an das Gelächter des Ritters, der einer von Salomons Mördern gewesen war und in ihr den Wunsch nach Vergeltung hervorrief.
Es hatte geholfen, Walther davon zu erzählen, weil es ihr die Sicherheit gab, dass sie nichts dergleichen tun würde; sonst hätte sie ihre Gedanken für sich behalten. Doch ihr Leben wurde dadurch nicht besser, denn nun musste sie sich mit der unwillkommenen Erkenntnis herumschlagen, dass sie Walther eigentlich hassen sollte, doch es nicht tat, zumindest nicht genug, um ihn aufrichtig weit fort zu wünschen.
Es wäre Judith bessergegangen, wenn sie anderen Menschen mit ihren Fähigkeiten hätte helfen können oder sich ihr wenigstens die Gelegenheit geboten hätte, in Ruhe die neuen Schriften von Mosche ben Maimon zu studieren, doch nichts davon war möglich. Stattdessen bestand ihr Geist immer wieder darauf, sie an Rabbi Mosches Kitab as-sumum zu erinnern, seine Abhandlung über Gifte und ihre Gegenmittel, ein Rausch, der sie täglich neu erfasste, auch als Walther sein Lied für sie vor aller Ohren gesprochen hatte.
Wenigstens hatte Irene das Ganze nicht weiter ernst genommen, nicht als echte Werbung. Minnelieder waren ein Spiel; es musste immer abweisende Damen geben, denen Lieder gewidmet wurden, und das Einzige, worüber Irene ein Wort verloren hatte, war, dass dieses Lied, völlig unüblich, Gegenliebe forderte und unerwiderte Zuneigung für grundsätzlich schlechter erklärte. »Vielleicht ist es anders in diesem Land und in Eurer Sprache«, sagte sie zu Judith, »aber die Troubadoure, die ich in Palermo gehört habe, waren stets mit Blicken ihrer Angebeteten zufrieden und rühmten das Leiden und die Entsagung, nicht die Erfüllung.«
»Ich habe nicht den Eindruck, dass Herr Walther jemals etwas für Entsagung übrighat«, murmelte Judith, »und andere deutsche Sänger habe ich nicht gehört, weil ich in den letzten Jahren in Salerno lebte.« Auch, weil jüdische Ärzte in ihrem Kölner Haushalt keine Minnesänger empfingen, doch das konnte sie nicht hinzufügen.
Jedenfalls brauchte Judith dringend etwas, das sie beschäftigte. Erneut auf dem Maulesel zu reiten war keine Lösung; es befreite sie lediglich von der fürchterlichen Schaukelei, denn spätestens, als sie Passau hinter sich gelassen hatten, dem letzten Ort, wo manchmal noch die alte Straße der Römer erkennbar war, sprang ihr Wagen von einem Loch in das nächste, und wenn es regnete, kamen sie kaum noch voran, weil sie ständig feststeckten. Nein, das Reiten gab ihr immer noch viel zu viel Zeit zum Grübeln und für Gedanken an Walther, obwohl es doch überhaupt keinen Grund gab, sich mit diesem Kerl zu beschäftigen. Sie versuchte, sich einzelne Trossmitglieder daraufhin anzuschauen, ob diese an Gebrechen oder Krankheiten litten, derer sich die Männer noch nicht bewusst waren oder schämten, darüber zu sprechen, doch ihre Blicke wurden missverstanden, da die Betreffenden sich jedes Mal in die Brust warfen und versuchten, anzüglich zu schwatzen. Nach einer Weile gab sie es auf und kehrte erneut in den Pferdewagen zurück, wo es wenigstens Lucias zahnendes zweijähriges Söhnchen gab, für das sie eine Bernsteinkette aus dem Schmuck der Prinzessin zum Beißen organisieren konnte. Als sie sich bei Irene bedankte, welche über Kopfschmerzen klagte, meldete ihre ärztliche Beobachtungsgabe endlich eine Herausforderung, denn von dem Kind zu Irene zu blicken, erinnerte sie daran, dass Irene seit zwei Wochen ihren Monatsfluss hätte haben sollen, der jedoch nicht eingetreten war; der Geruch wäre im Wagen unverkennbar gewesen. Keine der Mägde sprach Latein, deswegen beschloss sie, Irene gleich darauf anzusprechen.
»Was wollt Ihr damit sagen, Magistra?«, fragte die Prinzessin aufgebracht. Auf ihren Wangen erschienen rote Flecken; in ihrer Stimme lag die Schrillheit von Angst.
»Dass Eure Körpersäfte nicht im Einklang miteinander stehen«, gab Judith beruhigend zurück. »Das kann geschehen. Aber Ihr solltet mich das behandeln lassen, denn je länger Euer Monatsfluss sich staut, desto heftiger wird er hervorbrechen, und Ihr wollt gewiss nicht, dass dergleichen geschieht, wenn wir in Frankfurt feiern. Ich habe Aloe dabei, die den kalten Weißschleim verarbeitet und austreibt, genau wie die warme Gelbgalle. Sie kräftigt außerdem den Magen und hilft bei Kopfweh. Ich weiß, dass Euch die Wochen in diesem Wagen mehr als genügend beschert haben. Lasst mich heute Abend heißen Eppichsaft mit der Aloe für Euch mischen, das sollte helfen. Vielleicht gibt es an unserem Rastplatz auch Schwarzwurzeln, die würden ebenfalls nützlich sein. Auf jeden Fall solltet Ihr mehr trinken, das hilft immer, zumindest gegen die Kopfschmerzen.«
»Es – es ist wirklich … ich wusste nicht, dass … um offen zu sein, Magistra, ich habe schon angefangen, mich zu fragen, ob Gott meinen Monatsfluss von mir genommen hat, um mich unfruchtbar zu machen, so dass der Staufer mich nicht heiraten wird«, schloss Irene gedrückt, aber ob sie diese Möglichkeit erhofft oder gefürchtet hatte, ließ sich nicht sagen. »Außerdem hatte ich Angst, dass Ihr glauben würdet, ich sei – nun, ich wusste nicht, dass sich der Monatsfluss stauen kann, ohne …«
»Einigen Frauen geschieht das gelegentlich. Manchmal sind die Säfte nicht miteinander im Einklang, oder die Adern sind durch große Kälte oder aufzehrende Trockenheit verengt, oder der Körper geht durch ungewohnte Anstrengungen in diesen Zustand über, wie eine sehr lange Reise«, sagte Judith.
