Kapitel 45

Der Patriarch von Aquileja war für einen lange überfälligen Besuch in Passau, um in seinem alten Bistum nach dem Rechten zu sehen, was es für Walther erheblich einfacher machte, ihm einen Besuch abzustatten. Er überredete Markwart, mit ihm zu kommen, teils, weil sein Freund es immer noch übelnahm, für nicht gut genug befunden worden zu sein, um die kleine Kaiserin durch das Reich zu geleiten, teils, weil er viel zu guter Stimmung war, um alleine zu reisen, und für Markwart konnte er problemlos eine Erlaubnis bei Beatrix erreichen.

»Du hast das unanständigste Grinsen auf dem Gesicht, das ich je bei einem erwachsenen Mann gesehen habe«, sagte Markwart. »Heißt das, zwischen dir und deinem Mädchen ist endlich wieder alles geregelt?«

»Es heißt, dass die Welt ein wundersamer Ort ist, mein Freund, an dem die übelsten und die herrlichsten Dinge geschehen können und wo hin und wieder, wenn man sehr viel Glück hat, ein Neuanfang möglich ist. Wie du selbst wissen solltest.«

»Ich weiß, wie du aussiehst, wenn du mit jemandem im Bett warst, an dem dir etwas liegt, und wie du aussiehst, wenn du in eine deiner neuen Ideen vernarrt bist. Deine Miene ist gerade eine gefährliche Mischung aus beidem. Bitte denk daran, dass du immer noch nicht über Wasser gehen kannst, und ich schon gleich gar nicht. Was genau willst du beim Patriarchen?«

»Was ich immer bei ihm will«, entgegnete Walther. »Ihm meine Lieder spielen und hören, was er selbst Neues zu erzählen hat. Mit etwas Glück gibt es noch einen Pelzmantel, dann kannst du meinen alten bekommen.«

»Als Mitglied des kaiserlichen Haushalts habe ich bereits einen Mantel für den Winter, wenn auch nur aus Schafsfell«, sagte Markwart, aber von da an galt es als ausgemacht, dass er Walther begleiten würde. Auf dem langen Weg nach Passau nahm sich Markwart löblich zusammen und fragte nicht nach Einzelheiten, doch er versuchte mehr als einmal, ihn bezüglich seiner Pläne für die Zukunft auszuhorchen. »Du wirst zu alt für das ständige Herumziehen, mein Freund. Es ist an der Zeit, sich niederzulassen, das hast du selbst einmal zugegeben. Gewiss, der Tod von König Philipp hat alles verändert, aber bei all den Liedern wider den Papst, die du für Otto singst, könnte er dir inzwischen so gewogen sein, dass er bereit ist, dir ein Lehen zu geben. Vor allem, wenn du wieder Heiratspläne hegst.«

Es lag Walther auf der Zunge, zu sagen, dass er lieber auf einen Kreuzzug ziehen würde, als Judith eine Hochzeit unter Ottos Fittichen zuzumuten. Da sie Beatrix nicht verlassen würde, solange diese noch mit Otto vermählt war, kam auch eine gemeinsame Flucht nicht in Frage. Aber dergleichen zu erklären, hätte bedeutet, Markwart in etwas einzuweihen, das ihm den Hals kosten könnte. Also antwortete er ausweichend: »Nichts wäre mir lieber, als wenn der Kaiser deine Meinung teilte. Doch wie es scheint, braucht er noch ein wenig Zuspruch.«

»Sind wir deswegen nach Passau unterwegs?«, fragte Markwart.

»Den Papst würde ich weder als Fürsprecher gewinnen können noch wollen, doch der Patriarch von Aquileja ist der mächtigste deutsche Kirchenmann«, gab Walther zurück. »Kannst du dir einen besseren Fürsprecher denken?«

Das war nicht gelogen, denn er hatte ein Anliegen, er hoffte wirklich, dass der Patriarch sich dafür einsetzen würde, nur war es eben nicht ein Lehen für sich. Zumindest jetzt noch nicht.


In Passau war Wolfger damit beschäftigt, von morgens bis abends Bittsteller anzuhören und mit den Bistumsklerikern deren Handlungen der letzten Jahre durchzugehen, doch Walther und Markwart erhielten einen Platz in der Residenz. Am zweiten Tag fand Wolfger eine freie Stunde für ihn.

»Ist es nun fertig, das Lied von den Nibelungen?«, fragte Walther, als man sie alleine gelassen hatte. Wolfger schenkte ihm ein müdes Lächeln.

