Kapitel 21
Was Philipp am meisten im Magen lag, war, dass es ihm entschieden an geistlichen Fürsten mangelte. Der Bischof von Mainz, der nicht nur der Erzkanzler des Reiches war, sondern eigentlich auch derjenige, der zur Wahl eines deutschen Königs laden sollte, ließ sich mit seiner Rückkehr aus dem Heiligen Land ungewöhnlich lang Zeit, und Adolf von Köln hatte sich zu seinem Stellvertreter erklärt. Außerdem hatte er den Erzbischof von Trier für sich gewonnen, indem er ihm den gesamten Kölner Kirchenschatz verpfändete, weil auch die Hilfe und das Geld seiner Kölner Kaufleute nicht unbegrenzt waren. Der Bischof von Straßburg stand ebenfalls an der Seite von Adolf und wollte wie dieser den Zähringer als König sehen.
Damit durfte es nun aber wohl vorbei sein; nach der Flucht der Geiseln sollte auch Adolf klar sein, dass er in Herzog Berthold keinen willigen Thronanwärter hatte. Trotzdem war Philipp nicht undankbar für das Erscheinen der beiden jungen Männer an seinem Hofe: Sie ermöglichten es ihm, die eingeplanten Kosten für Bertholds Unterstützung etwas zu senken. Eine Burg war eine Burg, und die Feste seines Bruders Konrad nicht zur Zerstörung freigeben zu müssen, erhielt ihm nicht nur einen Stützpunkt, sondern ersparte ihm auch die Kosten des Wiederaufbaus. Außerdem schwor Heinz von Kalden, dass man nach Lage der Dinge um einen Angriff auf Andernach früher oder später nicht herumkommen würde, und die beiden Geiseln waren mit einem Söldner aufgetaucht, der dort gedient hatte. Das war alles sehr nützlich – nur an dem Mangel an hochrangigen Klerikern auf seiner Seite änderte es nichts.
Auf Wolfger von Passau würde er gewiss zählen können, aber der war immer noch in Italien. Der einzige Rheinländer, der nicht auf Seiten Adolfs stand, weil er es satthatte, immer im Schatten von Köln und Trier zu stehen, war Bischof Lupold von Worms, aber der allein genügte nicht. Philipp versuchte noch, Bischöfe zu ködern, indem er anbot, zukünftig auf das Erbe verstorbener Priester zu verzichten, was dem Kaiser schon ewig zustand, musste aber erfahren, dass dieses Angebot auch von Otto gekommen war.
Eine glückliche Idee kam Philipp, als er sich seiner Zeit als gewählter Bischof von Würzburg entsann. Natürlich war er zu jung gewesen, um das Amt auszuüben, doch man hatte ihn damals über die wichtigsten Anliegen des fränkischen Klerus unterrichtet. Wichtiger noch in der Kirchenhierarchie als das Bistum Würzburg war das Erzbistum Bamberg. Die Bamberger hatten seit Jahr und Tag den Wunsch, die in ihrem Dom bestattete Kaiserin Kunigunde heiliggesprochen zu wissen. Der derzeitige Erzbischof Thiemo war vor zwei Jahren sogar eigens nach Rom gepilgert, um beim Papst für die Heiligsprechung Kunigundes zu bitten. Soweit Philipp wusste, hatte Coelestin zwar unverbindliche Versprechungen gemacht, aber wirklich geschehen war nichts. Es wäre nur billig, wenn ein Erzbischof im Austausch für eine heilige Kaiserin als Stadtpatronin einem Herzog zur Königskrone verhalf. Wenn Bamberg für Philipp stimmte, dann würde er als König der Deutschen und baldiger Kaiser des Heiligen Römischen Reiches seinen ganzen Einfluss dafür einsetzen, Kunigunde heiligsprechen zu lassen. Er hatte Spaß an diesem Gedanken; dergleichen würden die Welfen Thiemo ganz bestimmt nicht anbieten. Er beauftragte auch sofort seinen Beichtvater, Erkundigungen bei anderen Bistümern einzuholen, die sich noch nicht festgelegt hatten, ob es vergleichbare Wünsche gab.