Irene atmete vor Erleichterung aus. Sie musste wirklich Angst gehabt haben, dass man sie für schwanger hielt, was Schimpf, Schande und das nächste Kloster für sie bedeutet hätte. Für Judith war die Möglichkeit schon deswegen nicht in Frage gekommen, weil sie wusste, dass Irene in den letzten Monaten zu keinem Zeitpunkt alleine gewesen war; außerdem war es sehr unwahrscheinlich, dass einer der Kriegsknechte die grausamste Folter und den sicheren Tod dafür riskieren würde, die Braut eines Herzogs zu schänden. Vielleicht hatten die jüngsten Ereignisse sie bitter gemacht, doch Judith hielt es für wahrscheinlicher, dass Männer, die einer Frau Gewalt antaten, sich dafür solche suchten, die in der Welt weniger galten als sie selbst und niemanden hatten, der sie rächte. Genau, wie feige Mörder zuerst Opfer suchten, die für ihresgleichen nicht als Menschen galten.
Es war befriedigend und beruhigend zugleich, an jenem Abend einen Trank zu brauen, aber sie war sich bewusst, dass sie sich selbst nicht zur Ader lassen konnte, um das üble Gemisch aus Unruhe, Trauer, Zorn und unangebrachten Sehnsüchten loszuwerden. Morgen würde sie wieder einen Tag auszufüllen haben, und dann einen weiteren. Leibärztin einer Fürstin zu sein mochte bedeuten, sich nie um das tägliche Brot sorgen zu müssen, aber es ließ ihren Verstand hungern.
Bisher hatte sie sich vom Bischof von Passau ferngehalten, der mit dem Tross reiste, aus einem grundsätzlichen Schauder vor christlichen Klerikern. Doch er war einer der großen Bischöfe des Reiches, und das bedeutete, dass er sehr wahrscheinlich auch mit einigen Büchern unterwegs war. Also fasste sie den Entschluss, ihn anzusprechen; im Notfall konnte sie immer noch vorgeben, dass sie die Bücher für die Prinzessin haben wollte.
Wie Irene reiste der Bischof mit einem Wagen, doch er saß nicht darin; stattdessen fand sie ihn hoch zu Ross, als sie ihren Maulesel zu seinem Teil des Trosses trieb. Und sie fand ihn im Gespräch mit Walther.
Gott der Allmächtige hatte eine merkwürdige Art und Weise, seine Töchter zu prüfen.
»Euer Gnaden, die Magistra Jutta von Köln und unlängst von Salerno«, sagte Walther, als er sie erblickte.
Der Bischof neigte grüßend sein Haupt. »Ich habe von den Frauen aus Salerno gehört.« Aus seinem Tonfall ließ sich nicht schließen, ob es Gutes oder Schlechtes war. Walther dagegen lächelte sie an. Sie lächelte nicht zurück, aber sie konnte nicht umhin, festzustellen, dass er ein paar Sommersprossen mehr auf der Nase hatte. Es war eine rein medizinische Beobachtung. Wenn er es noch einmal wagen sollte, Verse an sie zu richten, würde sie ihm mitteilen, dass sich nichts geändert hatte, nur, weil er die Worte »es tut mir leid« von sich geben konnte. Sie sollte Flüche über seinen Namen aussprechen für das, woran er mitschuldig war, nicht überlegen, ob er an jenem Abend vielleicht betrunken gewesen war und nicht gewusst hatte, was um ihn geschah.
»Auch Euer Ruhm hat uns erreicht«, entgegnete sie so ehrfürchtig wie möglich, obwohl sie von dem Bischof nur wusste, dass sein Bistum Passau zu den größten Diözesen im Reich gehörte. »Vor allem der Eurer Gelehrsamkeit. Deswegen komme ich zu Euch, edler Herr. Ein gelehrter Mann Gottes wie Ihr reist gewiss nicht ohne Bücher.«
»Nein, das tut er nicht«, sagte der Bischof, ohne eine Miene zu verziehen. »Kann es sein, dass ich Euch schon einmal begegnet bin, Magistra?«
»Wenn Ihr die Schule von Salerno besucht habt«, begann sie und sah, wie Walther plötzlich ein bestürztes Gesicht machte. Seine Lippen formten lautlos Todesbett. War Bischof Wolfger an jenem Tag im Sterbezimmer des alten Herzogs gewesen? Wenn ja, dann hatte er nicht zugunsten ihres Vaters eingegriffen, als die Verdächtigungen begannen.
»Nein, das habe ich nie, und ich muss gestehen, dass ich mich wundere, wie Euch das Leben dorthin verschlagen hat. Wenn Ihr aus Köln stammt, dann wäre es doch gewiss naheliegender gewesen, die Heilkunst zum Ruhme Gottes im Kloster zu Bingen zu erlernen, wo die große Hildegard selbst gewirkt hat?«
Sie zwang sich, nicht anders als freundlich und gelassen zu klingen. »Dieses Kloster nimmt nur adelige Frauen an, und überdies fühle ich mich nicht zur Nonne berufen, Euer Gnaden.«
»Dann seid Ihr verheiratet? Ich meine mich zu erinnern … Ja, ich bin mir sicher, Euch schon einmal gesehen zu haben, in Gesellschaft eines anderen Arztes, der älter war als Ihr.« Mit einem Mal war sein Blick sehr kühl. »Eines jüdischen Arztes, Frau Jutta.«
Mein Vater, wollte sie sagen, aber dann ritt sie der Teufel, und sie fragte stattdessen: »Wart Ihr denn so krank, Euer Gnaden, dass Ihr die Hilfe eines jüdischen Arztes nötig hattet?«
»So krank werde ich nie sein«, gab er zurück, nicht feindselig, sondern sehr sachlich, als sei es die größte Selbstverständlichkeit. »Wenn das Schicksal mich krank oder verwundet in die Hände eines jüdischen Arztes gäbe, dann würde ich mich nach Kräften bemühen, seine Seele zu retten, die wichtiger ist als die Rettung meines Körpers. Und erkennt er nicht die Wahrheit Christi, so würde ich mich nicht von ihm behandeln lassen.«
Sie dachte an die Menschen in Salerno, die sich zuerst auch nicht von ihr behandeln lassen wollten, nur weil sie eine Deutsche war, und behaupteten, lieber zu sterben, als ihre Hilfe anzunehmen; da es dort immer andere Ärzte gab, waren sie nie auf die letzte Probe gestellt worden.