»Ich bin im letzten Jahr kaum zum Dichten gekommen, Herr Walther. Außerdem muss ich gestehen, dass ich davor zurückscheue, es enden zu lassen, denn es tut weh, jene Menschen umzubringen, die mir in all ihrer Düsternis ans Herz gewachsen sind.«

»Dann könnt Ihr Euch kein anderes Ende vorstellen als den Tod für alle?«

»Nun, für Kriemhild und Hagen gibt es keinen Ausweg. Sie könnten sich nie verzeihen, was sie einander angetan haben, und Kriemhilds Brüder begehen Verrat, ganz gleich, wem sie die Treue halten. Nein, ich fürchte, die letzten Zeilen meines Liedes werden nur aus Blut und Tränen geschrieben sein.«

Jetzt kommt es darauf an, dachte Walther. »Das ist gewiss das rechte Ende für Euer Lied«, sagte er langsam, »doch in der Wirklichkeit fände ich es besser, daran zu denken, dass es noch andere Enden geben kann. Selbst in einer scheinbar hoffnungslosen Lage wie einem Zwiespalt zwischen Kaiser und Papst.«

Der freundliche alte Mann und Mitdichter war von einem Moment zum anderen verschwunden; Wolfger fasste ihn streng ins Auge. Walther wurde sich einmal mehr bewusst, warum sein Gegenüber alle anderen deutschen Bischöfe hinter sich gelassen und an die Spitze gekommen war. »Herr Walther, ist Euch bewusst, dass Ihr schon vor Jahren für Eure Verse in einem Kerker hättet verschmachten oder zumindest eine Hand hättet verlieren können, wenn ich nicht die meine stets über Euch halten würde? Treibt es nicht zu weit!«

Die Erinnerung an die Leiche von Gilles kehrte zurück, an den beinlosen Körper, und das Bewusstsein, dass er selbst auf diese Weise nie hätte leben können. Ihm kamen auch Marktplätze in den Sinn, wo er Menschen die Zunge auf einem Nagelbrett hatte verlieren sehen, Menschen ohne Beschützer, die sich gegen einen Mächtigen ihres Ortes ausgesprochen hatten.

Aber zu viel stand auf dem Spiel, um jetzt noch der Angst zu gestatten, Oberhand in ihm zu gewinnen.

»Ihr habt mich einmal gebeten, mich um des Friedens willen zurückzuhalten«, sagte Walther, »und ich habe es getan, Euer Gnaden. Sosehr mich mein eigenes Wohl kümmert, so gibt es Dinge, die mir noch mehr am Herzen liegen. Als Otto König und Kaiser wurde, habe ich wie alle anderen gehofft, dass es zum Besten des Reiches geschähe, und meine Bedenken zurückgeschoben, weil es bedeutete, dass endlich Frieden einkehrte. Aber nun zeigt sich, dass schon wieder der Bann über dem Reich um seines Herrschers willen liegt, und Ihr wisst, dass weder Otto noch der Papst jemals nachgeben werden. Ihr seid nicht Kriemhilds Bruder, Euer Gnaden, der eine Seite verraten muss, um für andere in den Tod zu gehen, ganz gleich, wie blutbefleckt sie ist. Ihr habt eine der wenigen Stimmen, die Gewicht beim Heiligen Vater haben.«

»Wenn meine Stimme bei ihm Gewicht hat«, entgegnete Wolfger ausdruckslos, »dann weil er weiß, dass ich ihn nie um etwas bitten würde, das der Mutter Kirche schadet. Herrn Ottos Ansprüchen auf Sizilien seinen Segen zu erteilen, würde den Heiligen Stuhl wieder zum bloßen Siegel der Kaiser machen, wie er es unter dem alten Kaiser Rotbart war.«

»Otto ist nicht der einzige gewählte deutsche König. Der Mann, auf den das länger zutrifft, ist das ehemalige Mündel des Heiligen Vaters«, sagte Walther, alles auf diesen einen Wurf setzend. Damit hatte er zugegeben, dass seine öffentliche Parteinahme für Otto nichts als Trug war. Wolfger erhielt so die Möglichkeit, ihn aller kaiserlichen Unterstützung und schlechtestenfalls seines Lebens zu berauben.