Um aber als König regieren zu können, waren das immer noch zu wenige geistliche Fürsten. Bei den weltlichen hatte Heinz von Kalden gute Fortschritte erzielt. Der Herzog von Sachsen und der Zähringer waren die wichtigsten, da sie selbst damit als Rivalen wegfielen. Der Herzog von Bayern hatte nicht die geringste Absicht, sich im Fall einer Welfenwahl seines Herzogtums beraubt zu sehen, das einst Heinrich dem Löwen gehört hatte. Dietrich von Meißen hatte seine Markgrafschaft erhalten und konnte eigentlich von Otto nicht mehr erwarten, aber sein Schwiegervater, Hermann von Thüringen, hatte bereits Botschaft geschickt, noch ehe er die Alpen überquert hatte, dass er sich an seinen ihm in Frankfurt abgenommenen Eid an den jungen Friedrich gebunden fühle und greifbarere Argumente benötigte, um seine Meinung zu ändern, was bisher die hartnäckigste Art von Geldforderung war, die Philipp erhalten hatte.
»Er glaubt, dass er es sich bei Euch leisten kann«, sagte Heinz von Kalden. »Lasst mich zwei seiner Städte oder eine seiner Burgen brandschatzen, dann hält er Euch nicht mehr für ein Leichtgewicht. Das Gleiche gilt für die anderen Fürsten auch.«
»Ihr wollt, dass ich meine Herrschaft damit beginne, Städte und Burgen zu verwüsten?«, fragte Philipp bestürzt.
»So ist der Krieg nun einmal. Wir tun es, die Welfen tun es, die Engländer, die Franzosen, alle tun es. Wie wollt Ihr Euch sonst einen Krieg leisten, wenn Ihr nicht Schulden machen möchtet? Ohne Beute gibt es keine Kriegsknechte, dafür aber Loch auf Loch in Eurer Schatzkammer. Die Juden kann man auch nur alle fünfzig Jahre einmal schröpfen. Wenn Ihr Euch nicht jahrelang mit aufständischen Fürsten herumschlagen wollt, gibt es keinen anderen Weg. Vor Eurem Bruder hatte jeder Angst, weil allen klar war, dass er wirklich der Sturm aus Schwaben war und es nichts gab, was ihn aufhalten konnte, wenn er einmal losbrach. Bei Euch muss es auch so werden.«
Er dachte an Montefiascone und den unverschleierten Hass der Menschen, der ihm bisher nur als dem Bruder Heinrichs gegolten hatte. Wer war es noch gewesen, der erklärt hatte, Mögen sie mich hassen, solange sie mir nur gehorchen, oder Es ist besser, gehasst zu werden, als geliebt und verraten – etwas in der Art? War es der römische Kaiser Tiberius gewesen? Philipp erinnerte sich an das Skriptorium, das Gefühl, vorsichtig mit den Fingerspitzen auf den Seiten die Worte von Tacitus oder Sueton zu verfolgen, die ein Bruder sorgfältig abgeschrieben hatte. Damals hatte er es nie für möglich gehalten, sich je fragen zu müssen, ob Tiberius recht gehabt hatte.
»Wenn ich erst gewählt, gekrönt und ein gesalbter Herrscher bin, dann wird es Sünde sein, gegen mich aufzustehen«, sagte Philipp. »Vor allem, wenn es uns gelingt, den neuen Heiligen Vater zu einem deutlichen Wort dafür zu bewegen. Das wird die Fürsten schnell in ihre Schranken weisen.«
»Kein Papst mag je einen Staufer leiden«, zitierte der Reichshofmarschall das Sprichwort, das Philipps Familie verfolgte.
»Der Grund dafür ist nicht mehr da«, gab Philipp zurück. »Konstanze hat klargemacht, dass sie ihren Sohn nur als König Siziliens und ihren Erben, nicht als Erben meines Bruders zu sehen wünscht und alle Verbindungen zum Reich beendet. Damit braucht der Heilige Vater auch nicht mehr zu befürchten, das Patrimonium Petri in unserem Reich eingesperrt zu sehen. Er hat keinen Grund, mein Feind zu sein.«
»Aber auch keinen, um Euer Freund zu werden, nicht bei der Anzahl von Bischöfen, die der Kölner jetzt schon auf seine Linie eingeschworen hat«, sagte Heinz von Kalden.
Das brachte Philipp wieder zum Kern seines Problems. Er ertappte sich dabei, dass er mit Irene darüber sprach. Ihr Vater hatte den Kaiser vor ihm gestürzt, und obwohl er nichts über die inneren Angelegenheiten der oströmischen Kirche wusste, ging Philipp davon aus, dass Isaak Angelos einen Weg gefunden haben musste, um sich mit dem Patriarchen von Konstantinopel und den Bischöfen seines Reiches gut zu stellen.
