V. Tagelied
1202–1203
Kapitel 30
Das kann so nicht weitergehen«, sagte Otto ruhig, was die Sache für Adolf von Köln beunruhigender machte, als wenn der Welfe geschrien hätte. Der von ihm gekrönte König hatte etwas, das Adolf Furcht einflößte, daran war nicht zu deuten. Das wäre bei dem Zähringer, dem verwünschten Kerl, nie der Fall gewesen.
»Es ist nun schon zwei Jahre her, dass Seine Heiligkeit mich zum rechtmäßigen König erklärt hat. Ich bin eigens nach Rom gezogen, um mich von ihm segnen zu lassen. Ich habe ihm einen Eid geschworen, dass ich nie das Königreich Sizilien noch eine andere der Eroberungen der Staufer in italischen Landen für das Reich beanspruchen werde, wenn ich erst Kaiser bin. Und was habe ich dafür bekommen?«
»Seine Heiligkeit hat Philipp gebannt«, sagte Adolf und verzichtete uneigennützig, auf seine eigenen Entbehrungen im Dienste der welfischen Sache zu verweisen. Immerhin war Köln dreimal belagert worden; seine Einkünfte aus dem Lehen waren entsprechend drastisch gesunken.
»Und wen kratzt das? Offensichtlich nicht die deutschen Bischöfe«, gab Otto zurück. »Die benehmen sich, als wäre so ein Kirchenbann nicht mehr als ein Flohstich und scharwenzeln weiter um Philipp herum.«
»Das ist nicht wahr!«, rief Adolf empört. »Der Erzbischof von Bamberg hat es getan, aber das lag nur daran, weil Philipp ihm das Grab für seine Stadtheilige gespendet hat. Im Übrigen ist der Bischof jetzt tot. Sein Nachfolger, dieser Philipp-Knecht, ist vom Papst nicht bestätigt worden, und ich kann Euch schwören, dass es auch nicht dazu kommen wird, bis er nicht Euch den einzig wahren König nennt. Der Bischof von Magdeburg, nun, zugegeben, an dem ist Hopfen und Malz verloren. Aber ansonsten steht der deutsche Klerus hinter Euch, mein König. Und das habt Ihr nur mir zu verdanken.« In letzter Zeit schien Otto diesen Umstand häufig zu übersehen.
»Nicht der Bischof von Passau«, sagte der Welfe ungerührt. »Der hat sich immer noch nicht öffentlich gegen Philipp gestellt, und wie man hört, will ihn der Heilige Vater sogar zum Patriarchen von Aquileja machen.«
Das lag Adolf selbst schwer im Magen. Nur der Patriarch von Jerusalem war ein noch erhabeneres Amt, wenn man nicht gerade ein Kardinal war, und er verstand nicht, warum ausgerechnet Wolfger dafür in Frage kommen sollte, mit seinen staufischen Verbindungen und der weltlichen Vergangenheit. Ein Mann wie der jetzige Papst sollte einen Kleriker wie Adolf vorziehen, der nie für etwas anderes als die Kirche bestimmt gewesen war, statt den Dienst an Gott wie eine Laune zu behandeln, der man nach dem Tod der Ehefrau auch noch folgen konnte.
»Dennoch steht die Mehrzahl der kirchlichen Fürsten nach wie vor auf Eurer Seite, mein König, genau wie ich es tue.«
»Wie schön. Warum folgt ihnen dann nicht die Mehrheit der weltlichen Fürsten?«
Weil Ihr dafür, dass Ihr auf dem Schlachtfeld so überragend sein sollt, nicht genügend Schlachten gewinnt, dachte Adolf, doch er wusste, dass er diesen Einwand nicht aussprechen konnte. Otto war es nicht nur jedes Mal gelungen, Köln zu verteidigen, er hatte es auch durchaus ein paarmal geschafft, Philipp in die Enge zu treiben; einmal hatte er ihn bei Speyer sogar eingeschlossen, und der Staufer war nur knapp entkommen. Doch Tatsache blieb, dass der Tod Kaiser Heinrichs nun schon vier Jahre zurücklag und das Reich immer noch geteilt blieb, wenn auch Ottos Teil viel kleiner als der von Philipp war. Dafür, dass Otto immer wieder stolz auf seine Jugend an der Seite Richards von England hinwies, war das einfach zu wenig. Die Menschen hatten sich einen unbezwinglichen Helden erhofft, nicht einen gewöhnlichen Fürsten, der manchmal Pech in der Schlacht hatte. Und er einen, der gab, statt ständig mehr Geld für seinen Krieg zu fordern.
»Nun«, entgegnete Adolf, der wusste, wie er Otto die herablassende Behandlung und den Mangel an Dankbarkeit heimzahlen konnte, »dass Euer Bruder nun an der Seite Philipps kämpft, das hat natürlich ein schlechtes Beispiel gegeben.«
Ohne sich umzudrehen, ergriff Otto eine von Adolfs kleinen Holzfiguren, welche die heilige Ursula darstellte, und schleuderte sie an die Wand. Dann sagte er in einem Tonfall, der im völligen Gegensatz zu dieser Geste aufgeräumt und gelassen klang: »Hat nicht Abel unter Kain gelitten, ist nicht Josef von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft worden? Treulose Brüder hat es schon immer gegeben.«
Vor allem, wenn sie immer nur geben müssen und nichts bekommen, dachte Adolf und beäugte die Reste der kleinen Figur, der jetzt alle Konturen fehlten. Sie war bei weitem nicht das Kostbarste im Raum, und er besaß viele schöne Heiligenfiguren, aber es war die Respektlosigkeit, die ihm zusetzte. An der Behauptung, Ottos englische Verwandten stammen vom Teufel ab, war vielleicht doch etwas dran. Vielleicht hätten die verdammten Kaufleute, die ihm diesen König eingebrockt hatten, sich daran erinnern sollen. Doch nein, Otto war nicht der Gottlose, Philipp war es. Das musste Adolf glauben, sonst war alles, was er bisher getan hatte, widersinnig und umsonst gewesen. Und unergiebig. Sehr, sehr unergiebig. Ein ärmeres Leben zu führen als zuvor, was nicht zu leugnen war, das hatte sich Adolf nicht als Lohn eines Königsmachers vorgestellt. Ganz zu schweigen davon, dass er immer noch bei den verwünschten Kaufleuten verschuldet war, sogar mehr noch als früher, viel mehr!
»Etwas«, sagte Otto, »muss sich ändern, Euer Gnaden. Und zwar bald.« Er war ein hochgewachsener Mann, und Adolf, dessen Gewicht es ihn inzwischen vorziehen ließ, zu sitzen, fühlte sich unbehaglich, als Otto auf ihn zutrat, mit diesen Händen, die nicht zögerten, Heiligenstatuen zu misshandeln. Adolf räusperte sich. Eigentlich hatte er die Nachricht für sich behalten wollen, eine Weile jedenfalls noch, weil es sich nicht um ein Versprechen handelte, nicht um eine angekündigte Tatsache, sondern nur um eine Andeutung. Aber jetzt, wo Otto seine Hände links und rechts von Adolfs Kopf auf die Lehnen des breiten Stuhls stützte und sich über ihn beugte, da konnte er nicht anders. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sagte: »Das wird es gewiss, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass Philipps Anhänger nicht entmutigt sind, wenn sein Kanzler auf Eure Seite übertritt.«
Ottos blaue Augen weiteten sich. Dann warf er den Kopf zurück und lachte. Als er sich wieder beruhigt hatte, tätschelte er Adolf die Wange und sagte: »Aber Euer Gnaden, warum habt Ihr das nicht gleich gesagt? Konrad von Würzburg will überlaufen?«
Ganz so hatte sich der Würzburger nicht ausgedrückt. Vor zwei Jahren war er plötzlich zu einer Pilgerfahrt nach Rom aufgebrochen und von dort versöhnt mit dem Heiligen Vater und mit dem bestätigten Bistum Würzburg zurückgekehrt. Wie er dieses Wunderwerk vollbracht hatte, während Philipp gleichzeitig gebannt wurde, wollte er niemandem verraten, doch da er nun einmal ein alter Freund des Papstes war, hatte man sich eben in beiden Lagern gesagt, dass selbst der gestrenge Innozenz bei Freunden Ausnahmen machte.
Bei den Staufern hatte man zwar sehr erfreut getan, doch wie Adolf inzwischen erfahren hatte, war damals die Saat des Misstrauens gesät worden. Der Reichshofmarschall hatte den Kanzler sogar offen als Papstspitzel bezeichnet.
»Dieser Emporkömmling Heinz von Kalden«, sagte Adolf laut, »hat sich wohl endlich durchgesetzt. Der Bischof von Würzburg wird nicht länger Philipps Kanzler sein, sondern sich ganz nach Würzburg zurückziehen und nur seinem Bistum widmen. Das ist es wenigstens, was er den anderen Fürsten erzählen will.«
»Das kommt davon, wenn man sich von Ministerialen auf der Nase herumtanzen lässt«, sagte Otto belustigt. »Wenn Philipp so dumm ist, einen seiner wenigen hochrangigen Kleriker gehen zu lassen, dann umso besser für uns. Aber will sich der Würzburger wirklich offen erklären?«
Was Konrad von Würzburg an Adolf geschrieben hatte, inmitten einer Flut biblischer Gleichnisse und Klagen über die Schlechtigkeit der Zeit, war, dass seine schöne neue Marienfeste in Würzburg nun einsam da stand, wo die schwäbische Sonne ihr nicht mehr lächelte, und dass eine Prise rheinischen Frohsinns sehr willkommen wäre. Das konnte man als Aufforderung zu einem Besuch Adolfs verstehen oder als ersten Annäherungsversuch an die Welfen, aber verpflichtet hatte sich Konrad noch zu nichts.
»Wenn er sich offen für Euch erklärt, mein König, wird er Truppen zu seinem Schutz benötigen. Als Kanzler kennt er jedes Geheimnis der Staufer. Sie werden ihn nie freiwillig aus ihrer Kontrolle entlassen.«
»Oh, ich werde ihm gerne Truppen schicken, mit Eurer finanziellen Unterstützung«, sagte Otto frohgemut, reckte sich und griff sich einen der Äpfel, die für Adolf bereitgestellt worden waren. »Das macht die unglückliche Verirrung meines Bruders mehr als wett. Aber Heinz von Kalden ist nicht nur ein Emporkömmling, sondern ein ausgesprochen hinterlistiger und erfolgreicher. Dem traue ich zu, den Würzburger einen Brief an Euch schreiben zu lassen, nur um meine Leute und vielleicht auch mich in eine Falle zu locken. Ich will eine Sicherheit haben, dass Philipps alter Kanzler es ernst meint.«
»Was für eine Sicherheit soll das sein, Euer Gnaden? Geiseln?«, schlug Adolf vor und hätte sich gleich darauf am liebsten auf die Zunge gebissen, denn er dachte daran, wie wenig Geiseln ihm genutzt hatten, als der Herzog von Zähringen sie stellte.