»Sein Mündel«, bestätigte Wolfger, ohne sich Zustimmung oder Ablehnung anmerken zu lassen, »aber auch ein Staufer.«

»Sein Mündel, das von keinem anderen Staufer erzogen wurde, sondern aufwuchs mit Lehrern, die von Seiner Heiligkeit bestimmt waren. Sein Mündel, das Seiner Heiligkeit alles verdanken würde und dem ein Kind geboren ist. Wenn der Papst die Kronen von Sizilien und dem Heiligen Römischen Reich nicht auf demselben Haupt sehen will, dann gibt es ein Vorbild dafür, eine davon an das Kind weiterzugeben«, sagte Walther mit aller Überzeugungskraft, zu der er imstande war. »Ihr wisst, was ich für den Papst empfinde, und ich tue es gerade deswegen, weil er der machtbesessenste seit Menschengedenken ist. Wenn Herr Otto Kaiser des Heiligen Römischen Reiches bleibt und seine Eroberung des Königreichs Sizilien erfolgreich beendet, dann wird Seine Heiligkeit nicht als mächtigster der Päpste in die Geschichte eingehen, sondern – mit und ohne Verlaub – als ein Dummkopf, der sich von einem Welfen hat übertölpeln lassen. Meinem eigenen Groll würde der Gedanke große Befriedigung bereiten, doch der Teil von mir, der über mich selbst hinausdenkt und sich fragt, ob Herr Otto sich wirklich als der Mann bewiesen hat, den ich als den mächtigsten des Erdkreises sehen will, der Teil schaudert.«

Drei steile Falten standen in die Stirn von Wolfger gegraben, doch er erwiderte nichts. Auch Walther ergriff nicht wieder das Wort. Noch mehr hinzuzufügen hätte die Wirksamkeit seiner Rede nur abschwächen können. Er mochte nicht auf dem Wasser wandeln können, aber er hatte über viele Jahre gelernt, seine Worte zu Waffen zu schmieden. Und Wolfger, der in der Welt und in der Kirche gelebt hatte und die Macht des Wortes besser kannte als die meisten, war von allen Menschen der, welcher am besten beurteilen konnte, ob die Klinge, die ihm Walther entgegenstreckte, bloße Gleisnerei war oder ein Schwert, mit dem man Drachen töten konnte.

»Herr Walther«, sagte Wolfger endlich, »Ihr solltet Euch lieber daranmachen, neue Lieder zu dichten, als bei mir zu sitzen.«

Walthers Herz sank.

»Schließlich werdet Ihr bald einen neuen König haben, den es dem Volk zu vermitteln gilt«, fuhr Wolfger fort. Um seine Lippen spielte ein winziges Lächeln.

* * *

Als Diepold von Schweinspeunt hörte, der Kaiser habe den Befehl widerrufen, die Schiffe für das Übersetzen des Heeres auf die Insel Sizilien zu bemannen, und der Bote keine Erklärung dazu abgeben konnte, stapfte er erbost zur Feste von Reggio, wo der Kaiser residierte, und schüchterte genügend Wachen ein, um vorgelassen zu werden. Er fand einen Otto vor, der sich von dem siegesgewohnten Mann, mit dem er noch am Vorabend getafelt hatte, erheblich unterschied. Dieser Otto brütete über einer Pergamentrolle.

»Euer Gnaden …«

»Diese Hunde«, sagte Otto dumpf. Dann schlug er mit der Faust auf den Tisch. »Diese dreckigen Verräter!«

Schweinspeunt hatte keine Ahnung, auf wen sich der Kaiser beziehen konnte, jetzt, da alles so gut für ihre Sache stand.

»Euer Gnaden?«

»Dieser blutlose Eunuch in Rom war nicht damit zufrieden, mich zu bannen, nein. Jetzt hat er den deutschen Fürsten freigestellt, einen neuen Kaiser zu wählen. Nicht nur einen neuen deutschen König, nein, einen neuen Kaiser! Und wisst Ihr, was die Herren getan haben, statt ihn auszulachen?« Ottos Stimme war mit jedem Wort lauter geworden. Bei der letzten Frage sprang er auf und packte Diepold von Schweinspeunt beim Kragen. »Schwört, dass Ihr nichts davon gewusst habt!«, brüllte der Kaiser und schüttelte ihn. »Schwört es!«

Schweinspeunt hielt sich mit einigem Recht für einen abgehärteten alten Kämpen, aber aus nächster Nähe geschüttelt zu werden und den Speichel eines wutentbrannten Otto im Gesicht zu spüren, war trotzdem keine angenehme Erfahrung, zumal es seit zwanzig Jahren niemanden mehr gegeben hatte, der sich dergleichen hätte herausnehmen dürfen.