»Mein Vater ist durch einen Volksaufstand Kaiser geworden, den er geschürt und gesteuert hatte«, sagte Irene, »und er hat Andronikos Kommenos der Menge übergeben, die ihn tötete. Dann verheiratete er all seine Schwestern und Nichten mit Königen und heiratete selbst die Tochter des Königs von Ungarn. Der Patriarch wagte nicht, anders zu handeln, als ihn zu unterstützen. Aber jetzt unterstützt er wohl meinen Onkel.«
Sie klang eher sachlich als bitter, doch der Ausdruck in ihren Augen war zu alt für sie; ihre Hand ruhte auf ihrem Leib. Philipp fragte sich, ob sie fürchtete, dass es für ihr ungeborenes Kind eines Tages auch ein blutiges Ende geben könnte. Was sie von ihrem Vater erzählte, war natürlich nicht für ihn anwendbar. Er war schon verheiratet, und seine Brüder waren tot. Die Vorstellung, Volksaufstände zu entfachen und seine Feinde der Menge zu übergeben, war gleichzeitig lächerlich und entsetzlich; natürlich konnte so etwas nie im Reich geschehen. Die Bauern durften keine Waffen tragen. Wer trotzdem eine solche hatte, wurde gehängt. So musste es auch bleiben.
»Nun, leider habe ich keine Schwester, die ich mit Otto verheiraten könnte, um ihn davon abzubringen, sich für die Krone zur Wahl zu stellen«, sagte er, »und wenn der Erzbischof von Köln Angst vor mir hätte, wäre er nie auf die Idee gekommen, selbst den König bestimmen zu wollen.«
Vielleicht hat Heinz von Kalden recht, dachte Philipp und versuchte, den Gedanken wieder zu unterdrücken, aber er war einmal gedacht und senkte sich in sein Herz.
»Aber Otto ist noch nicht verheiratet«, gab Irene zu bedenken, »und es sollte mich wundern, wenn die Fürsten, die nicht den Herzog von Zähringen oder dich auf dem Thron sehen wollen, ihm nicht schon jetzt alle weiblichen Verwandten anbieten.«
Er verstand nicht ganz, worauf sie hinauswollte, und nickte verwundert.
»Hat der Landgraf von Thüringen Töchter?«
»Zwei. Eine von ihnen ist mit dem Markgrafen von Meißen verheiratet, aber die andere … nun, es sähe Hermann durchaus ähnlich, sie anzubieten, doch ich glaube, da überschätzt er sich. Thüringen ist wichtig, aber Ottos Mutter ist die Schwester eines Königs, und er ist am Hof eines Königs aufgewachsen. Die Welfen sind stolz. Ich wette, er hält nur eine Königstochter seiner würdig.«
»Sein Bruder hat deine Base Agnes geheiratet«, stellte Irene fest.
»Nun, sie ist auch die Base eines Kaisers gewesen«, sagte Philipp mit einem Lächeln, das rasch verblasste. Der Pfalzgraf Heinrich und seine Ehe mit Agnes konnten noch von Vorteil sein, wenn Walther von der Vogelweide mit seiner Bemerkung über brüderliche Eifersucht recht hatte. Doch der Pfalzgraf konnte genauso gut darauf hoffen, dass ihm sein Bruder Otto das gesamte alte Herzogtum der Welfen verschaffen würde, statt dass er sich weiterhin nur mit Braunschweig abfinden musste. Vielleicht hoffte er sogar auf Schwaben, denn dass ein König und Kaiser Otto seinen Gegner Philipp im Besitz der staufischen Erblande lassen würde, war mehr als unwahrscheinlich.