Der Bischof ließ sie nicht aus den Augen, und Judith spürte, wie sich Schweißtropfen in ihrem Nacken und auf ihrem Rücken sammelten. Der Ritter, der über den Tod ihres Vetters lachte, hatte ihr keine Angst gemacht; es war die Wahrheit gewesen, als sie Walther erklärte, sie habe sich an jenem Tag nur vor sich selbst gefürchtet, weil der Hass, den sie empfand, sie unversehens erkennen ließ, wie leicht es ihr fiele, die Mörder zu töten. Doch der Bischof machte ihr Angst, hier und jetzt, weil er nicht lachte, weil er nicht prahlte, weil sie nicht den Eindruck hatte, dass er aus Hass sprach. Im Gegenteil, er schien wirklich von dem, was er sagte, überzeugt zu sein. Er würde alles tun, einschließlich der Opferung seines eigenen Lebens, um Menschen zur Annahme seines Glaubens zu zwingen.
Sie hielten Simons Hände über das Feuer, flüsterte die Stimme ihres Vaters in ihr, und sie schrien, schwöre ab, schwöre ab. Doch Simon zog es vor, zu sterben.
Mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie nicht den Tod wählen würde, wenn man sie vor eine solche Wahl stellen sollte. Sie wollte leben. Simon der Fromme war für seinen Glauben gestorben, dieser Bischof hier mochte sehr wohl imstande sein, das Gleiche zu tun, doch Judith wusste, dass sie, wenn man ihr hier und jetzt ein Schwert an die Kehle setzen und ihr befehlen würde, das Kreuz zu küssen, lieber dem Befehl folgen als ihr Blut vergießen lassen würde. Der Zügel des Maulesels schnitt tief in ihren Handballen, als sie ihn fester und fester um ihre Linke wickelte.
»Euer Gnaden«, sagte Walther plötzlich, »verzeiht mir meine Unwissenheit, doch käme es nicht gefährlich an die Sünde des Selbstmords heran, wenn Ihr so Euren Tod erzwingen würdet?«
Der Bischof wandte seinen Blick von ihr ab, und Judith stieß den Atem aus, den sie angehalten hatte.
»Keineswegs. Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde, sagt die Schrift. Besteht auch nur eine kleine Möglichkeit, eine Seele zu retten, so muss man sie ergreifen, koste es, was es wolle. Was ist ein Leben hier auf dieser Erde gegen das ewige Leben einer Seele?«
Sie musste von hier fort, so bald wie möglich. Aus der Gegenwart des Bischofs, doch noch mehr als das musste sie fort aus der erstickenden Leere, die ihrem Leben das nahm, was es lebenswert machte, und von Gefahren, die sich einstellten, wo man nicht darauf gefasst war. Doch sie war nicht grundlos gekommen, und da sie sich nun einmal in Gefahr gebracht hatte, würde sie auch versuchen, noch etwas zu erreichen.
»Um das Leben einer Seele geht es mir auch«, sagte sie. »Habt Ihr vielleicht ein Exemplar der Psalmen bei Euch? Nun, da der Tag ihrer Hochzeit immer näher rückt, will sich meine Herrin durch die Worte der Heiligen Schrift vorbereiten.« Die Psalmen waren Teil der Thora, ehe sie von den Christen für ihre Bibel genommen wurden, und das Buch, um das sie bitten konnte, ohne einen inneren Verrat zu begehen. Ihn zu fragen, ob er medizinische Schriften mit sich führte, war jedenfalls sinnlos.
»Ihr liebt die Psalmen?«, fragte der Bischof gedehnt, sich nicht darum kümmernd, dass sie Irene vorgeschoben hatte. »Das wundert mich nicht. Schließlich stammen viele von ihnen von König David.«
Langsam durchsetzten sich die Angst und die Scham in ihr wieder mit dem Zorn, den sie kaum unter Kontrolle halten konnte. Die Worte, die er und seinesgleichen predigten, waren von ihrem Volk geschrieben worden. Warum sollte er ihr Leben in der Hand halten, er und jeder andere Christ? Und wenn er sich einbildete, er könnte sie mit Anspielungen einschüchtern, dann würde er herausfinden, dass sie trotz aller Machtlosigkeit keine Maus war, sondern zumindest eine Ratte, die beißen konnte, ehe sie von der Katze gefressen wurde.
»Herr Walther«, sagte sie, »als Sänger werdet Ihr mir sicher zugestehen, dass es keinen größeren Eurer Art gegeben hat als David. Die Hymnen, die man manchmal von anderen Dichtern hört, sind einfallslos und armselig im Vergleich dazu.« An den Bischof gewandt, fügte sie hinzu: »Und wie könnte es anders sein? David wurde erwählt und gesalbt von Gott. Die Philister schmetterte er in den Staub.«
In dem Schweigen des Bischofs hörte sie die Hufschläge, Wagenräder, das Gemurmel der Reiter und zu Fuß Gehenden, sogar Vogelzwitschern, wie sie es auf der ganzen Reise bisher noch nie so deutlich vernommen hatte. Walthers Pferd schnappte nach dem ihren; das brach den Bann.
»Da Christus, unser Herr, aus dem Haus Davids stammt«, entgegnete Walther, »wäre es in der Tat anmaßend von mir, bessere Sänger anzuführen oder die Schönheit der Psalmen zu leugnen. Aber wisst Ihr, ich fand immer, dass auch das schönste Lied an Glanz verliert, wenn man stets darauf besteht, nur dieses Lied zu wiederholen und nichts Neues zuzulassen. Keiner von uns kann wie David singen. Doch wir können immer unsere eigene Stimme finden, hier und heute.«
Es war, als hätte er das überbordende Wasser eines Stroms nach einem Gewitter in einen neuen Kanal gelenkt, und wie kunstfertig er das getan hatte, bemerkte sie erst, als sie auf seiner Stirn kleine Schweißperlen stehen sah, während sein Mund lächelte. Auch Walther musste Angst haben. Aber er hatte trotzdem seine Worte so gesetzt, dass dem Bischof eine Brücke zu einer Diskussion über Dichtkunst gebaut war.
Wolfger betrachtete sie noch einen Moment länger, dann sagte er: »Nun, solange Eure Stimme Worte spricht, die Gott genehm sind, Herr Walther, ist das ein löbliches Unterfangen.« Er nickte Judith zu. »Ich werde Eurer Herrin die Psalmen zukommen lassen.«
An diesem Abend kamen sie in Nürnberg unter, wo Irene als zukünftiger Schwägerin des Kaisers die Kaiserpfalz zur Verfügung stand. Da Judiths Kräuter inzwischen ihre Wirkung zeigten, wäre Irene, die stark blutete, am liebsten sofort im Bett verschwunden, doch eine kleine Gesandtschaft der wichtigsten Bürger von Nürnberg machte ihre Aufwartung. Also ließ sie sich von Judith mit Rosenwasser einreiben und von ihren Mägden neu einkleiden; dann empfing sie die Herren, von denen die meisten Kaufleute waren. Einer von ihnen schaute während der vorgetragenen guten Wünsche, Versicherungen der innigen Verbundenheit von Nürnberg mit dem Haus Hohenstaufen und anderen erbaulichen Gedanken öfter zu Judith hinüber, die mit den Mägden im Hintergrund stand. Etwas an ihm kam ihr vertraut vor, doch sie hätte es nicht beschwören können. Da sie in Gedanken immer noch beim Bischof und Walther war, erwies sich der Versuch, die Erinnerung aus ihrem Gedächtnis zu locken, als fruchtlos.