»Was, mein Kaiser?«

»Die treulosen Schweine, die sich deutsche Fürsten nennen, haben das Balg von Sizilien in Nürnberg zum König und Kaiser gewählt!«, brüllte Otto.

Das war ein Schlag, aber gewiss doch mehr ein lächerlicher als ein schwerer, fand Schweinspeunt. In einem für ihn seltenen Versuch, behutsam zu sein, um den Kaiser keinen Dummkopf zu nennen, räusperte er sich und meinte: »Dann nehmen wir eben nicht nur einen Zaunkönig gefangen, sondern ein Kaiserlein. Ihr werdet herzlich darüber lachen können, wenn Ihr ihn in einem Käfig zurück ins Reich mitnehmt.«

»Nein«, sagte Otto finster. »Wenn Friedrich nur einen Funken Verstand besitzt, dann hat er sich schon in Sicherheit gebracht. Wenn wir uns hier verzetteln und nach ihm suchen, stehen wir mit der Insel in der Hand da, während das Reich verlorengeht.«

»Aber er hat keine Truppen«, sagte Schweinspeunt, der es nicht fassen konnte, auf das Offensichtliche hinweisen zu müssen. »Die Fürsten können ihn zehnmal zum König erklären, er hat keinen einzigen Ritter mit Kriegsknechten, der diesen Worten auch Taten folgen lassen kann. Worte sind billig, und die Fürsten geben ihm bestimmt kein Geld, bis er sich bewiesen hat.«

Otto kehrte an den Tisch zurück und starrte erneut auf das Pergament. »Sie haben ihre eigenen Truppen, diese Verräter, außerdem ein paar französische, zusammen mit französischem Geld. Wie es scheint, hat der König von Frankreich beschlossen, er müsse dem Wunsch des Heiligen Vaters Folge leisten und der sogenannten Gerechtigkeit«, er spie das Wort beinahe aus, »zum Sieg verhelfen.«

»Aber wenn Ihr erst in Palermo einzieht, dann …«

»Ich werde nicht in Palermo einziehen! Nicht jetzt.«

»Was?«, fragte Diepold von Schweinspeunt fassungslos, alle Ehrerbietung vergessend.

»Ich werde heimkehren«, knurrte Otto, »und einen Haufen Herren an ihre Vasallenpflichten erinnern und daran, wer der einzig wahre König ist, der Erbe von Welfen und Staufern gleichermaßen. Sie werden mir alle mit Blut, Schweiß und erheblich mehr Steuern für diese Ungeheuerlichkeit bezahlen!«

»Mein Kaiser«, sagte Schweinspeunt verzweifelt, denn er konnte es nicht fassen, dass ein wegen seiner soldatischen Fähigkeiten berühmter Mann um seiner Rachsucht willen einen solchen Fehler machen würde, »das werden sie umso mehr, wenn Ihr als siegreicher Herr Siziliens wiederkehrt.« Hilfreich fügte er hinzu: »Vor allem, wenn Ihr mit dem Zaunkönig so verfahrt wie einst Kaiser Heinrich mit dem letzten Normannen auf dem Thron. Lasst ihn entmannen und blenden, dann wird ihn auch der dümmste deutsche Fürst nicht mehr Euch vorziehen. Welch besseren Weg kann es geben?«

»Schweinspeunt, Ihr vergesst Euch! Seid Ihr hier der Herr, oder bin ich das? Ihr seid nur dazu da, um meine Befehle auszuführen, genau wie der Rest des Geschmeißes. Und wenn ich sage, wir kehren um, dann, bei Gott, kehren wir um!«

»Ihr seid der Herr«, bestätigte Diepold von Schweinspeunt bitter und war fest überzeugt, dass der Kaiser einen Fehler machte. Er konnte nur hoffen, dass es ein Fehler war, der die Rückeroberung Siziliens lediglich aufschob, statt sie unmöglich zu machen.