»Etwas in der Art. Als Mann der Kirche ohne weltliche Gelüste, mein hochwürdigster Herr Bischof, mögt Ihr es bereits vergessen haben, aber ich befinde mich immer noch im ehelosen Stand, weil der Herzog von Brabant nach wie vor nicht geruht, mir seine Tochter zu schicken. Und wir wissen doch beide, wessen Schuld das ist.«
»Die der Herzogin? Sie will Euch eben erst als Herrscher …«
»Ich bin der König«, sagte Otto kalt. »Der unbestrittene, von Euch gekrönte König der Deutschen, und von der versprochenen Mitgift wie von dem Gör aus Brabant habe ich trotzdem noch nichts gesehen, seit ich mich ihr anverlobt habe, für nichts und wieder nichts. Weil jemand ihnen Flausen ins Ohr gesetzt hat, den Weibern aus Brabant – diese Ärztin aus Köln, die Ihr mir nach Chinon geschickt habt.«
Adolf fragte sich, ob er ein weiteres Mal protestieren sollte, dass sich Otto mit solchen Beschwerden an die Kaufleute wenden musste, und kam zu dem Schluss, dass der Welfe nicht mehr auf solche Proteste achten würde, als er es bisher schon getan hatte.
»Ich bin ein alter Mann, mein Sohn«, sagte er, etwas übertreibend und absichtlich den Umstand betonend, dass er als Priester und Bischof von Otto eigentlich als sein Vater in Christus geehrt werden sollte. »Vielleicht verstehe ich deswegen nicht, was das verwünschte Weib mit dem Bischof von Würzburg zu tun hat.«
Otto schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln. Es wirkte noch verstörender, als die zerstörte Ursula auf dem Boden es tat. »Ihr seid nicht der Einzige, der Verbindungen hat«, sagte er. »Die Magistra Jutta von Köln dient der Byzantinerin, die unser guter Philipp geheiratet hat. Das heißt, sie gehört zu seinem Hof. Als Kanzler muss der Würzburger sie gut genug kennen, um ihre Dienste verlangen zu können. Das ist die Art von Beweis für seine guten Absichten, die mir vorschwebt, und die Geisel, die ich haben möchte.«
Adolf war Konrad nur ein paarmal begegnet, doch er konnte sich nicht vorstellen, dass der Würzburger über die Zumutung, für Otto eine Frau zu entführen, erfreut sein würde. Dergleichen war einfach unter der Würde eines Erzbischofs. Für solche Dinge sollte der Welfe wahrlich seine Kriegsknechte haben.
Er fragte sich nicht zum ersten Mal, was wohl gewesen wäre, wenn er damals seine Abscheu vor den Staufern überwunden und Philipp gekrönt hätte. Ohne die Krönung in Aachen und Köln wäre Otto nur einer von vielen Thronbewerbern gewesen. Und vielleicht hätte Philipp Adolf doch besser behandelt, als er dies von einem Staufer erwartet hatte. Gewiss, Konrads Schicksal ermutigte nicht gerade zu einer solchen Schlussfolgerung, doch der war eben nur der Bischof von Würzburg. Einen Erzbischof von Köln, der die Seiten wechselte, würde gewiss niemand mit Geiselfragen und Wünschen nach weiblichen Störenfrieden behelligen. Im Gegenteil, man würde ihn mit Gold und Würden überhäufen.
»Werdet Ihr das den Bischof von Würzburg wissen lassen?«, fragte Otto. Adolf wurde wieder in die unliebsame Gegenwart zurückgeholt. Beim Anblick der zerborstenen heiligen Ursula erinnerte er sich daran, dass Ottos Großvater, Henry II., nicht davor zurückgeschreckt war, den Erzbischof von Canterbury vor seinem Altar erschlagen zu lassen. Es war wohl besser, sich an das Hier und Jetzt zu halten und zu versuchen, das Beste daraus zu machen. Das bedeutete, weiterhin Otto zu unterstützen und auf einen baldigen Sieg zu hoffen. Mit Hilfe von Philipps altem Kanzler, dem Bischof von Würzburg.
Adolf seufzte. »Gewiss werde ich das.«
* * *
Judith war dabei, Irenes jüngste Tochter zu untersuchen, die im Vorjahr zur Welt gekommen war und gerade unter dem Durchbrechen ihrer Zähnchen litt. Noch mehr litt Lucia, die zur Amme der kleinen Maria geworden war, weil sie fast zur gleichen Zeit ihr zweites Kind zur Welt gebracht hatte. »Sie sind bald alt genug, um sie zu entwöhnen«, sagte Judith, »alle beide.«
»Das ist nicht das, was die kleine Königstochter denkt, eh?«, gab Lucia zurück. Judith lachte und versprach, eine Salbe aus Kampfer herzustellen, mit der sich Lucia die Brustwarzen einreiben konnte. Sie wussten beide, dass sie Irene nichts davon erzählen würden, denn die Königin war so besorgt um ihre Kinder, dass sie darauf bestand, sie müssten so lange gestillt werden, wie sie nach Muttermilch verlangten, und an mindestens zwei Jahre dachte.
Vielleicht hatte Irene sogar recht. Drei Mädchen hatte sie bisher zur Welt gebracht, kurz hintereinander, gerade, dass sich ihr eigener Körper von der letzten Schwangerschaft erholt hatte, und dennoch waren alle drei Mädchen gesund und am Leben. Das war selten, selbst für Fürstenkinder, denen es nicht an Nahrung und Wärme mangelte. Irene schaute auf Lucias Kind und fragte sich, ob es wohl ebenfalls überleben würde. Diesmal hatte Lucia eine kleine Tochter zur Welt gebracht, eine Halbschwester für ihren Sohn. Der Vater war Markwart, der Lucia geheiratet hatte, als sie schwanger war. Bisher schienen sie glücklich miteinander zu sein, obwohl Walther Markwart manchmal damit neckte, vor einem Schicksal geflohen zu sein, das anderswo erfolgreich auf ihn gewartet hatte.
Sie schaute Maria an. So schnell war die Zeit vergangen. Zu schnell. Sie betrauerte immer noch jede Stunde, die sie nicht mit Walther verbrachte. Das Gefühl, dass da jemand war für sie und dass sie für jemanden da sein konnte, war mehr als selbst die Befriedigung, helfen zu können, in ihrer schönsten Zeit in Salerno. Alles, was sie sich jemals erträumt hatte, war mit ihm in Erfüllung gegangen, und noch einiges mehr. Sie konnten reden und schweigen miteinander; dieses Schweigen nannte er Selbstgespräche mit unseren Seelen. Danach stellten sie häufig fest, dass sie beim gleichen Thema gewesen waren, was sonst nur alten Leuten passieren sollte, nach vielen Jahren einer harmonischen Ehe. Umgekehrt brachten sie es fertig, am Abend, ohne zu sprechen, ohne sich abzustimmen, übereinander herzufallen, als müssten sie Jahre nachholen, was ja auch nicht abwegig war, um später gleichzeitig den Mund zu öffnen, um darüber zu reden, was ihnen gerade auf dem Herzen lag. Sie hatte ihm sogar von ihrem Schwager erzählen können; er hatte den Kopf geschüttelt über dessen Selbstsucht, statt ihr Vorwürfe zu machen. Er hatte ihr auch von Mathilde berichtet, die seine ersten Schritte in die körperliche Liebe gelenkt hatte, und sie hatte ohne Eifersucht zuhören können. Als er davon sprach, wie schön er damals immer das Licht einer brennenden Flamme beim Liebesspiel empfand, hatte sie am Abend nie mehr selbst das Licht ausgelöscht. Wie oft schon hatte sie an das gedacht, was ihr in Braunschweig gesagt worden war: Was aus Liebe gegeben wurde, wurde gern und gut gegeben. Sie hatte Walther von ihrer Freundin Maria erzählen können, und es gab von ihm keine Scherze über solche Freundschaften, wie sie es eigentlich von ihm erwartet hatte. Er hatte im Gegenteil sogar gesagt, dass er bisher der Überzeugung gewesen sei, dass Menschen zu Bettlern werden, die sich auf ihre Freunde verlassen. Glücklich, wer anderes erleben durfte. Ihr Leben mit ihm war einfach schön!
»Aber gibt es noch Kampfer?«, fragte Lucia. »Der Boden ist schon gefroren.«
Judith kam nicht dazu, zu antworten, weil eine Magd sie unterbrach und bat, zur Königin zu kommen. Wie sich herausstellte, war Irene nicht alleine, obwohl die Königin ihre Damen fortgesandt hatte. Bei ihr befand sich ein junger schwarzhaariger Mann, der ihr ähnelte und sichtlich schlecht in die höfische Kleidung passte, die man ihm zur Verfügung gestellt haben musste. Er zuckte zusammen, als Judith den Raum betrat, statt es für selbstverständlich zu nehmen, wie Edelleute es gewöhnlich taten. Obwohl er wie die meisten Adeligen Armreife und Ringe trug, waren seine Arme dünn, während sein Bauch schon eine leichte Wölbung zeigte. Er konnte in den letzten Jahren nicht viel Bewegung gehabt haben, und dafür gab es bei seinem offenkundig hohen Stand eigentlich nur eine Erklärung.
»Mein Bruder Alexios«, sagte Irene auf Lateinisch, obwohl sie mittlerweile mit Judith genau wie allen anderen Mitgliedern ihres Hofstaates Deutsch sprach, »hat den Weg in die Freiheit und zu mir gefunden.« Judith erinnerte sich an ihre ersten Begegnungen mit Irene; bei den Byzantinern war es üblich, sich zu Boden zu werfen, wenn man ein Mitglied des Kaiserhauses zum ersten Mal vor sich sah.
Irenes Bruder war, wie ihr Vater, jahrelang von ihrem Onkel gefangen gehalten worden, insofern hatte Judith Mitleid mit ihm und konnte verstehen, dass einiges nötig war, um seinem Stolz wieder Nahrung zu geben. Aber es war ihr unmöglich, die Stimme ihres Vaters zu vergessen, als er sagte, dass man nur vor dem Allerhöchsten selbst im Staub lag und nicht vor einem heidnischen Idol, ob lebend oder aus Stein. Sie musste so viel von ihrem Judentum unterdrücken, um in dieser christlichen Welt zu leben, doch es gab Grenzen. Selbst, wenn sie Möglichkeiten fand, den Sabbat zu begehen, so verstieß sie oft genug gegen die Essensvorschriften, und obwohl sie niemals eine Hostie zu sich genommen hatte, war es ihr unmöglich gewesen, sich immer der Messe zu entziehen. Als Philipp seine zweite Tochter Kunigunde nannte, nach der Kaiserin, deren Gebeine er im Bamberger Dom selbst in eine neue, prunkvolle Grabstätte umgebettet hatte, da hatte Judith in der Taufgemeinde gestanden und das Credo aller Anwesenden mit angehört. Sich einmal in den Staub zu werfen, hätte im Vergleich nicht viel bedeuten sollen, aber aus irgendeinem Grund tat es das für sie, und so entschloss sie sich für einen Kompromiss. Sie sank in die Knie, schlug die Augen nieder und murmelte auf Latein: »Es ist mir eine Ehre, höchstedler Alexios.«
Er beachtete sie nicht, sondern stellte Irene eine Frage auf Griechisch, die sie beantwortete. Dann schaute er zu Judith und fragte auf Latein, ob sie wirklich zu den Frauen aus Salerno gehöre.