»Wenn es keine Welfen gäbe«, fragte Irene, »und weder der Herzog von Zähringen noch der von Sachsen zur Verfügung stünden, wem würde der Erzbischof von Köln wohl dann als Nächstem die Krone antragen? Den Herzögen von Österreich oder denen von Bayern?«
»Nein, diese Herzogtümer wurden von uns Staufern geschaffen, und für die Rheinländer ist es schon schlimm genug, wenn ein Schwabe regiert. Einen Bayern werden sie nie ans Ruder lassen, außerdem hat der am meisten zu verlieren, sollte ein Welfe wieder Anspruch auf das Herzogtum seines Vaters erheben. Anders wäre es aber mit dem Brabanter. Der Herzog kann seine Abstammung bis zu Karl dem Großen nachweisen. Er ist immer noch im Heiligen Land, Gott segne ihn, denn das bedeutet, dass er mir hier nicht im Magen liegen kann; die einzige Botschaft, die ich von ihm erhalten habe, kam direkt nach Heinrichs Tod und besagte, dass er sich nach wie vor berufen fühlt, für die Sache Christi zu fechten. Das ist ein Glücksfall. Er ist so reich wie der Zähringer und könnte Adolf bestimmt den Preis bezahlen, den er haben will.«
»Hat er eine Tochter?«
Nachdem ihn sein Bruder aus dem Kloster geholt hatte, war Philipp in Windeseile mit den Namen von allen in Frage kommenden reichen Erbinnen vertraut gemacht worden, ehe der Bescheid aus Italien eingetroffen war, dass eine byzantinische Prinzessin zur Verfügung stand. Er nickte. »Aber wenn ihr Vater im Heiligen Land ist, kann sie nicht verheiratet werden. Wer sollte die Verhandlungen für sie führen?«
»Ihre Mutter«, sagte Irene nachsichtig.
Philipp, der kaum Erinnerungen an seine eigene Mutter hatte, war von dieser so offensichtlichen Möglichkeit betroffen. Eine Ehe mit einer der Erbinnen von Brabant würde Otto die Unterstützung eines der wichtigsten Fürsten und vor allem dessen Geld sichern, zusätzlich zu dem, was auch immer die Kölner Kaufleute für ihn aufbringen würden. Er fluchte und entschuldigte sich dafür bei Irene.
»Es gäbe eine Möglichkeit, herauszufinden, ob die Herzogin Verhandlungen mit dem Welfen führt«, sagte Irene. »Vielleicht sogar eine Möglichkeit, sie zu verhindern.«
»Ich bezweifle, dass selbst Heinz von Kalden so schnell einen Spion am Hof von Brabant unterbringen kann, und die Herzogin hat keinen Grund, auf mich zu hören, wenn ich ihr rate, keine welfische Ehe für ihre Tochter zu schließen.«
»Hmm«, machte Irene. Etwas in ihrem Gesichtsausdruck machte ihn neugierig. Sie erinnerte ihn an die Katze des Abtes, der ihn aufgezogen hatte, wenn es ihr gelungen war, etwas von der Milch zu naschen, ehe ihr davon gegeben wurde. »Bevor man mich verheiratet hat«, sagte seine Gemahlin, die einen kaiserlichen und einen königlichen Hof überlebt hatte, »da bestand König Tankred darauf, mich von einem seiner Ärzte untersuchen zu lassen. Dein Bruder hat ebenfalls wissen wollen, ob ich gesund war, ehe er mich aus Sizilien zu dir schickte. Was wäre natürlicher, als wenn auch der Tochter des Brabanters ein Medicus geschickt würde? Und gar eine der Frauen aus Salerno? Oh, ich bin sicher, mein Gemahl, die Herzogin von Brabant wird sie empfangen.«
* * *
Walther und Martin gelang es, sich wieder einer Pilgergruppe anzuschließen. Doch Martin ging es schlechter. Selbst starker Wein konnte ihn nur bedingt von seinen Schmerzen ablenken. »Ich glaube nicht, dass ich es bis Salerno schaffe.«
»Es gibt gute Ärzte außerhalb Salernos. Es gibt sogar Ärzte aus Salerno außerhalb Salernos«, sagte Walther, um ihn aufzumuntern. »Ich kenne eine.«
»Eine Frau? Wie gut kennst du sie?«, fragte Martin und ließ seine Augen vielsagend wackeln. Selbst heftige Schmerzen und wunde Glieder trieben ihm nur selten den Appetit auf Scherze und Zoten aus.
»So gut, dass sie mir schon einmal den Hals umdrehen wollte«, entgegnete Walther. Natürlich zog Martin die falsche Schlussfolgerung und lachte, obwohl sein Lachanfall rasch zu einem Husten wurde, weil er sich verschluckt hatte.