Als sich die Gesandtschaft wieder verabschiedete, bat der Mann, dessen Haar sie an eine Mischung aus Pfeffer und Salz erinnerte, um Verzeihung, während er als Letzter seiner Gruppe auf der Schwelle stand, und fragte, ob die Dame in Schwarz vielleicht aus Köln stamme. An seinem Akzent war sofort zu hören, dass er ebenfalls vom Rhein kommen musste.
»Das tut sie in der Tat«, erwiderte Irene und fügte leicht gereizt hinzu, wenn der Nürnberger Judith mit einem Lied beehren wolle, so möge er das nicht in ihrem Gemach tun, wo sie nun Ruhe zu haben wünsche. Leichte Verwirrung stand in den Zügen des Kaufmanns geschrieben, doch Judith nickte und begleitete ihn nach draußen. Sie wusste immer noch nicht, wer er sein konnte, doch jedes Rätsel war besser, als Zeit zum Grübeln zu haben.
»Bist du«, fragte der Mann unvermittelt in der Sprache ihrer Kindheit, jenem mit hebräischen Worten versetzten Deutsch, »die Tochter von Rebecca bar Menasse und Josef ben Zayn?«
Es war das erste Mal, dass sie den Namen ihres Vaters wieder ausgesprochen hörte, seit sie die Alpen überquert hatte. Sie versuchte, den Kloß in ihrer Kehle hinunterzuschlucken. »Das bin ich. Wer …«
»Ich war Avram ben Menasse«, sagte er, »und wurde Stefan von Köln. Du siehst deiner Mutter überaus ähnlich, Nichte.«
Der verlorene Onkel. Sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Dann wurde ihr bewusst, unter welchen Umständen sie hier war und was er annehmen musste, da Irene sie als »die Magistra Jutta« bezeichnet hatte, und sie beugte ihr Haupt.
»Sie hat stets nur mit Zuneigung von dir gesprochen, Onkel«, sagte sie leise, und das Wort klang fremd und voll Verwunderung. »Nicht oft, denn mein Vater billigte es nicht, wenn dein Name fiel. Doch manchmal sprach sie von dir, wenn sie von ihrer Kindheit erzählte, und nur im Guten.«
»Sie war eine liebevolle Schwester«, sagte er und seufzte. Wie sich herausstellte, war er hier, weil der Kölner Kaufmann Gerhard Unmaze, mit dem er häufig zusammenarbeitete, mit einem der Nürnberger Kaufleute eine Allianz eingehen wollte. Selbst ihr war der reiche Gerhard ein Begriff; es gab in Köln keinen berühmteren Kaufmann.
»Bei einem solchen Gönner hast du Glück, Onkel.«
»Mein Freund Constantin hat die Bekanntschaft vermittelt«, sagte er und stockte sofort wieder. Sie wusste, weswegen: Constantin war der Münzmeister von Köln und entstammte einer Familie Abtrünniger. Sie hatte keine Ahnung, ob es Constantins Eltern oder die Großeltern waren, die sich hatten taufen lassen, doch getauft waren sie, und jedem Juden in Köln war bekannt, dass der Münzmeister tatsächlich zur christlichen Messe ging und bei den Zunftessen Schweinefleisch aß. Nach einer kleinen Pause fuhr ihr Onkel fort: »Constantin ist auch mein Schwager; meine Gemahlin Martha ist seine Schwester.«
Sie fragte sich, ob das einer der Gründe für seinen Übertritt gewesen war, doch das war nichts, was man bei einer ersten Begegnung fragen konnte. Es war schwer, in ihm ihre Mutter zu sehen, doch je länger sie ihn betrachtete, desto mehr fielen ihr Kleinigkeiten auf, die übereinstimmten: die Form der Ohren, etwas um die Augen, sogar die Art, wie er Worte betonte.
»Hast du auch Kinder, Onkel?«
»Zwei.« Er erzählte von einem Sohn und einer Tochter, bis wieder die unbehagliche Stille von Fremden, die einander kennen sollten, zwischen sie fiel. Sie hätte von sich selbst erzählen können, von Salerno, vom Tod ihres Vaters, und vielleicht wartete er darauf, doch sie scheute davor zurück. Stattdessen fragte sie ihn, warum er der Prinzessin seine Aufwartung gemacht hatte, wenn er nur ein Gast hier in Nürnberg war.
Er zögerte. »Es … hat nicht unbedingt etwas mit der Prinzessin zu tun. Sag, weißt du, wo der Bischof von Passau untergebracht wurde? Ihm wollte ich eigentlich meine Aufwartung machen.«
Sie konnte nicht verhindern, dass sie zusammenzuckte. »An deiner Stelle wäre ich vorsichtig bei einem solchen Unterfangen, Onkel«, sagte sie, doch kaum hatte sie den Mund geöffnet, da bereute sie es schon wieder. Ihr Onkel war ein Christ, und es war anmaßend von ihr, anzunehmen, er sei es nur um äußerer Vorteile wegen. Wenn er ein gläubiger Christ war, dann gab es nichts, was er von Wolfger zu befürchten hatte.
»Oh, ich bin den Umgang mit Bischöfen gewohnt«, sagte er beruhigend. »Seine Gnaden plant gerade einen neuen Dom in Köln, und so hat der Erzbischof wiederholt große Vorhaben mit Gerhard besprochen. Auch Constantin besucht ihn ständig. Deswegen … nun, das tut nichts zur Sache. Sag mir, wie bist du Magistra bei einer Byzantinerin geworden?«
»Ich weiß nicht, ob ich wirklich ihre Magistra bin oder sein möchte«, sagte Judith; es tat gut, dies laut auszusprechen. Ehe ihr Onkel sie fragen konnte, was sie damit meinte, hörten sie Schritte, und wenig später tauchte Walther auf, ein Buch in Händen, bei dem es sich mutmaßlich um die Psalmen handelte.