»Wäre sie sonst meine Leibärztin?«, warf Irene ungeduldig ein. »Bruder, du kannst ihr vertrauen.«
Es fiel Judith auf, dass die Augen des byzantinischen Fürsten zwar in Irenes Richtung schauten, aber nicht direkt auf ihr Gesicht, sondern über ihre Schulter hinweg. Dass er nicht zu Judith blickte, mochte also einen anderen Grund haben als Hochmut. Mit einem Mal verstand sie, warum Irene weder Damen noch Gesinde um sich behalten hatte.
»Kann es sein, dass Ihr Schwierigkeiten mit Euren Augen habt, höchst edler Alexios?«, fragte sie behutsam.
»Ich bin nicht geblendet worden«, sagte er rasch. »Das war mein Vater. Nicht ich. Niemals.«
Ein blinder Herrscher, erinnerte sich Judith, konnte nicht regieren. Deswegen war Irenes Vater geblendet worden, deswegen hatte Kaiser Heinrich die letzten normannischen Prinzen nicht nur kastrieren, sondern ebenfalls blenden lassen. Es war eigentlich verwunderlich, dass Alexios jenes Schicksal erspart geblieben war.
»Wenn man sehr lange Zeit im Dunkeln verbringt«, sagte Judith leise, »und dann plötzlich ans Tageslicht kommt, dann können die Augen Schaden nehmen, weil sie das Licht nicht mehr gewohnt sind.«
»Die Magistra wird niemandem davon erzählen, das gebietet ihr Eid«, warf Irene ein. Alexios senkte das Haupt. Dann bedeutete er Judith, sie möge näher treten, um ihn zu untersuchen.
Da er der Sohn eines entthronten Vaters war, gab es keinen Grund zu erwarten, dass er je wieder auf einem Thron sitzen würde. Keinen, außer Irene, die in den letzten Jahren alles Mögliche versucht hatte, um aus der Ferne Druck auszuüben und ihren Onkel dazu zu bewegen, ihren Vater und ihren Bruder freizulassen. Keinen, außer dem, was man sich vor langer Zeit über die Träume des Staufers Heinrich erzählt hatte, eine Verwandtschaft mit der byzantinischen Kaisertochter zu nutzen, um auch Kaiser des Ostreichs zu werden.
Doch Philipp war nicht unumstrittener deutscher König, geschweige denn Kaiser des Westens. Er hatte mehr als genug damit zu tun, Otto in Schach zu halten, denn immer noch war keiner von beiden in der Lage, sich dauerhaft als der Stärkere zu beweisen. Da war es unmöglich, daran zu denken, Byzanz zu erobern, ob nun für seinen Schwager oder sich selbst.
Judith hob vorsichtig das Kinn des Kaisersohns und drehte seinen Kopf hin und her. Dann ließ sie ihn los, hielt einen Finger in die Höhe und bewegte ihn langsam. Seine Augen folgten ihr bei unmittelbarer Nähe, doch als sie die Geste in einigen Schritten Entfernung wiederholte, konnte sie sehen, dass sein Blick weiter geradeaus gerichtet blieb.
Zum ersten Mal seit Jahren dachte sie an Meir, ihren Mitstudenten und kurzfristigen Freier, der sich auf Augen verstand wie kein Zweiter in Salerno und vermutlich sofort gewusst hätte, ob es sich um starke Kurzsichtigkeit handelte oder um einen äußerlich zugefügten Schaden.
»Habt Ihr vor Eurer Einkerkerung gut sehen können, Euer Gnaden?«
»Ja«, sagte er rasch, doch Irene machte eine ungeduldige Handbewegung.
»Lüg sie nicht an, sonst kann sie dir nicht helfen. Mein Bruder war nie gut bei der Falkenjagd, Magistra, weil er den Vögeln nicht lange mit den Augen folgen konnte. Doch früher hätte er ohne weiteres Euer Gesicht und Eure Kleidung beschreiben können, so, wie Ihr vorhin im Rahmen der Tür standet, und nun ist ihm selbst das nicht mehr möglich.«
»Nero soll einen Smaragd gehabt haben, durch den er besser sah. Ich habe auch von feingeschliffenen Kristallen gehört, die diese Wirkung haben. Aber ich glaube nicht, dass sie Eure Sicht auf Dauer besser machen können, Euer Gnaden«, sagte sie, denn eine der ersten Regeln, die sie gelernt hatte, war, dass man nicht über den Kopf eines Patienten hinweg über ihn sprach, sofern er nicht taub oder ein Kleinkind war, denn sonst erwachte in ihm schnell Groll wider den Arzt, und er versperrte sich ihr gegenüber. Man musste stets versuchen, ihn mit einzubeziehen. »Nur während der Zeit, die Ihr durch einen solchen Kristall blickt, wenn wir einen richtig geschliffenen für Euch finden. Zudem … nehmt Ihr die Farben in Eurer Nähe noch klar wahr?«
»Wie durch einen grauen Schleier«, sagte er, und da wusste sie, dass er mit großer Sicherheit unter einer Form des Stars litt.
»Euer Gnaden«, sagte sie, »wenn wir in Salerno wären, dann gäbe es einen Arzt, der sich auf solche Gebrechen versteht und einen Eingriff vornehmen kann. Ich selbst vermag manches, aber Augen waren nie meine Stärke. Einen solchen Eingriff kann ich nicht durchführen.«
»Zu was seid Ihr dann gut?«, fragte er heftig. Irene legte ihm eine Hand auf den Arm.
»Es ist möglich«, sagte sie mit gesenkter Stimme, »dass mein Bruder den Weg nach Salerno findet. Vielleicht sogar bald. Doch er wird nicht lange dort verweilen können.«
»Das menschliche Auge ist ein Wunderwerk Gottes, aber auf einer Reise gerät rasch Staub hinein, und der quält uns, selbst, wenn das Auge gesund ist. Nach einem solchen Eingriff sollte man ein paar Wochen Zeit haben, um an einem Ort zu ruhen, einem Hospital oder in dem Gemach der alten Burg dort, das ist gleich, nur nicht auf der Straße mit all dem Staub.«
»Wir werden darüber nachdenken«, sagte Irene. »Ihr könnt gehen.« Auf Deutsch fügte sie hinzu: »Und ich danke Euch für Eure Ehrlichkeit, Magistra.«
Ihr Bruder fiel wieder ins Griechische; es hörte sich alles andere als dankbar an, was verständlich war: Judith hatte ihm nicht eben gute Nachrichten gebracht. Sie beschloss, noch einmal in den Werken nachzuschlagen, die ihr zur Verfügung standen, doch sie kannte ihre Grenzen, und Augenoperationen waren nichts, was sie ohne gesicherte Diagnose angehen konnte.
Wenn Alexios bald wieder in Italien sein würde, statt sich am Hof seiner Schwester von seiner Gefangenschaft zu erholen, dann konnte das eigentlich nur einen Grund haben, aber Judith verstand immer noch nicht, woher um alles in der Welt Philipp die Kriegsknechte nehmen wollte, um seinem Schwager bei der Rückeroberung eines riesigen Reiches wie Ostrom zu helfen.
Im Gegensatz zu ihrer ursprünglichen Befürchtung waren Judith an Philipps Hof und an Irenes Seite nie die Patienten ausgegangen. Irene reiste nur dann nicht mit ihrem Gemahl, wenn sie hochschwanger war, was hieß, dass verwundete Ritter und Soldaten häufiger und häufiger an der Tagesordnung waren. Judith war nicht die einzige Ärztin bei Hofe, aber sie war die mit der besten Ausbildung. Nach ein paar anfänglichen Schwierigkeiten war es ihr durch unleugbare Leistungen gelungen, mit den beiden anderen Medicis, die einer Frau zuerst ungern Fähigkeiten zugestanden, Einklang in der Verteilung von Zeit und Aufgaben zu finden. Selbst in Salerno hatte es nicht ständig so viele neue Kampfwunden zu verarzten gegeben. Manchmal halfen alle Vorsichtsmaßnahmen nichts, und der Wundbrand setzte ein. Der Tod, den sie in Klosterneuburg zum ersten Mal miterlebt hatte, war ihr inzwischen alles andere als fremd. Sie wusste, was Krieg war; sie hatte seine Opfer unter ihren Händen bluten, zittern, brennen, eitern und erkalten gespürt. Ein paarmal war es sogar geschehen, dass ein Mann, den sie erst ein paar Wochen vorher zusammengeflickt hatte, während einer neuen Operation starb. Bei der Vorstellung, zu dem Krieg mit Otto würde nun noch ein weiterer mit Byzanz kommen, wurde ihr speiübel. Judith beschloss, den Brunnen aufzusuchen, um sich einen Eimer mit Wasser zu holen; sie hatte das Bedürfnis, sich das Gesicht zu waschen.
Der Hof der Nürnberger Feste, in der sich Philipp derzeit aufhielt, war so geschäftig wie eh und je. Um ein Haar hätte sie den jungen Mann übersehen, der gerade sein Pferd absattelte und unendlich vertraut wirkte. Aus den Augenwinkeln heraus dachte sie für einen kurzen, entsetzlichen und doch süßen Moment, einer ihrer Brüder wäre von den Toten auferstanden, und drehte sich vollends zu dem Neuankömmling um. Dann erkannte sie ihn.
Es war ihr Vetter Paul.
* * *
Wolfger von Passau hatte sich kaum verändert, aber dafür zeigten sich bei seinem Sohn graue Haare, was Walther daran erinnerte, dass sie alle älter wurden. Hugo war ihm, obwohl bestimmt etwas älter, immer jünger als er selbst vorgekommen. »Das Weihnachtsfest«, sagte Wolfger, »werde ich noch hier im Reich verbringen, aber im Frühjahr geht es über die Alpen. Was haltet Ihr davon, mich zu begleiten, Herr Walther?«
Das kam überraschend. Der Bischof von Passau hatte ihm seine antipäpstlichen Tiraden nie vorgeworfen, und Walther war rücksichtsvoll genug, sie nicht in seiner Gegenwart zum Besten zu geben, schon weil Bischof Wolfger immer noch dankbar für ein Lied war und manchmal auch für eine Geschichte vom Hofe Philipps, Leopolds oder Hermanns von Thüringen. Seine Dankbarkeit drückte er in Form von Abschriften des Nibelungenlieds aus, an die Walther sonst nie gelangt wäre. Aber das war Wolfger auf dieser Seite der Alpen. Walther konnte sich nicht vorstellen, dass Wolfger in Aquileja, so viel näher an Rom, anders als nur dem Papst genehm handeln würde, und dazu gehörte gewiss nicht, einen Sänger in seinem Haus zu beherbergen, der vor allem seiner beißenden Lieder über den gegenwärtigen Papst wegen bekannt geworden war.