»Es gibt schlimmere Dinge, die eine Frau einem Mann umdrehen kann! Sag, ist sie wirklich eine der Frauen aus Salerno? Eine Ärztin?«
»Das ist sie. Hat sogar die zukünftige Kaiserin behandelt, du Tropf, da wäre sie gerade gut genug für dich.«
»Das mag ja sein«, sagte Martin, »aber sie ist nicht hier. Wo lebt sie denn?«
»In Köln«, musste Walther zugeben, denn genauso gut hätte sie im Paradies leben können; so grau und fahl, wie Martin aussah, würde er es nicht noch einmal über die Alpen schaffen.
»Dann hoffe ich, dass der Papst mir vergibt. Ich muss es noch bis Rom schaffen, Walther, hörst du das?«
Nicht zum ersten Mal kam Walther in den Sinn, was er Martin vorgeschlagen hatte, als sein Reisegefährte anfing, seine Freude an guten Mahlzeiten und dem Lächeln der Frauen zu verlieren. Wenn Martin so sehr Absolution für seine Bettelmönchlügen wollte, dann war es doch sehr viel einfacher, dem nächsten Mönch oder gar einem Abt in einem der Spitäler zu beichten, in denen Reisende untergebracht wurden, und von diesem seine Buße auferlegt und seine Absolution zu bekommen.
»Du verstehst das nicht, Bruder«, sagte Martin. »Diese Pilgerfahrt nach Rom ist meine Buße. Wenn ich sie vorzeitig beende, dann fahre ich zur Hölle, das weiß ich gewiss.«
Was Walther nicht verstand – der selbst die Wahrheit oft so zurechtbog, dass sie einen besseren Sinn ergab, oder einfach so, dass man sie missverstand, weil er sie missverstanden wissen wollte –, war, warum sich Martin keine einfachere Buße gewählt hatte. »Den Mönch zu spielen, ist doch eigentlich kein so großes Vergehen. Wenn du so getan hättest, als wärest du ein Ritter«, sagte er und richtete die Spitze seines Scherzes gegen sich selbst, auch wenn Martin das nicht wissen konnte.
»Ich habe das Sakrament der Beichte entweiht, indem ich vorgab, ein Mönch zu sein, und anderen Absolution erteilte«, murmelte Martin. »Genauso gut hätte ich das Kreuz in den Staub treten können. Das war es nicht, was ich wollte, verstehst du? Ich wollte wirklich ein Mönch sein, ein guter Mönch, aber jetzt sehe ich, dass ich entweiht habe, was mir heilig hätte sein sollen.« Seine Finger krallten sich um Walthers Arm. »Ich will nicht in der Hölle brennen!«
»Das wirst du nicht, das wirst du nicht«, beruhigte ihn Walther, der seine Angst körperlich spürte. »Aber meinst du nicht, wir sollten hier nach einem Medicus fragen?« Vielleicht konnte ein Arzt Martin Hoffnung geben, wenn er sich schon keinem Priester anvertrauen wollte.
»Nein! Eine Buße ist eine Buße. In Rom soll meine Heilung an Körper und Seele beginnen, so muss es kommen, nicht vorher.«
Sie trafen am Tag vor der Papstweihe in Rom ein. Zu diesem Zeitpunkt hatte Martin bereits drei Nächte lang nicht mehr geschlafen, weil er nur noch von der Hölle träumte, selbst wenn der Branntwein ihn betäubte.
»Gott ist gnädig«, sagte Walther und kämpfte einmal mehr gegen die aufblitzende Versuchung, Martin einfach der Pilgerschar zu überlassen. Es wäre leicht, so leicht, Martin und seiner schweißdurchtränkten Angst vor der Verdammnis zu entkommen, Martin und seinem gequälten Körper, der noch zu Beginn der Reise das Leben aus vollen Zügen genossen hatte und Walther an seine eigene Sterblichkeit erinnerte.
Doch er blieb. Er war schon einmal davongelaufen.