»Der Kaufmann Stefan aus Köln«, sagte sie, ohne etwas von ihrer Verwandtschaft zu erwähnen. Walther schenkte ihrem Onkel nicht mehr als einen knappen Gruß; er war in Gedanken offensichtlich mit etwas ganz anderem beschäftigt.
»Magistra«, sagte er, »auf ein Wort.«
Nun war es Stefan, der die Stirn runzelte, wie einst Vetter Salomon. »Seid Ihr …«
»Herr Walther ist ein Sänger und wird Euch gerne zum Bischof führen«, sagte Judith hastig, doch dieser Versuch, gleichzeitig um eine Erklärung und ein Gespräch mit Walther herumzukommen, fiel auf dürren Boden und fruchtete nicht.
»Erst muss ich mit Euch unter vier Augen sprechen, Magistra.«
»Seid Ihr mit der Magistra verlobt?«, fragte ihr Onkel mit mehr Nachdruck.
»Herr Walther leidet an stetem Durchfall«, sagte Judith, weil das Letzte, was sie sich wünschte, eine Auseinandersetzung zwischen ihrem Onkel und Walther war. Nichts, was dabei offenbart werden konnte, würde jemandem nutzen; im Gegenteil, es würde nur Schaden anrichten und verletzen. »Das ist nicht gut in seinem Gewerbe, also mische ich ihm jeden Abend einen Trank dagegen. Vielleicht empfängt der Bischof dich jetzt, gehe einfach im nächsten Gang bis zur zweiten Tür rechts. Ich werde derweilen mit Herrn Walther die Küche besuchen.«
Die meisten Männer hätten sich wegen der Natur dieser Ausrede in ihrer Würde gekränkt gefühlt, doch Walther scherzte selbst über die merkwürdigsten Dinge. Daher war Judith nicht überrascht, als er leichthin meinte, die Geschichte mit den Halsschmerzen habe ihm besser gefallen. Aber dann verlor er jeden Anflug von Humor, als er sie hinter eine Balustrade zog. »Wart Ihr heute Morgen nicht ganz bei Trost? Der Bischof ist kein Student, mit dem Ihr streiten könnt!«
»Ich habe nicht mit ihm gestritten. Ich bin nur nicht vor ihm gekrochen. Aber ich kann schon verstehen, warum Euch das ein Rätsel ist«, sagte sie, obwohl ihr bewusst war, dass sie log. Sie hatte ein wenig mit Worten gespielt, mehr nicht; es war ein Kriechen gewesen, aber wenn ihr das Gespräch etwas klargemacht hatte, dann, dass sie nicht den Mut besaß, ihr eigenes Leben für ihren Glauben in Gefahr zu bringen. Es war schlimm, sich das einzugestehen.
»Es ist mir ein Rätsel, weil ich Euch bisher für eine kluge Frau gehalten habe«, sagte er wütend. »Der Bischof ist alles andere als dumm. Er mag jetzt noch andere Dinge im Kopf haben, doch ehe er zum Kreuzzug aufbricht, wird er ganz gewiss noch die Zeit finden, Herzog Philipp darauf aufmerksam zu machen, dass seine Gemahlin keine jüdische Ärztin haben sollte. Dann könnt Ihr gleich nach Salerno zurückgehen.«
Das konnte sie nicht, doch davon wusste er nichts. Er meinte es gut, aber das half Judith nicht gegen den Ärger, der in ihrem Herzen festsaß und bei dem Wort Kreuzzug aufplatzte wie eine Wunde voller Eiter. Besser war da schon der Zorn auf ihn und seinen Bischof als die Abscheu vor sich selbst, weil sie im Grunde doch genau wie er ein Feigling war. Noch dazu hatte sie sich von ihm umarmen und seine dummen Verse in ihren Kopf eindringen lassen, als sei sie ein kicherndes kleines Mädchen, dem jemand Gänseblümchen überreichte.
»Hört endlich auf, so zu tun, als wäret Ihr meinetwegen besorgt!«, stieß sie hervor. Er stand direkt vor ihr, so nahe, dass sie schon wieder seine Sommersprossen zählen konnte, und sie war ärgerlich auf ihn. Gerade jetzt schien er ihr alles zu verkörpern, was falsch an dieser Welt war. »Wisst Ihr, was Euch wirklich kümmert? Dass dieser Bischof sich fragen könnte, was Ihr mit mir zu schaffen habt, und Eurem Herzog empfiehlt, seine Gunst lieber singenden Rittern zu schenken, die sich ausschließlich ihren Schlächtereien widmen, statt hin und wieder einer Jüdin Kuhaugen zu machen!«
Das war verletzend, vielleicht sogar unrecht, und sie wusste es. Einen Moment lang war der Ausdruck seiner Augen der eines Patienten, dem ein Pfeil mit Widerhaken aus dem Fleisch gezogen wurde; sie streckte unwillkürlich die Hand aus, nur, um sie sofort wieder zurückzunehmen, denn er war nicht ihr Patient. Seine Miene versteinerte, und zum ersten Mal hörte sie in seiner Stimme etwas Bösartiges, als er ihr antwortete: »Ihr habt recht. Ich mache mir wirklich Sorgen um meinen Ruf, denn wisst Ihr, ich möchte, dass die Menschen glauben, dass ich einen guten Geschmack habe.«
Das war gemein und tat weh, doch statt sich umzudrehen und zu verschwinden, wie es das Vernünftigste gewesen wäre, spielte ihr Gedächtnis Judith einen Streich: Es erinnerte sie daran, wie befriedigend es gewesen war, ihn ins Gesicht zu schlagen, das Gefühl seiner Wange und der Bartstoppeln auf ihrer Haut. Sie hob ihre Hand, doch diesmal war er darauf gefasst und fing sie ab. Etwas fiel mit einem dumpfen Knall zu Boden; es musste der Psalter des Bischofs sein. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie zwischen ihm und der Balustrade stand, erst, als er ihr Handgelenk wieder losließ, nur, um beide Hände links und rechts von ihrem Kopf gegen die Säule zu stemmen, nur, um sich vorzubeugen, bis seine Lippen die ihren fanden.
Ihr Mund öffnete sich. Um zu atmen, dachte Judith, und dann dachte sie überhaupt nichts mehr. Was in ihr brannte, musste Hass sein, Hass, der sich fortsetzte in Feuer. Wie lange es brannte, wusste sie nicht, doch irgendwann schmeckte sie Blut und begriff, dass sie ihn gebissen haben musste. Sie riss sich los und stieß ihn zurück. Diesmal sagte keiner von ihnen etwas, während ihr Atem sich langsam wieder beruhigte. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Haut brannte, überall, wo er sie berührt hatte.