»Ich frage mich, was ich Euer Gnaden nutzen könnte in einem Land, wo man Nachtigallen verspeist, anstatt sie zu füttern«, sagte er daher und fügte nicht hinzu, dass er, ganz abgesehen von allem anderen, eine solche Reise nicht alleine würde unternehmen wollen. Er und Judith lebten hin und wieder getrennt, denn sie blieb stets an der Seite der Königin. Bei einem solchen Abschied handelte es sich aber höchstens um zwei, drei Monate, wenn es ihn an einen anderen Hof trieb. Eine Reise nach Italien konnte dagegen fast ein Jahr dauern, weil er kaum sofort wieder zurückkehren würde, wenn er erst einmal dort war. Über eine so lange Zeit wollte er nicht auf sie verzichten – und da war er sich sicher, sie auch nicht auf ihn –, dafür war jeder gemeinsame Tag zu sehr ein Geschenk, das sie sich gegenseitig machten.
Vor einigen Monaten war er wach geworden und fand sie neben sich hockend. Als er besorgt fragte, ob sie nicht schlafen könne, sagte sie: »Ich muss dich manchmal ansehen, weil ich es nicht schaffe zu verstehen, was mit mir ist. Warum bleibt diese Liebe für mich so unbegreifbar, unfassbar, so voller Geheimnisse? Kannst du mir das sagen?«
Er machte es sich nicht leicht mit der Antwort, weil er sich diese Frage auch oft genug gestellt hatte. Sie lachten so viel miteinander, selbst in höchsten Momenten des Glücks und der Befriedigung, und doch liebte er auch die Momente, die er im tiefen Ernst mit ihr teilte, wenn es ihm wichtig war, ihre Meinung zu hören. Dies war einer davon.
»Lass der Liebe ihre Geheimnisse, so wie dem Leben. Ist nicht das schönste Erleben das geheimnisvolle, unerwartete? Wenn wir nicht mehr staunen können über das, was überraschend auf uns zukommt, nicht mehr stutzen, was uns vom Leben an Glück alles geschenkt wird, was uns die wahre Liebe zueinander gibt, dann sind wir tot.« Am folgenden Tag war ihm aufgefallen, dass sie ihm, während sie sich liebten, ständig in die Augen sah, und er neckte sie, ob sie denn heute neugieriger sei, weil es bisher mehr sein Privileg war, ihren Körper bei der Liebe zu beobachten.
»Augen sind die Spiegel des Glücks, des eigenen und des geschenkten. Ich möchte deine Augen sehen, um zu erkennen, dass ich dich glücklich mache, zum Erstaunen bringen kann, täglich neu, und du sollst es in den meinen sehen, deine Geschenke und meine Geschenke, auch wenn ich nicht begreifen kann, woher das Glück kommt. Aber ich habe von dir gelernt, dass man nicht alles verstehen muss.«
So hatte er eine liebevolle, herrliche Frau bekommen, die zwar lieber ein Buch kaufte, anstatt Geld für ein neues Kleid auszugeben, aber in seinen Armen eine Sinnlichkeit entdeckte und zeigte, die ihm bei Frauen völlig neu war und ihn in ihrem Zusammenleben wunschlos glücklich hatte werden lassen.
Andererseits war ihm bewusst, dass sie es sich manchmal wünschte, nach Salerno zurückzukehren. Nun, die Königin hatte klargemacht, dass sie Judith nach einem weiteren Abschied ohne ihre Erlaubnis nicht wieder zurücknehmen würde. Deshalb war es immer noch besser gewesen, ein Spatz in der anmutigen und wohlberingten Hand Irenes zu sein als eine Taube auf dem Dach einer Heilschule, wo Judith vielleicht wieder aufgenommen wurde, wo es aber für Walther keinen Platz gab. Er sprach die Volgare gut genug, um sich verständigen zu können, gewiss, aber er würde nie Lieder so gut in ihr verfassen können, wie es ihm in der deutschen Sprache möglich war. Sein Anspruch, der Beste zu sein, würde dort schon im Ansatz scheitern. Es war für ihn unmöglich, in Salerno zu leben, ohne mit einem Schlag auf alle seine Zuhörer zu verzichten, selbst die, welche seine Lieder von anderen Sängern hörten, alle Menschen, die seine Texte verstanden. Davor zurückzuschrecken, war nicht Eitelkeit; es ging ihm dabei um seine Luft, die er zum Atmen brauchte.
»Herr Walther, Ihr habt mir noch immer die Langweile vertrieben, und das würde ich nie geringschätzen«, erwiderte Wolfger. »Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich Euch einen Platz an meiner Seite anbiete, wenn ich das nächste Mal die Alpen überquere. Ihr habt schlechte Erinnerungen, ich weiß, doch ich könnte Euch dort bessere schaffen.«
Noch nie hatte Wolfger erkennen lassen, dass er sich bewusst war, welches Ereignis in Walther den Zorn auf den Papst entflammt hatte. Wolfger war damals in der gleichen Kirche gewesen, hatte die gleichen Worte gehört, aber Walther hatte nie Grund zu der Annahme gehabt, dass sie in dem Bischof von Passau zu innerem Widerspruch geführt hätten. Es sei denn, man zählte den Umstand, dass Wolfger sich nicht offen gegen Philipp wandte.
»Das wäre in der Tat ein Wunder, das eines Heiligen würdig wäre, nicht eines Bischofs.«
»Nun, das Amt des Patriarchen von Aquileja ist das höchste, was ich erstrebe, aber vielleicht lässt sich trotzdem etwas in dieser Richtung bewirken«, sagte Wolfger. »Angenommen, nur angenommen, König Philipp hätte etwas, das er dem Heiligen Vater anbieten könnte, um Seine Heiligkeit dazu zu bringen, den Bann und seine Unterstützung Ottos zu beenden, würde das Euer Herz mit Freude erfüllen oder betrüben? Seid ehrlich.«
Es war eine gute Frage, eine bessere, als Walther erwartet hatte. Er verabscheute den Papst nach wie vor. Doch er war sich auch bewusst, was für einen ungeheuren Unterschied es machen würde, wenn er Philipp statt Otto unterstützen würde. Das würde den Krieg beenden. Nun, nicht sofort, nicht in einer Woche. Otto würde vielleicht noch ein, zwei Monate kämpfen, um sein Gesicht zu wahren, aber dann würde er gewiss versuchen, einen ehrenvollen Frieden mit Philipp zu schließen.
Judith neckte ihn manchmal damit, dass er insgeheim glaube, die Welt stürze sich nur in Fehden, damit Dichter darüber singen konnten, und das gelte auch für Kriege, aber sie meinte es nicht wirklich ernst. Er dachte an Judiths Gesicht, wenn ihr ein weiteres Mal ein Mensch unter den Fingern weggestorben war. Er dachte an die Toten, die er selbst gesehen hatte. Er dachte auch an seine Hoffnungen, durch wohlüberlegte Vorschläge bei Philipp für eine schnellere Beendigung des Kriegs sorgen zu können. Nur, geplündert wurden Burgen und Städte aber Woche für Woche, Monat für Monat, auf beiden Seiten, um so ihren Krieg gegeneinander zu finanzieren. Nichts hatte sich geändert.
»Mir wäre nichts wichtiger als die Aussicht auf Frieden, die ein solches Unterfangen böte«, gab Walther deshalb zurück.
»Mmm. Das freut mich sehr, Herr Walther. Auch wenn Frieden vielleicht das falsche Wort in diesem Zusammenhang ist … aber wisst Ihr, warum man die pax Romana unter Augustus so pries, obwohl das Römische Reich zu diesem Zeitpunkt Krieg mit vielen anderen Völkern führte?«
»Meine Kenntnisse heidnischer Geschichte sind beschränkt, Euer Gnaden.«
»Weil unter Augustus zum ersten Mal seit hundert Jahren in Rom selbst Frieden herrschte«, gab Wolfger zurück. »Weil die Römer, statt einander zu bekämpfen, damit beschäftigt waren, das Reich zu vergrößern und die römische Lebensart in die Welt hinauszutragen. Samt der Heizungen, für die ich noch heute dankbar bin, denn mein Haus in Passau ist eine römische Villa.«
»Ihr kennt doch die Königin mittlerweile recht gut«, platzte Hugo dazwischen. »Wenn sie ein Versprechen gibt, dann wird sie es doch halten, oder? Und gilt das Gleiche für ihre Familie?«
»Hugo«, sagte sein Vater tadelnd, doch auch er schien auf Walthers Antwort zu warten.
Allmählich begann sich in Walther eine ungeheuerliche Vermutung zusammenzusetzen. Er hatte wie der Rest des Hofstaats die Gerüchte gehört, dass Irenes Bruder entkommen oder freigelassen auf dem Weg zu seinem Schwager war. Das war durchaus zu erwarten gewesen, denn Philipp war der einzige mächtige Verwandte, der Alexios verblieben war, und an seinem Hof lebte sich die Verbannung gewiss angenehmer als irgendwo sonst. Doch was Hugo und Bischof Wolfger andeuteten, war etwas völlig anderes.
»Mir ist nichts von einem Wortbruch der Königin bekannt«, erklärte Walther vorsichtig. »Ihrer Familie bin ich nie begegnet. Hattet Ihr denn das Vergnügen?«
»So könnte man sagen«, sagte Wolfger gedehnt. »Doch ehe ich Euch mehr erzähle, wüsste ich gerne, ob Ihr Euch vorstellen könnt, das nächste Jahr an meiner Seite zu verbringen.«
»Vorstellen kann ich mir viel. Lasst mich darüber nachdenken, Euer Gnaden. Natürlich würde es mir helfen, wenn ich wüsste, womit genau ich Euer Gnaden denn behilflich sein soll.«
»Aber Herr Walther, keine falsche Bescheidenheit. Ihr wisst, worin Ihr gut seid: darin, die Meinung der Menschen zu erfassen und manchmal sogar zu lenken. Würde ich je einen Mann um etwas bitten, das er nicht gerne tut?«
Ich muss mit Judith darüber sprechen, was das alles zu bedeuten hat, dachte Walther, doch entgegnete, die hohe Meinung des Bischofs sei ihm eine Freude und würde ihm die Entscheidung gewiss erleichtern, aber so eine Entscheidung wolle nicht von einem Augenblick auf den nächsten getroffen werden, sondern wohl überlegt.
»Der frühe Vogel fängt den Wurm«, sagte der Bischof bedeutsam.
* * *
Es war nicht leicht, in einem Bienennest eine ruhige Stelle zu finden, doch Judith wusste inzwischen, dass eine Kapelle in dieser Beziehung eine Hilfe war. Wie sich herausstellte, war die in der Nürnberger Feste nicht ganz leer, doch die zwei betenden Pilger knieten vor dem Altar und waren somit außer Hörweite, wenn man sich neben das Marienbild am anderen Ende stellte. Wann hatte sie aufgehört, bei der Darstellung von christlichen Heiligen zusammenzuzucken? Du sollst dir kein Bild machen, sagte der Herr, aber bereits in Salerno hatte es so viele davon gegeben, dass sie begonnen hatte, sich daran zu gewöhnen.