Walther hatte sich Rom wie Wien, Köln oder Frankfurt vorgestellt, nur etwas größer; womit er nicht gerechnet hatte, war das Wirrwarr an Sprachen. Ob nun wegen der Papstweihe oder um der Ewigen Stadt willen, Pilger aus aller Welt waren hier und sangen Lieder, während sie durch die Straßen zogen. An die Volgare hatte er sich inzwischen wieder gewöhnt, aber einmal kamen sie an einer Gruppe vorbei, die etwas sprach, das keine Ähnlichkeit mit dem Lateinischen oder dem Deutschen hatte. Er sprach sie an: Es waren Ungarn. Ein andermal sah er zum ersten Mal in seinem Leben drei Männer, deren Haut ganz und gar dunkel war, obwohl sie, anders als die Ungarn, in der Volgare miteinander sprachen. Das mussten Mohren aus Venedig sein. Rom war Babel, ein Teppich aus fremden Sprachen, Farben und Gerüchen, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Unter anderen Umständen hätte er gedacht, dass dies allein schon die lange Reise wert gewesen sei. Doch die Umstände waren nicht anders, und er fragte den Bruder Vorsteher des Spitals, in dem sich die Pilger mittlerweile zu dritt ein Bett teilen mussten, weil die Stadt so voll war, ob er zufällig wüsste, welche höherrangigen deutschen Kleriker in der Stadt seien. Er hatte Glück: Der Bischof von Mainz, so wurde ihm beschieden, sei gerade aus dem Heiligen Land zurück – und der Bischof von Passau!
Es war einfach, das Kloster zu finden; schwieriger fiel es Walther, Martin durch die Straßen zu ziehen, denn mittlerweile konnte er kaum noch drei Schritte aufrecht gehen.
»Der Bischof ist ein alter Gönner von mir. Wenn jemand beim Papst ein gutes Wort für dich einlegen kann, dann er«, sagte Walther, ließ ihn noch einen Schluck Branntwein trinken und schaffte es bis zum Ende der Straße, ehe Martin erneut zusammenbrach. Auf diese Weise brauchten sie einen halben Tag, doch schließlich trafen sie den Bischof von Passau gerade noch an. Er saß bereits in einer Sänfte, die ihn zur Peterskirche bringen sollte, um an dem Gottesdienst teilzunehmen, der aus Lothar von Segni endgültig Innozenz III. machen würde.
»Herr Walther?« Das Gesicht des Bischofs war etwas faltenreicher, doch mit seinem sonnenverbrannten Gesicht wirkte er gesund und munter wie eh. »Bei Gott, Ihr macht Eurem Namen Ehre! Welcher Wind hat Euch hierhergetrieben? Warum zwitschert Ihr nicht in Wien oder Hagenau?«
»Ein eiliger Wind«, sagte Walther und erläuterte hastig Martins Notlage.
»Euer Freund ist nicht der einzige Kranke, der der Absolution bedarf, Herr Walther. Herzog Friedrich«, Wolfgers Stimme war ein strafender Unterton beigemischt, der Walther daran erinnerte, dass er nicht nach dem Herzog von Österreich gefragt hatte, »siecht in einem Kloster außerhalb der Stadt dahin, und auch für ihn will ich mit dem Heiligen Vater sprechen. Im Gegensatz zu manchen hat er ein gutes christliches Leben geführt.« Er schaute auf Martin, der in seiner weinfleckigen verschlissenen Kutte, den Arm um Walthers Hals geschlungen, eher wie das Spottbild eines Trunkenbolds als wie eine gequälte Seele kurz vor dem Sterben wirkte.
»Euer Gnaden, hat nicht Christus dem Schächer am Kreuz vergeben?«
»Das hat er«, sagte der Bischof. »Ich kann Euch und Euren Freund in die Peterskirche mitnehmen. Vielleicht überlegt es sich der Heilige Vater noch einmal und erteilt doch eine Generalabsolution.«
»Aber ist das nicht Sitte?«, stammelte Martin fassungslos.
»Das war es. Doch der Heilige Vater hat vor, einige Neuerungen durchzuführen, und dies ist eine davon. Er ist ein sehr … betriebsamer Mann, was wohl an seinem Alter liegen mag. Auf jeden Fall hat er beschlossen, dass Generalabsolutionen zu Ostern und Weihnachten genügen.«
Die Peterskirche war eine alte Basilika, zu klein für die Massen, die sich versammelt hatten, doch dank Bischof Wolfger kamen Walther und Martin weit genug vorne zu stehen, um den neuen Papst aus der Nähe sehen zu können. Er war klein und schmächtig; die weiße Robe, die offenbar seinem Vorgänger gehört hatte, war zu groß für ihn. Dass er jünger war als viele der Kardinäle, die ihn umgaben, hätte die Zeremonie wie die Weihe eines Priesternovizen wirken lassen können. Doch durch sein kräftiges Kinn und die durchdringenden Augen kam kein Eindruck von Schwäche auf, und seine Stimme war, als er begann zu predigen, schneidend wie ein Schwert.