Schließlich straffte sie sich, wandte sich ab und kehrte zu Irenes Gemach zurück. Er folgte ihr nicht.
Judith traf ihren Onkel wieder, als sie mit Lucia zur Küche kam, um dem Kind etwas zu essen zu besorgen. Offenbar hatte er dort auf sie gewartet. Sein Gesicht erhellte sich, als er sie in Gesellschaft einer Frau statt Walthers sah. Sie stellte Lucia und den kleinen Giovanni vor und hörte von Stefan, dass sein Geschäft mit dem Bischof von Passau bereits erledigt sei.
»Allerdings werde ich nun nach Köln zurückkehren müssen«, fügte er hinzu, räusperte sich und fuhr fort: »Es ist mir bewusst, dass ich für dich ein Unbekannter bin, doch du bist die Tochter meiner Schwester, und wenn ich dich vorhin recht verstanden habe, weilt dein Vater nicht mehr unter den Lebenden. Vermählt bist du auch nicht. Kurzum, es wäre mir eine Freude, dich in meinem Haushalt in Köln aufzunehmen.«
Es rührte sie, denn er wusste nichts von ihr, als dass ihr Vater ihn für unwürdig befunden hatte, sein Haus zu betreten. Stefan musste ihre Mutter wirklich sehr geliebt haben. Vielleicht, dachte Judith, während er ihr ein hoffnungsvolles Lächeln schenkte, sind er und seine Familie einsam? Für die jüdische Gemeinde von Köln waren sie Abtrünnige. Ob die Christen, mit denen er geschäftlich zu tun hatte, ihn wirklich als Freund betrachteten und ihn ohne sein Geld in ihrer Gemeinschaft aufgenommen hätten, war dahingestellt. Vielleicht konnte es keine Freundschaft zwischen Juden und Christen geben? Judith ertappte sich dabei, wie sie mit dem Handrücken über ihre Lippen fuhr. Es musste sie geben zwischen Menschen und Menschen, egal zu welchem Gott sie beteten.
»Verzeih«, erwiderte sie, »es überrascht mich nur so sehr …«
»Du hast auch gesagt, dass du nicht weißt, ob du die Magistra der Byzantinerin sein möchtest«, sagte Stefan leise. Lucia, die inzwischen wohl so viel Deutsch verstand wie Irene, warf ihr einen überraschten Blick zu.
Eigentlich war sein Angebot ein Gottesgeschenk: Hatte sie sich nicht schon seit Wochen gewünscht, wieder Patienten zu haben, wirkliche Patienten, nicht nur ein einsames adliges Mädchen, dem im Grunde nichts fehlte? War der Bischof heute Morgen nicht ein warnendes Beispiel dafür gewesen, wie ihr Leben sein würde, wenn sie weiter in dieser Umgebung blieb, ein ständiges Spiel von Angst und Verstellung? Außerdem wusste sie genau, was sie absolut nicht wollte, und das war, Walther von der Vogelweide noch einmal wiederzusehen.
»Das ist wahr«, gab Judith zurück. »Aber ich bin eine Magistra und will nichts anderes sein. Wenn ich in deinem Haus lebe, Onkel, dann nur als Ärztin.« Dies klarzustellen, war wichtig, denn Vetter Salomon hätte ihr gewiss verboten, mehr als die aufgeschlagenen Kinderknie des Haushalts zu versorgen. Außerdem musste sie noch etwas anderes zurechtrücken. »Es ist außerdem so, dass ich nicht dem christlichen Glauben angehöre, und ich will die Taufe auch nicht empfangen.«
Er schaute sie erstaunt an. Lucia gab einen kleinen Laut von sich, ein kurzes Ächzen; als sich Judith zu ihr umdrehte, sah sie, dass ihre Augen geweitet waren und ihre Lippen bebten.
»Ich werde dich auf jeden Fall mitnehmen«, sagte sie beruhigend in der Volgare, »wohin ich auch gehe, ich habe es versprochen.«
»Aber wo kann es uns bessergehen als bei einer Fürstin, wo?«, fragte Lucia bestürzt. »Wenn sie ein Kind bekommt von ihrem Herzog, dann kann mein Giovanni sein Leibdiener werden! Bitte, Magistra, wir müssen hier bleiben!«
Aus Lucias Sichtweise klang es so überaus vernünftig und einfach. Etwas über die Langweile als Leibärztin zu sagen, wäre herzlos gewesen, wenn es um Lucias tägliches Brot ging.
»Es wird uns auch in Köln nicht schlecht ergehen«, sagte Judith beschwichtigend. »Mein Vater war ein sehr geachteter Arzt dort, und gewiss werde ich bald ebenfalls einen guten Ruf haben.« So einfach würde es nicht werden, schon gar nicht, wenn sie im Haushalt eines Abtrünnigen lebte, doch solche Kleinigkeiten brauchte Lucia nicht zu wissen. Wichtig und richtig war, dass sie nicht befürchten musste, zu darben.
»Es gibt nichts Besseres, als einer reichen Fürstin zu dienen«, beharrte Lucia störrisch, und wie um ihre Meinung zu bestätigen, brach Giovanni in Tränen aus.
»Stört es dich denn nicht, dass sie den Bruder des Kaisers heiraten wird?«, fragte Judith, weil sie nicht direkter fragen konnte, ob Lucia wie Salvaggia Hass und Groll auf die ganze Familie des Mannes empfand, dessen Kriegsknechte Salerno gebrandschatzt hatten. Lucia presste die Lippen zusammen.
»Deutsch höre ich sowieso überall«, sagte sie. In ihrem Blick lag eine Herausforderung, die Judith mit einschloss. »Aber in einer schönen Pfalz ist es besser als in einem kleinen Stadthaus.«
An dem Tag, als sie ihre Magd mit sich aus Salerno genommen hatte, war das Wohlergehen Lucias und ihres Kindes Judiths Verantwortung geworden, und doch hatte sie nicht daran gedacht, als sie sich einmal mehr gefangen in ihrem Schicksal vorkam. Selbstsüchtig, dachte Judith, ich bin selbstsüchtig, doch sie brachte es nicht über sich, Lucia ihr Bleiben zu schwören.