»Vetter«, sagte sie, »es freut mich, zu sehen, dass es dir gutgeht, doch warum hat dein Vater dich geschickt? Und versuche nicht, mir weiszumachen, dass du gegen seinen Willen hier bist. Du hättest mich nie ohne ihn gefunden.«
Dass Stefan wusste, wo sie sich befand, war ihr klar gewesen, wenn sie darüber nachdachte, was sie tunlichst unterließ. Sie wusste nicht, was sie für ihren Onkel empfand. Was geschehen war, war geschehen. Jedes Mal, wenn sie einen weiteren Mann verarztete, der später doch auf dem Schlachtfeld starb, war sie sich bewusst, dass es keine Unschuldigen gab, am wenigsten sie selbst. Ewig zu grollen war in erster Linie ein Gift für das eigene Gemüt. Doch das hieß noch lange nicht, dass sie Stefan wieder vertrauen würde.
Paul machte ein gekränktes Gesicht. »Ich wollte dich wiedersehen!«, protestierte er. »Ich habe dich vermisst. Wie geht es dir und Gilles?«
Es war nur ein feiner Stich, der durch ihr Herz ging, doch immer noch fühlbar. »Mir geht es hervorragend, doch Gilles … Gilles hat nun schon zwei Jahre lang nichts von sich hören lassen.«
»Er hat dich verlassen? Oh, das tut mir leid. Ich mochte ihn gern. Das hätte ich ihm nicht zugetraut. Siehst du, wenn du bei uns in Köln geblieben wärst, dann hätte er niemals gewagt, die Nichte seines Patrons zu verlassen!«
»Es ist ihm Furchtbares geschehen, ehe er ging«, sagte Judith.
Paul zögerte. »Ich war damals zu jung, um es richtig zu verstehen, aber … wollte Vater eure Ehe nicht auflösen lassen, und bist du nicht deswegen geflohen?« Er sah so hoffnungsvoll aus wie damals, als sie ihm eine abenteuerliche Geschichte versprochen hatte, und sie ahnte, dass er ihr als Nächstes vorschlagen würde, nach Köln zurückzukehren, also sagte sie bestimmt: »Das war der Anlass, aber nicht die Ursache.« Etwas sanfter setzte sie hinzu: »Und ich hatte nie die Gelegenheit, dir für deine Hilfe beim Überbringen meiner Botschaft zu danken, Paul. Das war damals sehr lieb und tapfer von dir.«
»Vater sagte, es sei dumm gewesen«, gab er leise zurück, »und dass du in dein Unglück rennen würdest. Wenn dich Gilles verlassen hat, dann ist es ja auch so gekommen, oder?«
»Ich bin die Leibärztin der Königin. Sieht so Unglück aus?«
»Sag du’s mir, Base«, antwortete er, und da wusste sie, dass er nicht länger ein Junge war und von seinem Vater zumindest in Anfängen die Kunst des Gedankenspiels gelernt haben musste.
»Man ist hier nicht gut auf die meisten Kölner zu sprechen«, sagte sie warnend. »Du solltest dir lieber Gedanken um dein eigenes Wohlergehen machen, besonders wenn dein Vater dir einen Auftrag erteilt hat.«
Paul ergriff ihre Hände. »Ich bin hier, um dich zu retten, Base.«
»Vor der staufischen Sache? Der Wurf ist ausgespielt. Es muss euch in Köln nicht gutgehen, wenn dein Vater wieder versucht, die gleichen Gründe anzuführen, warum man nur ihn und die Welfen unterstützen sollte. Paul, du kannst ihm sagen, dass die Königin mich nicht fallen lassen wird. Philipp mag kein Ritter ohne Furcht und Tadel sein, und vielleicht nicht der beste König, doch besser als Otto ist er immer noch. In den Jahren an seinem Hof habe ich ihn nicht einmal einen Menschen zu seinem Vergnügen quälen sehen. Sag das deinem Vater. Er wird verstehen, was ich meine.«
Zu ihrer Überraschung schüttelte Paul ungeduldig den Kopf. »Nein, das sind alte Geschichten«, antwortete er. »Aber wenn du wirklich glaubst, was du meinst, dann bist du blind. Dein König mag keine groben Scherze treiben, aber er schreckt nicht vor gemeinem Mord zurück.«
»Philipp und Otto haben beide Blut auf dem Schlachtfeld vergossen. Das weiß ich nur zu gut, denn ich habe eine Menge davon an meinen eigenen Händen. Aber Kriegsknechte in eine Schlacht zu schicken, ist nicht Mord.«
»Einen hilflosen alten Mann umzubringen, das ist Mord«, gab Paul zurück.
Judith starrte ihn an. Er ließ ihre Hände nicht los und ähnelte ihren Brüdern mehr denn je, als er sich näher zu ihr beugte und ihr ins Ohr flüsterte. »Er wird seinen Kanzler ermorden lassen. Das hat Vater herausgefunden, und deswegen bin ich hier. Das ist der Mann, dem du dienst, Base.«
Das konnte nicht stimmen. Gewiss, die Feindseligkeit zwischen Heinz von Kalden und Bischof Konrad von Würzburg hatte dazu geführt, dass der Bischof sein Kanzleramt niedergelegt und angekündigt hatte, er wolle den Winter und das Weihnachtsfest in seinem Bistum verbringen, nicht am Hof des Königs. Gewiss, der Reichshofmarschall hatte offen erklärt, seiner Ansicht nach müsse Konrad irgendeinen Handel mit dem Papst abgeschlossen haben, um sein Bistum bestätigt zu bekommen; warum hätte er sich sonst selbst nach Rom bemüht, statt Boten zu schicken, und warum sollte der Papst ihm erst mit Exkommunikation gedroht und dann das Bistum doch bewilligt haben, obwohl Konrad weiterhin Philipp diente.
Doch selbst wenn man es von einem völlig distanzierten Standpunkt aus betrachtete und Philipp jede Schlechtigkeit zutraute, war das alles kein Grund, warum er, der ohnehin um jeden Kleriker an seiner Seite kämpfte, sich auf einen Schlag vor aller Welt als Herodes hinstellen sollte, indem er einen Erzbischof umbringen ließ. Was konnte er dabei gewinnen? Nichts. Zu verlieren hatte er nicht nur die wenigen Bischöfe, die auf seiner Seite standen, sondern auch seine Mehrheit unter den Fürsten, denn wenn diese bereit waren, ihn gegen Otto zu unterstützen, weil sie trotz päpstlichen Banns seinen Anspruch für besser als den Ottos hielten, dann würde gewiss ein Teil davon ablassen, wenn Philipp auf einmal als Mörder eines Priesters im Fürstenstand dastand.
»Das kann nicht sein«, sagte Judith laut. »Ganz gleich, was du und dein Vater von ihm halten, er hat alles zu verlieren und nichts zu gewinnen, wenn er so einen Befehl gibt.«
Die Pilger drehten sich zu ihr um, mit verwunderten und ungehaltenen Gesichtern wegen der Ruhestörung, und Judith senkte den Kopf. Paul begann hastig, das Paternoster zu beten, das sie inzwischen oft genug gehört hatte, um es zu erkennen. Trotzdem störte es sie ein wenig, es aus dem Mund ihres Vetters zu hören. Er hätte mit dem Schma Israel aufwachsen sollen, dachte sie und schalt sich töricht. Von all den Dingen, die sie ihrem Onkel vorwerfen konnte, war seine Konversion nicht dabei, und seine Kinder waren nie jüdischen Glaubens gewesen.
»Er wird den Befehl nicht geben müssen«, sagte Paul mit gesenkter Stimme, nachdem er das Gebet beendet hatte. »Heinz von Kalden erledigt schon jahrelang die Drecksarbeit für ihn.«
»Selbst Heinz von Kalden hat mehr zu verlieren als zu gewinnen. Außerdem wüsste ich nicht, dass er deinen Vater ins Vertrauen zieht, wenn er Mordanschläge plant«, flüsterte sie. Ihr eigener Wortwechsel mit dem Bischof vor zwei Jahren fiel ihr ein, und wie er damals ihre Gedanken, in Sizilien den Regenten abzugeben, ernst genommen hatte. Aber das war nicht geschehen. Er war aus Rom zurückgekehrt, nicht nach Palermo weitergezogen. Der Heilige Vater hatte ihm nicht die Vormundschaft über den jungen Friedrich anvertraut. Selbst, wenn Bischof Konrad in einer schwachen Stunde darüber geseufzt hatte, vielleicht in Gegenwart seines Dienstmanns Botho, und der das dem Reichshofmarschall weitererzählt hatte, dann war es doch nur ein gescheitertes Unterfangen gewesen. Nichts, was Philipp oder Heinz von Kalden bedrohte oder so verletzte, dass sie selbst Mord für besser hielten. »Warum sollte er diese Drecksarbeit erledigen?«, fragte Judith herausfordernd und so leise, wie es ging. »Was hätte er zu gewinnen, das all das wettmachen würde, was er und sein Herr verlieren könnten?«
Wieder näherte sich Paul mit seinen Lippen ihrem Ohr; seine Worte rannen wie Eistropfen über ihre Haut. »Er würde verhindern, dass Philipps Kanzler offen und mit allen Geheimnissen zu Otto übergeht.«
Nein, dachte Judith, weil es mit einem Mal einen unleugbaren Sinn ergab. Sogar, wie Stefan davon erfahren haben konnte. Durch Otto und den Bischof. Wenn Konrad von Würzburg tatsächlich einen Seitenwechsel plante, dann war das vorher abgestimmt und gab Philipp und Heinz von Kalden auch einen Grund, ihn daran zu hindern. Aber Mord? Warum Konrad nicht einfach festsetzen, Truppen nach Würzburg schicken und ihn als gutgepflegte Geisel in seinem Haus belassen? Das würde einen Seitenwechsel ebenfalls verhindern und Philipp die Todsünde eines Mordes ersparen, der ihm zur Last gelegt würde, ganz gleich, ob nun er oder Heinz von Kalden den Befehl dazu gab.
»Vater hat gewusst, dass du mir nicht sofort glaubst«, sagte Paul traurig. »Er hat mir aufgetragen, dir Folgendes auszurichten: Es ist deine Angelegenheit, was du mit diesem Wissen tust. Aber der Mann war einmal dein Patient, also ist es an dir, sein Leben zu retten, wenn du es kannst.« Er zögerte, dann setzte er hinzu: »Ich soll dir noch sagen: Wenn du ein Leben rettest, dann rettest du eine ganze Welt.«
Ein Teil von ihr, der in der Lage war, kalt zu bleiben, wenn sie Arterien reißen sah, damit ihre Finger fest blieben und Wunden zusammenpressen und flicken konnten, dieses Stück Beherrschung und ihr Verstand waren in der Lage, Stefan neidlos für diese Worte zu bewundern. Es war ein Zitat aus dem Talmud und setzte dem Ganzen die Krone auf, doch dessen hätte es gar nicht bedurft. Stefan kannte sie, in der Tat. Vielleicht hatte er jedes Wort erfunden, und weder plante Konrad einen Seitenwechsel noch Heinz von Kalden einen Mord, doch darauf bauen und einfach so zu tun, als hätte ihr Paul nichts erzählt, das brachte sie nun nicht mehr fertig. Wenn die Möglichkeit bestand, dann musste sie etwas unternehmen.