Was er zu sagen hatte, war auch nicht weniger deutlich als eine gezückte Klinge. »Vorbei sollen die Zeiten sein, in denen es weltliche Herrscher gewagt haben, sich in die Papstwahl einzumischen. Der Papst ist nicht nur der Stellvertreter, sondern auch der Statthalter Christi auf Erden. Das bedeutet, dass er es ist, der über den weltlichen Herrschern steht.« Walther konnte sich nicht vorstellen, dass irgendein deutscher Fürst, ob nun Philipp, Otto oder Berthold, glücklich darüber sein würde, das zu hören, und er war noch selbst damit beschäftigt, sich über den aufsteigenden Groll in sich selbst zu wundern, als Innozenz vom Zustand der Welt auf den Zustand des Menschen zu sprechen kam. »Der Mensch«, verkündete er, »ist nichts als eine Hülle aus Dreck, Blut, Schleim und Eiter, die es verdient, zu verrotten, denn er wählt immer wieder das Schlechte, statt Gott und seinen Dienern zu folgen.« Dann ging er dazu über, die Qualen der Hölle auszumalen, die jede irdische Folter überstiegen und aus denen es kein Entkommen gab. »Jeder Augenblick des Leidens wird Ewigkeit sein«, donnerte Innozenz, »keine Vergebung ist mehr möglich, niemals. Und ihr, die ihr glaubt, eurer Strafe entrinnen zu können: Sterben werdet ihr in eurem eigenen Kot und ersticken darin!«
Es war für Walther unmöglich, Martin länger aufrecht zu halten; sein Freund sank in die Knie und fing an zu schluchzen, während die geißelnde Stimme über sie hinweg von hinausgerissenen Eingeweiden und ewigen Flammen sprach. Mehr und mehr Zuhörer brachen in Tränen aus oder jammerten leise vor sich hin. Doch Martin war der Einzige, der sich zusammenrollte, zuckte und krümmte, als seien die Worte des Papstes echte Peitschenhiebe. Walther versuchte, ihn zu beruhigen, doch seine Stimme ertrank in dem allgemeinen Schluchzen. Er hielt Martins Hand und spürte noch ein weiteres Aufzucken. Dann erstarrte sein Freund; die Grimasse des Entsetzens und der Qual auf seinem Gesicht wurde zu Stein.
»Der Teufel hat ihn geholt«, schrie Wolfgers Schreiber, der neben Walther gestanden hatte, und zeigte auf Martin, bis Walther seine Augen schloss und zu dem Mann im weißen Gewand blickte, der immer weiter predigte, unaufhaltbar wie eine der Berglawinen, denen sie entkommen waren. Die Nächstenliebe erwähnte er mit keinem Wort.
Worte, dachte Walther, Worte als Waffen, Worte als Geißeln. Aber nicht in Latein, Euer Heiligkeit, und nicht von einer Kanzel. Er wusste nicht, wer der nächste deutsche König werden würde; vielleicht kümmerte es ihn weniger, als es sollte. Hier beanspruchte gerade ein neu gekrönter Papst alle weltliche und geistliche Macht für sich, über alle Menschen des Erdkreises, egal wo und wer sie waren. Was Walther aber wusste, während Martins Hand noch warm in der seinen lag, war dies: Diesen Papst, der sich selbst für würdig hielt, das Jüngste Gericht zu verkünden für alles, was er Sünde nannte, und darüber zu richten, wer gut und böse war, anstatt dies dem Herrgott zu überlassen, würde er zum Spott all jener machen, die von nun an seine Worte hörten. Der Zorn auf den Zustand der Welt, der in Walther gewachsen war, nicht erst, seit sie die Toten am Straßenrand gefunden hatten, nicht erst, seit er durch verbrannte Dörfer geritten war, sondern seit er erlebt hatte, wie leicht aus feiernden Menschen Mörder werden konnten, dieser Zorn fand endlich ein Ziel, ein gewaltiges Ziel, das kein Mitleid verdiente. Das größte, das es in der Welt gab.
Und fraget Gott, wie lang’ er wolle schlafen?
Sie hintertreiben sein Werk’ und fälschen seine Wort’:
Sein Kämmerer veruntreut seinen Himmelshort,
Sein Mittler raubet hier und mordet dort,
Sein Hirte ward zu einem Wolf ihm unter seinen Schafen.