»Es ist noch nicht gesagt, dass der Herzog seiner Gemahlin gestatten wird, mich in ihren Diensten zu behalten. Im Gegenteil, gerade heute ist mir versichert worden, dass der Bischof Jüdinnen im Dienst einer christlichen Herzogin für unpassend hält.«
»Ich bin keine Jüdin«, gab Lucia zurück, und im Gegensatz zu ihren Lippen zitterte ihre Stimme kein bisschen. »Es wird Zeit, dass ich Euch die Geschichte erzähle, weshalb ich in Euer Haus gekommen bin. Es ist nämlich nicht so, dass nur alle Deutschen, alle Kaiserlichen, alle Christen schlecht und alle Juden selbstverständlich gut sind, wie Ihr das offenbar glaubt. Ich habe im Haus eines Juden gearbeitet, und der Sohn des Herrn hat Wohlgefallen an mir gefunden, wie ich an ihm. Das ging so lange gut, bis ich schwanger wurde. Dann wollte dieser ehrenwerte Jüngling nichts mehr von mir wissen, weil ich keine Jungfrau mehr war. Wenn ich überhaupt länger im Hause hätte arbeiten wollen, dann ohne das Kind. Setze es aus, sagte er zu mir. Genauso gut hätte er sagen können, töte es, denn welches Neugeborene überlebt schon, ausgesetzt zu werden in diesen schlechten Zeiten, wo jeder froh war, genügend für seine Familie zum Essen zu haben. Aber es war mein Kind, es konnte nichts dafür, dass sein Vater sich so verhielt. Und so ging ich. Weil damals ständig Kriegsknechte in Salerno waren, glaubte jedermann, es müsse von einem Deutschen sein. Und weil ich nie von Vergewaltigung gesprochen habe, musste es demnach aus einer Liebschaft stammen. Das Gerücht hielt sich. Niemand gab mir mehr Arbeit. Bis auf Salvaggia sprach auch niemand mehr mit mir, auch nicht mein Vater, wegen der Schande. Dabei besprangen er und meine Brüder regelmäßig die eigenen Mägde, wie fast alle Männer in der Stadt, ohne je eine zu fragen, ob es genehm sei. Ich habe alles aufgegeben für meinen Sohn, und ich werde dafür sorgen, dass er das beste Leben erhält, das er bekommen kann. Nicht bei Juden, nicht bei Christen, sondern da, wo die Macht ist.«
Judith war betroffen. Sie spürte, dass Lucia nicht log; Unduldsamkeit und Selbstsucht hatte sie überall erlebt und war selbst nicht frei davon. »Nun, ich kann die Prinzessin bitten, dich in ihren Diensten zu behalten«, sagte sie abrupt und wandte sich ihrem Onkel zu. »Wenn du unter diesen Umständen nicht mehr als einen Besuch wünschst, so danke ich dir trotzdem«, sagte sie, um ihm eine Brücke zu bauen, mit der er seine Einladung umwandeln konnte.
»Als Ärztin bist du mir so willkommen wie als meine Nichte«, sagte er und schaute zu Lucia, während er den zweiten Teil ihrer Stellungnahme nicht beantwortete. Genauso gut hätte er hinzufügen können, dass er nicht vor fremden Ohren über die Frage des Christentums sprechen wollte, und sie verstand. Es wäre gewiss vernünftig, nichts zu überstürzen und über sein Angebot noch eine Weile nachzudenken. Immerhin war nicht gesagt, dass er ihrer Mutter auch vom Wesen her ähnelte. Am Ende könnte er sich als häuslicher Tyrann entpuppen, der sein Versprechen verwarf, sobald sie sich unter seinem eigenen Dach befand, und nur vorhatte, sie als billige Dienstkraft zu nutzen, wie es viele Leute, ob Juden oder Christen, mit ihren unverheirateten Verwandten taten.
Nun, wenn dem so sein sollte, dann würde sie eben ein weiteres Mal fliehen. Doch der Tross würde Nürnberg morgen wieder verlassen, und sie wusste nicht, was von ihrem Selbst noch übrig sein würde, auf das sie früher immer so stolz gewesen war, wenn sie jetzt nicht die Gelegenheit ergriff, wieder zu der zu werden, die sie sein wollte.
»Dann komm morgen hierher«, sagte sie, »und ich werde bereit sein, mit dir zu gehen.«
Mittlerweile war Irene an schlechte Nachrichten gewöhnt, und auch daran, Menschen zu verlieren. Die Magistra kannte sie erst seit einigen Monaten; es sollte sie nicht weiter kümmern, von ihr zu hören, dass sie in ihre Vaterstadt zurückkehren und nicht einmal die Hochzeit abwarten würde. Doch es versetzte ihr einen unerwarteten Schlag, auch, weil es der letzte Beweis dafür war, dass die Magistra kein Spitzel sein konnte. Sie war wirklich nur, wer sie zu sein vorgab. Zunächst war Irene versucht, mit dem Fuß aufzustampfen und zu erklären, sie gebe nicht die Erlaubnis, dass die Magistra sich entfernen dürfe, aber die Frau hatte ihr keinen Eid geschworen, noch war sie eine Sklavin, die ihr gehörte.
»So habt Ihr mich mit einer Blähung gefunden und verlasst mich blutend«, sagte Irene in dem Bemühen, sich leichtherzig über diesen plötzlichen Aufbruch zu geben, nachdem sie eingewilligt hatte, die Magd Lucia in ihren Diensten zu behalten. »Das wird Eurem Ruf schaden, Magistra.«
»Versprecht mir nur, weiter wärmende Wickel mit abgekochtem Hahnensporn zu verwenden, das wird Eure Krämpfe lösen«, gab die Magistra zurück. »Wenn Ihr dann in Frieden und gesund an der Seite Eures Gatten residiert, wird mein Ruf bis in die Sterne strahlen.«
Irene konnte nicht anders, sie musste lächeln, doch sie wurde rasch wieder ernst. »Ihr habt nicht in Frieden und glücklich gesagt«, bemerkte sie. »Das wünscht man doch den meisten Bräuten.«
»Glücklich können wir uns nur selbst machen«, gab die Magistra zurück. »Denkt immer daran, was ich Euch über Adelheid erzählt habe, die Gemahlin von Kaiser Otto. Sie hat geschafft, was noch vor Euch liegt. Alles ist machbar.«
Sie war so respektlos, Irenes Hand zu erfassen und zu drücken, als sei eine Prinzessin aus Byzanz ein trostbedürftiges Kind. Deswegen konnte Irene einer kleinen Bosheit nicht widerstehen.
»An seinem Glück selbst zu arbeiten, das meint Herr Walther auch in seinen Liedern. Oder habe ich da etwas falsch verstanden mit meinem schlechten Deutsch? Er hält das Glück für etwas, was ein Herz mit dem anderen teilen soll?«
»Ich habe nicht hingehört«, erwiderte die Magistra, was eine so offenkundige Lüge war, dass Irene kurz auflachte.