Der Rest von ihr, der nicht selbstbeherrscht war, brannte vor Zorn. »Um dein Leben scheint er sich dagegen keine Sorgen zu machen«, sagte Judith hart. »Wenn er dich ins Wespennest zu den mordlustigen Staufern schickt.«
»Er wusste, dass du mich beschützt«, sagte Paul.
Das Schlimmste war, dass Stefan auch damit recht hatte. Wenn Stefan selbst den Weg nach Nürnberg gemacht hätte, dann wäre sie vielleicht in der Lage gewesen, ihn Philipps Leuten als welfischen Spitzel zu benennen. Aber obwohl jedes Wort, das er bisher gesagt hatte, bewies, dass Paul nicht mehr der arglose Junge war, sondern ein Mann, der von seinem Vater gelernt hatte, hätte sie es nie fertiggebracht, ihn seinen Feinden zu überantworten.
»Wie großmütig von ihm«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
»Du brauchst überhaupt nicht nach Würzburg zu gehen«, sagte Paul ernst. »Es ist nur so, dass der Bischof dir viel eher glauben würde als mir. Vielleicht empfängt er mich überhaupt nicht.«
»Paul, du musst noch eine Menge lernen, wenn du Menschen lenken willst. Das war zu offensichtlich.«
Er ließ ihre Hände los, doch er trat nicht von ihr zurück. »Schau, natürlich wäre es gut für meinen Vater und seine Freunde, wenn Philipps Kanzler zu Otto überwechselt. Mit dir besteht eine gute Möglichkeit, dass es so kommt. Aber das heißt nicht, dass sein Leben nicht in Gefahr ist. Ganz gleich, was du über König Otto denkst, er hat keine Anstalten gemacht, Kain zu spielen, als sein Bruder zu Philipp übertrat. Der Pfalzgraf ist gesund und munter. Wenn du das Gleiche für den Kanzler beschwören kannst, sobald Heinz von Kalden davon erfährt, was er plant …«
Erst jetzt fiel ihr auf, was sie sofort hätte sehen sollen. »Und wie soll er es erfahren, Paul?«, fragte sie bitter. »Kann es sein, dass du nicht der einzige Gesandte deines Vaters in Nürnberg bist? Lass mich raten: Es soll ein Wettrennen werden, damit der Erzbischof auch wirklich die Seiten wechselt und er es sich nicht noch einmal überlegt. Nur darum geht es deinem Vater, seinen Freunden und Otto, nicht um seine Gesundheit, nicht um das Leben des Bischofs. Er soll keine Möglichkeit haben, seine Entscheidung rückgängig zu machen. Und für mich soll das Risiko, er verlöre sein Leben, der Ansporn sein. Noch ein Wettrennen, diesmal mit Heinz von Kaldens Leuten?«
Zum ersten Mal blickte Paul schuldbewusst drein, wie früher, wenn er zu viel Honigkuchen gegessen hatte. »Er war sehr zornig, als du gegangen bist«, murmelte er. »Aber er macht sich auch wirklich Sorgen um dich. Hilf uns, bitte.«
Sie dachte daran, wie Stefan Richildis’ Dienerin geopfert hatte. Es war ihm durchaus zuzutrauen, solche Bedingungen zu stellen: nicht mehr und nicht weniger als ein Menschenleben.
»Ich habe es nie gut vertragen, die Maus in einem Tretrad zu sein. Nein, ich werde den Erzbischof nicht ungewarnt sterben lassen, aber wenn dein Vater glaubt, dass er mich bewegen kann wie eine Figur auf einem Schachbrett, dann wird er feststellen, dass ich inzwischen ebenfalls spielen kann. Der Bauer ist zur Dame geworden, und Damen können sich auf dem Schachbrett bewegen, wohin sie wollen.«
Vor Walther gab sie sich weniger selbstsicher. »Ich kann zu Irene gehen, ja, aber obwohl ich glaube, dass sie dafür spräche, Konrad nur als Geisel zu nehmen, heißt das nichts.« Philipp und Irene standen einander nahe, und oft bat er sie um ihre Meinung, aber bei einer solchen Angelegenheit würde er wohl eher auf Heinz von Kalden hören. Dass dieser davor zurückschrecken würde, das Blut eines Bischofs zu vergießen, der mit allen Geheimnissen des Reiches vertraut war, erschien ihr dagegen immer unwahrscheinlicher, je mehr sie darüber nachdachte.
»Vielleicht könnte man einen Handel abschließen«, schlug Walther vor. »Das, was du gehört hast, und das, was der Bischof von Passau mir erzählte, lässt es doch so aussehen, als ob Philipp seinem Schwager dabei helfen will, Byzanz zu gewinnen. Und der einzige Grund, warum das den Papst für Philipp gewinnen könnte, ist, wenn Alexios verspricht, das Schisma zu beenden und die griechische Kirche wieder mit der römischen zu vereinen.«
Die Unterschiede zwischen dem römischen und dem griechischen christlichen Glauben hatten sie nie gekümmert. »Was lässt sich dadurch denn erhandeln?«
»Innozenz müsste ihn dafür zum Kaiser machen. Philipp kann aber nicht einen Erzbischof umbringen lassen, der noch dazu ein Jugendfreund des Papstes ist, und erwarten, dass er dann verkündet, Philipp sei nun doch der wahre deutsche König, und alle sollten seinem Banner gegen Byzanz folgen, damit die Kirche wieder geeint wird.« Walther legte die Stirn in Falten. »Vielleicht hoffen er und Heinz von Kalden, dass der Tod von Konrad wie ein Unfall wirkt, ganz gleich, was die Welfen behaupten, aber der Papst wird es niemals glauben. Nein, es ist in jeder Hinsicht der falsche Zeitpunkt, um ein solches Verbrechen zu begehen, ob Philipp dazu fähig ist oder nicht, und bedenke, der Mann ist in einem Kloster aufgewachsen.«
»Vielleicht kommt es aber auch genau umgekehrt«, sagte Judith und stieß heftiger in den Mörser, in dem sie Möhren zermahlte, die sie für einen Trank brauchte. »Vielleicht glaubt er, weil er dem Papst ein solches Angebot machen kann, wird der den Tod eines einzelnen Mannes übersehen.«
»Ich könnte nach Würzburg gehen«, schlug Walther vor.
»Nach den Liedern, die du in den letzten Jahren über den Papst verfasst hast? Konrad wird dich zwei Tage auf den Knien warten lassen, ehe er dich empfängt, doch dann ist er tot.«
Walther trat hinter sie und erfasste ihre Schultern. »Selbst wenn es so kommt«, sagte er ernst, »dann wäre es Philipps Schuld, die des Reichshofmarschalls und derjenigen, die diese Tat ausführen. Vielleicht auch die deines Onkels, weil er Heinz von Kalden eine Nachricht über die Pläne des Kanzlers zukommen lässt. Aber nicht deine.«
Es kam ihr über die Lippen, ehe sie es zurückhalten konnte: »Wegschauen und fortlaufen, wenn man weiß, dass ein Mord geplant ist, das macht einen nicht weniger schuldig.«
Sie spürte, wie ein kleiner Ruck durch ihn ging. »Das war es nicht, was du in Braunschweig gesagt hast«, sagte er tonlos.
»Es war nicht in Braunschweig, sondern irgendwo in Sachsen, und jetzt habe ich nicht dich gemeint.«
»Aber das ist es, was du wirklich glaubst, nicht wahr? Ein nicht verhinderter Mord ist immer noch Mord.«
Sie drehte sich zu ihm um. In den letzten zwei Jahren war er ihr vertraut geworden wie der Rücken ihrer Hand; manchmal war er blind, doch manchmal sah er klarer als sie selbst. Was diesmal der Fall war, wusste sie nicht. Aber sie konnte nicht lügen.
»Ja«, sagte sie leise. »Das glaube ich.«
Einen Herzschlag lang schwieg er. Sie konnte seine Miene nicht lesen, doch dann nickte er. »Dann sollten wir nach Würzburg gehen.«
Ein weiterer Beweis dafür, dass Paul die Tage seiner Kindheit hinter sich gelassen hatte, war, dass er sich nicht freute, Walther zu sehen. Stattdessen fragte er, ob sie mit einem Sänger, der ob seiner gegen den Papst gerichteten Lieder sogar in Köln bekannt sei, bei Bischof Konrad überhaupt vorgelassen werden würden.
»Ich bin nur dabei, um Euch und Eurer Base die Reise zu verkürzen«, sagte Walther, ohne zu lächeln.
»Wir werden aber doch die ganze Zeit reiten, und das so schnell wie möglich«, protestierte Paul. Dabei beließ er es jedoch.
Wie sich herausstellte, saß er zu Pferd, als sei er bestens mit langen Ritten vertraut; Judith fragte sich, ob er zwischenzeitlich viele Aufträge für seinen Vater so erledigte, und was sich Stefan dabei gedacht hatte, ihn ohne ein oder zwei erfahrene Söldner als Begleiter vom Rheinland hierherzuschicken. Als sie zum ersten Mal anhielten, um die Pferde zu tränken, wollte sie deshalb wissen, ob er denn wirklich ohne Begleitung den ganzen Weg nach Nürnberg alleine gemacht habe.
»Mit einem Tross kommt man nicht so schnell vorwärts.« Er schaute zu Walther. »Ihr reist doch auch meist alleine, Herr Walther?«
»Inzwischen bin ich um einen Knappen reicher geworden«, gab Walther höflich zurück, wiewohl ihm nicht entgangen war, dass Paul weder ja noch nein zu Juttas Frage gesagt hatte. »Aber Ihr habt recht, alleine kommt man schneller voran. Man riskiert allerdings auch viel mehr, und es gibt für Waffenunkundige wie mich die beunruhigende Aussicht, irgendwo auf jemanden zu stoßen, der sein Interesse an mir auf tödliche Weise ausdrücken will, nur um an meine Schuhe oder mein Pferd zu kommen.«
»Dann solltet Ihr lernen, mit dem Schwert zu kämpfen, Herr Walther. Ich habe es getan.« Paul klang bitter, als er, an Judith gewandt, hinzufügte: »Man kann in den letzten Jahren nicht in Köln leben, ohne kämpfen zu lernen. Zumindest nicht, wenn man jung und gesund ist, ganz gleich, ob Kaufmannssohn, Bäcker oder Edelmann. Weißt du, Jutta, in all den Geschichten, die ich früher von Erwachsenen hörte, war nie davon die Rede, wie man sich fühlt, wenn einem Kameraden gerade der Bauch aufgeschlitzt worden ist, weil er seine Stadt gegen einen verfluchten Schwaben verteidigt. Wenn du bei uns geblieben wärst, wären dir die Patienten wahrlich nicht ausgegangen.«
»Das sind sie auch bei den verfluchten Schwaben nicht«, entgegnete Judith und versuchte, ein Schuldgefühl zu unterdrücken, das in ihr aufstieg. Es war nicht so, dass ihre Anwesenheit in Köln irgendeinen Unterschied für Paul gemacht hätte; der Krieg würde so oder so noch toben. Für Paul war es bestimmt sogar ein Vorteil, dass er nun mit Waffen umgehen konnte. Juden war das Tragen von Waffen verboten, sie waren quasi vogelfrei, konnten sich nicht wehren, obwohl Gewalt den Tagesablauf überall bestimmte. Das Schicksal war ihm durch Stefans Übertritt erspart geblieben. Ob er sich dessen bewusst war? Und trug sie irgendeine Verantwortung für das, was in Köln geschehen war? Nein!
Es sei denn, dass Otto die Mitgift von Marie von Brabant in die Lage versetzt hätte, sich genügend Fürsten zu kaufen, um Philipp zu besiegen … Es sei denn, dass sein Bruder, der Pfalzgraf, nie die Seiten gewechselt hätte … Es sei denn …
Diese Gedanken führten nicht weiter.
»Gut«, sagte Paul heftig. »Ich hoffe, jeder Einzelne von ihnen starb so schmerzhaft wie möglich.«
»Da kennt Ihr Eure Base schlecht.« Walther legte Judith eine Hand auf den Arm. Sie wusste nicht, ob er es als Trost oder als Mahnung zur Zurückhaltung meinte, doch sie war dankbar. Was auch immer in Würzburg geschehen würde, sie war nicht alleine, und das bedeutete ihr viel. Es kam ihr in den Sinn, dass so mancher der Männer, die sie geheilt hatte, diejenigen gewesen sein konnten, die Pauls Freunde getötet hatten. Genau, wie es Paul gewesen sein konnte, der für einige der Krüppel und Toten unter ihren Händen verantwortlich war. Der gleiche Paul, der früher nur nach Drachen und Einhörnern gefragt hatte.
Sie schaute ihn an und hatte keinen Zweifel daran, dass er meinte, was er gerade gesagt hatte, dass er wusste, was ein langer, qualvoller Tod bedeutete, und ihn trotzdem den Anhängern Philipps wünschte. Also auch ihr? Hatte Paul daran gedacht, als er das sagte? Nein, sie gehörte zu seiner Familie. Zusammenhalt in der Familie ging über alles.
Unerwartet stieg in ihr Hass gegen Otto, Philipp und all die Fürsten auf, die um Kronen kämpften und dabei Menschen wie Stroh verbrannten. Was für ein sinnloses Gefühl. Manchmal wünschte sie sich, sie könne mehr wie Walther sein. Es war nicht so, dass er nie Schuldgefühle hatte, doch er verfügte über die beneidenswerte Fähigkeit, das zu ignorieren, was er nicht ändern konnte, und stattdessen nach der nächsten Gelegenheit Ausschau zu halten, wo er eingreifen konnte.
Sie begegneten auf dem Weg nach Würzburg keinen Räubern, nur einem Tross von Gauklern und einer kleinen Schar Bewaffneter, die nach Bamberg unterwegs waren und der Familie der Andechs-Meranier unterstanden. Einer ihrer Sprösslinge war in Bamberg Dompropst; offenbar war der Nachfolger des verstorbenen Bischofs selbst schon wieder auf dem Weg ins Sterbebett, obwohl der Papst ihn noch nicht einmal bestätigt hatte. »Man muss halt darauf achten, dass der nächste Erzbischof Seiner Heiligkeit besser passt, so wie Konrad«, sagte der Anführer des Trupps mit einem Augenzwinkern, nachdem er hörte, dass sie nach Würzburg unterwegs waren, und verabschiedete sich.
Sie waren zu spät aufgebrochen, wollten ihre Pferde wegen der noch vor ihnen liegenden langen Strecke aber auch nicht zuschanden reiten, um es noch vor Einbruch der Nacht nach Würzburg zu schaffen. Im Dunkeln zu reiten, war viel zu gefährlich, und es war inzwischen kalt genug, dass es in der Nacht schon schneien konnte. »Es wäre hilfreich zu wissen, wann und wie Euer Herr Vater den Reichshofmarschall unterrichtet hat«, sagte Walther zu Paul, als sie vor der Wahl standen, im nächsten Dorf für die Nacht Obdach zu suchen oder noch eine Weile weiterzureiten.
»Der Bote und ich sind getrennt voneinander losgeschickt worden«, gab Paul zurück, »und ich weiß nicht, um wen es sich handelt, damit ich es nicht verraten könnte, wäre ich gefangen und gefoltert worden. Mein Vater hat nicht viele Männer, die Zugang zu einem der ranghöchsten Männer am staufischen Hof besitzen.«
»Aber er hat offenbar einen. Seltsam, dass er dann niemanden kennt, der auch Zugang zum Bischof von Würzburg besitzt, und für die Glaubwürdigkeit der Nachricht jetzt Eure Base benötigt«, sagte Walther, obwohl sie alle drei wussten, dass Stefan hundert Spitzel in Würzburg haben konnte, dieser Umstand aber keine Rolle spielte. Wieder empfand Judith gleichzeitig Bewunderung und Abscheu für die Art und Weise, mit der ihr Onkel seine Fäden spann. Aber er hatte sich schon einmal in ihr geirrt, und sie würde ihn auch dieses Mal überraschen.
»Heißt das, Ihr habt zu viel Angst, um im Dunkeln zu reiten? Heinz von Kaldens Leute haben das gewiss nicht!«
»Dann mögen sich seine Leute den Hals brechen, sollten sie überhaupt unterwegs sein«, entschied Judith, da sie annahm, dass ein Mann, der losgeschickt wurde, um einen Bischof zu ermorden, durchaus Zeit dafür hatte und keinen Grund, bei unsicheren Wegen sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. »Wir werden es jedenfalls nicht tun, Vetter. Wenn ich tot bin, dann wird der Erzbischof auf die Gnade Gottes angewiesen sein. Bei Sonnenaufgang können wir weiterreiten.«
Der Müller der Wiesenmühle bei Oberschwarzach war bereit, sie für etwas Geld bei sich nächtigen zu lassen. Nachdem die Entscheidung gefallen war, zeigte sich Paul als vernünftig und erfahren genug, um sich ohne weitere Umstände neben Judith und Walther auf die Strohsäcke und unter die ausgebreiteten Umhänge zu legen, die ihnen als Lager dienten, um Körperwärme zu teilen.
»Jutta«, sagte er in das Dunkel hinein, »du wirst es nicht bedauern, dass du die Staufer verlässt, glaub mir.« Sie antwortete nichts. Auch Walther schwieg. »Du weißt, dass du nicht zurückkannst, nicht wahr?«, fragte Paul und klang beunruhigt. »Deine Königin mag dich schätzen, aber der Staufer wird dir gewiss nicht verzeihen. Für ihn wird es so aussehen, als wärst du für Bischof Konrads Verrat verantwortlich.«
»Lass mich raten, Vetter«, sagte sie traurig. »Falls er nicht allein auf den Gedanken kommt, hat dein Vater für alle Fälle einen weiteren Boten beauftragt, Philipp genau das mitzuteilen?«
Sie hörte Paul schlucken. Dann entgegnete er: »Er glaubt eben, dass du nicht immer weißt, was am besten für dich ist.«
Ihre Hand stahl sich in Walthers und drückte sie. Am Ende war es ein Glück, Paul hier zu haben und nicht Stefan, der gewusst hätte, dass ihr Schweigen bedeutete, dass sie bereits ihre eigenen Pläne geschmiedet hatte. Doch was auch immer am nächsten Tag geschehen würde, sie konnte keinen Weg erkennen, der einen guten Ausgang für alle Beteiligten versprach.
Der Morgen brachte noch immer keinen Schnee, aber scharfen Wind. Judiths Gesicht war taub von der Kälte, als sie Würzburg erreichten. Die Stadtwache ließ sie, Walther und Paul ohne weiteres durch; sie waren mit dem König so oft hier gewesen, dass man sie erkannte.
Hinter dem Tor verabschiedete sich Walther von ihnen. »Um nicht den Zugang zum Bischof durch meinen Ruf zu erschweren«, sagte er mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. »Ich werde in der Schenke Zum Roten Adler warten.« Paul blickte verwundert, doch wirkte erleichtert.
»Es ist nicht so, dass ich seine Lieder nicht schätze«, sagte er zu Judith, während sie auf die Feste zuhielten. »Man singt sie sogar in Köln. Und sie sind viel besser als die der anderen großen Sänger, finde ich. Mit deren entsagungsvoller Liebe habe ich mich nie anfreunden können, aber sag das Mutter nicht. Die Sache ist nur die, ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass ein Jugendfreund des Papstes glücklich über …«
»Deswegen hat er sich ja zurückgezogen«, sagte Judith knapp.
»Hast du ihn geheiratet?«, platzte es aus Paul heraus.
Sie war überrascht. Es war eine Frage, in der sie keinen Hintergedanken erkennen konnte, und sie wünschte sich, Paul wäre wirklich nichts als ihr kleiner Vetter, der sie vor langer Zeit einmal verdächtigt hatte, mit Walther fortlaufen zu wollen.
»Ich bin verheiratet«, gab sie zurück. Es war die offizielle Wahrheit: Ihre Ehe mit Gilles war nie aufgelöst worden, wenn sie denn überhaupt mangels einer vorhergegangenen Taufe Gültigkeit hatte, was sie bezweifelte. Diese Überlegung behielt sie seit Jahren für sich, weil sie den Schutz nicht verlieren wollte, unter dem sie als verheiratete Frau und vermeintliche Christin stand. Sie hatte auch niemandem verraten, dass ihre Ehe mit Gilles nach jüdischem Recht nicht bestand; selbst, wenn sie von hundert Rabbinern gesegnet worden wäre, war die Ehe mit einem Nichtjuden nicht gültig. Auch Walther müsste Jude werden, damit sie in ihren eigenen Augen mit ihm verheiratet wäre, und sie wusste, dass so ein Übertritt von ihm nicht zu erwarten war. Er mochte dem Papst zürnen und gerne über gierige Bischöfe und Priester spotten, aber er hatte sein Christentum selbst nie in Frage gestellt. Im Gegenteil. Wenn ihre Ehe mit Gilles nicht bestünde, würde Walther sie sofort in einer Kirche heiraten wollen, und wenn sie ihm eröffnete, dass sie nicht die geringste Absicht hatte, sich ohne Zwang und Bedrohung ihres Lebens von einem Priester taufen und trauen zu lassen, dann würde ein Streit zwischen ihnen vom Zaun brechen, der sich nicht so schnell beilegen ließ. Also war es weit besser, für die Welt die Gemahlin eines verschollenen Christen zu sein. Das traf auf mehr und mehr Frauen zu, je länger der Krieg dauerte, und niemand bezweifelte ihre Geschichte. Walther sagte sie, dass sie lieber der Ehrlichkeit seiner Liebe vertraue als irgendeinem gesetzesmäßigem Bund, vor allem, weil sie seine Meinung über Gesetze kannte. Da er ein Mann war, glaubte er ihr.