»Ihr habt mir erzählt, dass Köln eine alte Römerstadt ist. Hat sie eine kaiserliche Pfalz, und wird mein Gemahl sie mit mir besuchen?«
»Das mag wohl sein, aber Ihr werdet ihn wohl darum bitten müssen. In Köln liebt man die Staufer nicht.«
»Nun, das kann ich verstehen«, sagte Irene nüchtern. »Nur dachte ich nicht, dass man in diesem Land auch so wie jenseits der Alpen über sie denkt.«
»Das tut man nicht. Es ist nur so, dass für die Kölner der Handel mit England sehr wichtig ist, Euer Gnaden. Als der König von England aus der Gefangenschaft freikam, da hat ihm Köln einen triumphalen Empfang bereitet, ehe er wieder nach Aquitanien zurückkehrte. Aquitanien, die Bretagne, die Normandie und England selbst, alle treiben sie Wein- und Wollhandel mit Köln, und das sind nicht die einzigen wichtigen Handelsbereiche.«
»Ich verstehe immer noch nicht, was das mit den Staufern zu tun hat.«
»Die älteste Schwester des Königs von England war mit Heinrich dem Löwen verheiratet, und als der mit dem alten Kaiser Barbarossa kämpfte, da nahm Köln die Partei des Welfen, damit der Handel weiter günstig lief. Solch einseitige Parteinahme hat der neue Kaiser nicht vergessen.«
»Und Euer neu gefundener Onkel ist im Weinhandel tätig, vermute ich? Wollt Ihr deswegen nicht nach Frankfurt mitkommen, damit er keine Stauferhochzeit miterleben muss?«
Die Magistra schüttelte ihren Kopf. »Nein. Er hat eine Nachricht zu überbringen vom Bischof von Passau an den Erzbischof von Köln.« Ihr Tonfall hatte sich verändert, als sie vom Bischof sprach; er war nicht mehr belehrend, sondern so sorgfältig ausdruckslos, dass Irene neugierig wurde.
»In Wien war der Bischof sehr freundlich zu mir«, sagte sie der Wahrheit gemäß. Als die Magistra nichts zu dieser Beobachtung hinzufügte, sondern weiterhin ihr ausdrucksloses Gesicht machte, entschloss sich Irene, sie auf die Probe zu stellen. »Er bot mir an, für mich einen Brief nach Byzanz mitzunehmen«, fügte sie bedeutungsvoll hinzu, »doch mir scheint, dass eine solche Botschaft mehr als einem Zweck dienen könnte. Wisst Ihr denn, worum es in der Botschaft an den Erzbischof von Köln geht, Magistra?«
Ihre Ärztin schüttelte den Kopf und meinte, der ehrwürdige Bischof sei nicht von der Art, solche vertraulichen Einzelheiten an Boten weiterzugeben, und ihr Onkel gewiss nicht der Mann, sie zu verraten, selbst wenn das der Fall sei. Jetzt war sich Irene ihrer Sache gewiss.
»Ihr habt Angst vor ihm«, stellte sie fest. »Angst vor dem Bischof von Passau. Das finde ich erstaunlich. Vor Diepold von Schweinspeunt hattet Ihr keine Furcht, und auch vor mir nicht. Sollte ich gekränkt sein, oder wisst Ihr Dinge über den Bischof, die ihn so gefährlich machen?«
Die Magistra blickte auf ihre Hände, dann zu Irene, als müsse sie einen Entschluss fassen. »Mein Glaube ist nicht der Eure. Ich bin eine Jüdin. Deswegen fürchte ich den Bischof.«
Das kam nicht völlig überraschend. Irene war aufgefallen, dass die Magistra sich nie bekreuzigte und nie die Heiligen oder die Jungfrau Maria in ihren Redewendungen beschwor. Auch betete sie nicht vor ihren Untersuchungen, was sonst jeder Arzt tat, den Irene kannte.
»Wenn das der Grund ist, warum Ihr mich verlasst, dann hättet Ihr mir mehr vertrauen sollen«, sagte sie und machte sich nicht die Mühe, die Kränkung in ihrer Stimme zu verbergen. Natürlich waren die Juden fehlgeleitet und würden sich bekehren müssen, doch sie hätte sich nie von einem Bischof gegen eine ihrer Dienerinnen beeinflussen lassen. Nach ihrer Eheschließung würde sie selbst den orthodoxen Glauben aufgeben und den Bischof von Rom als das Oberhaupt der Kirche akzeptieren müssen; diese Forderung gehörte nicht zu den Dingen, die Irene mit ihrer Zukunft versöhnten, weshalb sie den weströmischen Bischöfen nicht unbedingt warm gegenüber gestimmt war.
»Es ist nicht der Grund«, antwortete die Magistra sachte. »Euer Gnaden, Ihr seid gesund, und das wird, wie ich hoffe, noch lange so bleiben. Ich aber bin eine Ärztin. In einer Stadt wie Köln gibt es immer viele Menschen, die Hilfe benötigen.«
Etwas in Irene schrie: Bin ich Euch denn so zuwider, dass Ihr lieber rülpsende Weinhändler, Steineklopfer, Zimmerleute und Fischweiber verarzten wollt, als bei mir zu bleiben? Aber das wäre ein demütigendes Eingeständnis, mehr für eine Frau zu empfinden, die tief unter ihr stand, als sie sollte. Eine Erinnerung flackerte in ihr auf, an ihren Vater, wie er einen Günstling, der ihn verraten hatte, als monophysitischen Irrgläubigen an den Patriarchen von Konstantinopel übergab. Er war nie mehr aufgetaucht. Einen Moment lang fragte sie sich, was die Magistra wohl tun würde, wenn Irene nach den Wachen rief und sie beschuldigte, ihr Gift eingeflößt zu haben. Es wäre so einfach: Sie hat meinen Monatsfluss herbeigerufen, obwohl es nicht meine Zeit ist. Sie ist eine jüdische Giftmischerin.Es gab niemanden, der Irene daran hindern könnte. Nichts als die Gewissheit, dass es ein Unrecht wäre.
»Dann geht zu ihnen«, sagte sie heftig. »Zu den Menschen, die Euch brauchen.«
Die Magistra wagte es tatsächlich, zu ihr zu treten und ihr wie einem kleinen Mädchen über die Haare zu streichen, die bald für immer unter einer Haube verborgen sein würden.
»Wenn Ihr mich braucht, Euer Gnaden, dann schickt Nachricht in das Haus des Kaufmanns Stefan in Köln, und ich werde zu Euch kommen. Das verspreche ich Euch.«