»Ich wünschte, du wärest nicht aus Köln weggegangen«, sagte Paul. Judith seufzte. Ihr Blut strömte wieder schneller durch die Adern, und sie spürte, wie kalte Starre einem prickelnden Brennen wich.
»Was geschehen ist, ist geschehen, Vetter.«
»Ja«, sagte er und warf ihr einen eigenartigen Blick zu. »Und wir können nur alle versuchen, das Beste daraus zu machen, nicht wahr?« Er klang drängend, als sei es ihm sehr wichtig, dass sie ihm zustimmte, und sie nickte.
Sie befanden sich zwischen Stadtkern und Feste, als Judith Menschengeschrei hörte, ein Wirrwarr, das nur von einer aufgebrachten Menge stammen konnte, hoch und nieder wogend wie brechende Wellen, die ihr entgegenschlugen. Sie beschleunigte ihre Schritte, dem Geschrei entgegen; bald konnte sie einzelne Worte ausmachen.
»Mord! Mord!«
»Greift ihn, fasst ihn, schlagt ihn tot!«
»Mord!«
Sie spürte kein Entsetzen. Sie spürte überhaupt nichts, nur das Brennen in ihren Adern.
»Greift den Ravensburger!«
Was war das? War der Mörder erkannt worden?
Schon strömten ihnen schreiende, heulende Menschen entgegen, Frauen, die sich die Haare rauften, Männer, die sich mit Knüppeln bewaffnet hatten. Judith griff sich eine der Frauen.
»Was ist geschehen, Gevatterin?«
»Man hat unseren hochwürdigsten Herrn Erzbischof erschlagen, auf dem Weg zum Dom! Einer von seinen eigenen Leuten!«
»Botho war’s, Botho von Ravensburg, sein eigener Dienstmann«, schluchzte eine andere Frau und taumelte voller Verzweiflung und Trauer davon.
»Gott sei seiner Seele gnädig«, murmelte Judith, weil es die erwartete Antwort war und sie das Kaddisch nicht sprechen durfte. Alles in ihr brannte vor Zorn. Sie wirbelte herum und presste Paul mit ungeahnter Kraft gegen die nächste Hauswand, beide Hände auf seinen Schultern. »Wie fühlt sich Blut an deinen Händen an, auch wenn du es nicht selbst vergossen hast?«
»Aber du« widersprach er und starrte sie mit erschrocken aufgerissenen Augen an.
Judith gab ihm noch einen Stoß. »Tu nicht so, als ob du es nicht gewusst hast!«
»Ich wusste, was du wusstest! Dass ein Bote unterwegs ist! Wenn wir durchgeritten wären …«
»Versuch erst gar nicht, mir etwas vorzumachen«, sagte Judith kalt. »Dein Vater hätte Mord oder Warnung nie dem Zufall überlassen, o nein! Noch nicht einmal Philipps oder Heinz von Kaldens Befehl, weil er nicht mit völliger Gewissheit wissen konnte, was sie tun würden. Er hat deshalb entschieden, dass Philipps Kanzler auf Ottos Seite zwar ein Vorteil wäre, aber eben doch nur ein zeitweiliger, genau wie Ottos Bruder auf Philipps Seite. Aber ein toter Märtyrer? Das könnte den Ausschlag geben. Ganz gleich, was ich gesagt oder getan hätte, Konrad war für euch schon seit Wochen ein toter Mann.«
»Aber … aber wenn du wusstest, wieso bist du dann mit mir gekommen?«, fragte Paul fassungslos.
Sie packte ihm am Kragen und begann, ihn zu schütteln. »Weil ich gehofft habe, dass ich mich irre! Oder es doch noch verhindern zu können. Paul, ein Mann ist tot, nicht, weil er dich angegriffen hat, nicht, weil er deine Freunde angegriffen hat, sondern weil das ein paar Kölnern so ins Zeug passte, und einer davon bist du!«
»Aber …«
»Er war so lebendig wie du und ich, Paul«, schrie Judith und ließ ihn los. »Er mochte Schweinebraten und Lieder. Er bildete sich ein, krank zu sein, wenn ihn seine Sorgen zu sehr drückten. Er war kein Heiliger, er liebte seine Ämter und Einkünfte so sehr wie die meisten Menschen, aber er scheint auch das Beste aus ihnen gemacht zu haben. Sieh dich doch um: Die Menschen hier, die trauern um ihn. Sie lechzen jetzt nach Blut. Was glaubst du, was sie tun, wenn sie erfahren, dass hier einer von denen ist, die Botho den Mord aufgetragen haben?«
Nun zitterten seine Lippen; all die erlernte Härte war von ihm abgefallen. »Das würdest … das würdest du nicht tun, Jutta.«
Sie trat noch einen Schritt an ihn heran und flüsterte ihm ins Ohr, so, wie er es bei ihr in der Kirche getan hatte: »Was hat dein Vater für mich geplant? Nur das will ich wissen. Warum wollte er mich unbedingt an diesem Tag in Würzburg haben?«
»Woher …«
»Glaubst du, ich bin dumm?«, fuhr sie ihn an, um ihm keine Zeit zum Nachdenken zu geben. »Wenn du wissen möchtest, was Walther jetzt gerade tut: Er spricht mit Bothos größtem Rivalen unter den Dienstleuten darüber, dass die Welfen versuchen, den Staufern einen Mord anzuhängen, mit Hilfe des bestochenen Bothos von Ravensburg. Wir sind eine Zeitlang mit diesen Männern gereist, Paul, und das hat genügt, um uns zu zeigen, wie sie zueinander stehen. Wer bestechlich ist und wer nicht.« »Walther hat doch überhaupt nicht wissen können, dass es Botho sein würde«, sagte Paul verzweifelt, was bestätigte, dass er es gewusst hatte, die ganze Zeit schon. Enttäuschung sickerte in den Zorn, der Judith aufrechterhielt, und fing an, ihn zu zersetzen. Sie versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen, und noch weniger, dass sie log; Walther hatte seit Jahren mit den Dienstleuten des Bischofs kein Wort mehr gewechselt und konnte sich außer an Botho bestimmt an keinen von ihnen erinnern. Sie hatte hoch gespielt und gewonnen, aber freuen konnte sie sich nicht.
»Das war nicht schwer zu erraten«, sagte sie deshalb so verächtlich wie möglich. »Botho ist der Neffe des Reichshofmarschalls. Nur er konnte den Mord riskieren, ohne dafür sofort gevierteilt zu werden.«
Das Geschrei in der Stadt wurde von mehr und mehr Kehlen aufgenommen; mittlerweile schienen die Schreie aus jedem Haus widerzuhallen.
»Es ist deine Schuld«, flüsterte Paul. »Du hättest nicht fortgehen sollen. Seit du in Brabant warst, haben die Schwierigkeiten mit König Otto nicht mehr aufgehört. Er hat Vater nie wieder vertraut, und der Erzbischof auch nicht. Dann hat König John auch noch versucht, die englischen Vergünstigungen für Köln zu verringern, um Geld zu sparen. Aber dieser Tod, den wird Philipp nicht mehr los, ganz gleich, was dein Walther den Leuten erzählt. Auch der Papst wird nichts anderes glauben und nie verzeihen. Jetzt kann er Ottos Seite gar nicht mehr verlassen.«
»Und Otto wird Stefan so dankbar sein, dass er ihn zu seinem Lieblingsratgeber macht?«, fragte Judith hart.
»Nicht allein dafür«, erwiderte Paul wütend und ängstlich zugleich. »Er wird Vater dankbar sein, weil er … weil er endlich dich bekommt!«
Judith trat zurück. Ihre Arme sanken zur Seite.
»Was?«, fragte sie ungläubig.
»Schau mich nicht so an! Es ist ein gutes Schicksal, Geliebte eines Königs zu sein! Genau wie …«
»Wenn du Esther sagst, schlage ich dir ins Gesicht, Vetter, also lass es lieber!« Es würgte sie in der Kehle, und sie wusste, dass sie ihre Selbstbeherrschung nicht mehr lange aufrecht halten konnte. »Wenn dein Vater wirklich glaubt, dass jemand wie Otto mehr von mir will als eine Stunde, in der er sich für eine Kränkung rächen kann, dann hat er den Verstand verloren.«
Sie wusste nicht, ob diese Möglichkeit schlimmer oder besser war als die, dass es Stefan durchaus klar war, dass Otto nie die Rolle des König Xerxes spielen würde, und dass ihr Onkel trotzdem bereit war, ihm seine Nichte zu verkaufen, um seinen Verlust an Einfluss wieder wettzumachen.
»Sprich nicht so über meinen Vater! Du bist die Verräterin«, stieß Paul hervor. »Du hast ein gutes Leben gehabt bei den mörderischen Schwaben, während sie meine Freunde umgebracht haben. Ich wünschte, ich hätte dir nie geholfen, dann wäre das alles nicht geschehen!«
Sie bemerkte, dass er über ihre Schulter blickte. Die Zeit, in der sie ihn überrumpelt und die Wahrheit aus ihm herausgeholt hatte, war vorbei. Jetzt durfte sie nicht darüber nachdenken, was ihr das neue Wissen bedeutete, sie musste ihr Leben retten. Mit wem auch immer Paul verabredet war, um die Falle zuschnappen zu lassen, stand nun wohl nicht weit hinter ihr.
Judith duckte sich zur Seite, keinen Moment zu spät, denn aus den Augenwinkeln sah sie, wie zwei Hände an ihr vorbeigriffen und eine große Schulter gegen Paul stieß. Sie rannte die Gasse entlang, während Pauls Stimme hinter ihr etwas rief, das sie nicht verstand. Am Ende der Gasse konnte sie zwei weitere Männer sehen, die eindeutig nicht so wirkten, als gehörten sie zu den aufgebrachten Würzburgern; dazu standen sie zu gelassen da, fast auf den Zehenspitzen wippend, die Arme leicht ausgebreitet, auf Judith wartend. Hinter sich hörte sie Schritte. Das Schreien und Wehklagen der Menge wurde lauter, und Judith wusste, dass sie nur dann entkommen würde, wenn es ihr gelang, unter den entsetzten Bürgern der Stadt unterzutauchen, selbst auf die Gefahr hin, von dem Menschenstrom erdrückt zu werden. Ohne langsamer zu werden, brüllte sie, so laut sie konnte: »Dort stehen die Mörder! Rächt Bischof Konrad!«
Die beiden Männer vor ihr machten verdutzte Gesichter. Einer drehte sich unwillkürlich zu der breiteren Straße um, in welche die Gasse mündete und durch die inzwischen halb Würzburg zu ziehen schien. Judith setzte alles auf einen Wurf. »Hier sind die Mörder«, schrie sie noch einmal und deutete auf die beiden. Sie sah, wie sich wütende Gesichter in die gewiesene Richtung drehten und auf sie und die beiden Männer zustürmten; obwohl auch die beiden Häscher noch dort standen, lief Judith direkt auf sie zu und in das Getöse aus Entsetzen und Rachlust hinein.