Mit einem jähen Stimmungsumschwung verzogen sich Ottos Lippen zu einem Grinsen, dem jedoch jeglicher Humor fehlte. »Betrachtet mich einfach als einen eifrigen Bräutigam, mein Freund. Es ist an der Zeit, um meine Ehe zu vollziehen. Wenn mein teures Weib erst einen Erben für mich in die Welt setzt, wird keiner von den alten Staufervasallen mehr in Versuchung kommen, auch nur in Gedanken mit Verrat zu spielen. Ich werde mein Haus bestellen, bei Gott, und es in einem Zustand zurücklassen, in dem es keiner mehr wagt, mir je wieder ein solches Messer in den Rücken zu jagen!«

* * *

Die Nachricht vom Nürnberger Fürstentreffen und der Wahl, an der nicht nur viele weltliche, sondern auch die meisten geistlichen Fürsten teilgenommen hatten, ließ die Residenz des Kanzlers in Speyer zum aufgescheuchten Bienenstock werden. Er musste sich sagen, dass Otto ihm nie glauben würde, dergleichen sei ohne sein Wissen vor sich gegangen.

»Entweder«, sagte Beatrix zu Judith, »mein Gemahl hält ihn für einen Verräter oder für unfähig. Schließlich muss eine solche Abstimmung lange vorbereitet worden sein. Um die Fürsten zu gewinnen, gleich zu wählen, hat es gewiss mehr als eines einzigen Briefes des Heiligen Vaters bedurft, und doch hat keiner etwas von Boten erzählt, geschweige denn vom Inhalt der Briefe, um eine Verschwörung in diesem Maßstab durchzuziehen.« Sie wirkte alles andere als kindlich, als sie Judith musterte. »Ich habe mir die Fürsten nennen lassen, die in Nürnberg für meinen Vetter Friedrich gestimmt haben. Und wisset, jeder Einzelne von ihnen gehörte zu denen, die ich auf meinem Kaiserinnenritt besucht habe.«

Judith wusste nicht, ob sie stolz auf den Verstand des Mädchens war oder beunruhigt und beschämt, weil es nun für Beatrix offenkundig sein musste, was da hinter ihrem Rücken vor sich gegangen war. Leugnen war sinnlos.

»So ist es, Euer Gnaden.«

»Ihr hättet es mir sagen sollen«, meinte Beatrix leise.

»Dann hätte ich Euch dazu ermutigt, Euren Gemahl und Euren Vormund zu hintergehen, und Ihr hättet sie entweder wissentlich belügen müssen, oder ich wäre aller Möglichkeit beraubt gewesen, das in die Wege zu leiten, was nun eingetreten ist.«

»Stattdessen«, gab das Mädchen heftig zurück, »habt Ihr mich behandelt wie ein dummes Kind. Ihr habt mich ausgenutzt.«

Es tat weh, das zuzugeben, doch es war der Preis, den man für Unwahrhaftigkeit bezahlen musste, das wusste sie nur zu gut aus eigener Erfahrung. »Ja«, sagte Judith und versuchte nicht, sich weiter zu rechtfertigen. Zu verharmlosen, was sie getan hatte, hieße Beatrix’ Verstand zu beleidigen. Wenn das Mädchen klug genug war, sie zu durchschauen, dann war sie auch klug genug, um die Gründe für ihr Verhalten zu begreifen.

»Ich dachte, Ihr liebt mich«, sagte Beatrix. Ihre Lippen zitterten. »Ich dachte … Nun, das war dumm von mir. Ihr habt Euch nur rächen wollen, nicht wahr? Deswegen seid Ihr bei mir geblieben. An mir hat Euch nie etwas gelegen.«

»Ich bin bei Euch geblieben, weil Ihr mir am Herzen liegt und weil ich es Eurer Mutter versprochen habe«, sagte Judith bestürzt. Es kostete sie einiges an Überwindung, aber sie war bereit, sich und auch Beatrix zu gestehen, dass sie eine Tochter für sie geworden war. Sie würde nie eigene Kinder haben, jetzt nicht mehr. Es war töricht, so für ein Fürstenkind zu empfinden; aber Beatrix, die schon immer Walthers Liebe zum Wort geteilt hatte und in den letzten Jahren auch Judiths zur Heilkunst, Beatrix, die Irenes Stolz, Mut und Lebhaftigkeit besaß, Beatrix war in allem das Kind, das sie nie haben würde. Judith öffnete den Mund, um das auszusprechen, doch Beatrix kam ihr zuvor.

»Nein. Ihr fühlt Euch schuldig, weil Ihr meine Mutter habt sterben lassen. Ihr hättet sie retten können, aber Ihr habt sie sterben lassen, so ist es doch! Lediglich das wolltet Ihr wiedergutmachen, deswegen seid Ihr zuerst bei mir geblieben, und dann war es nur noch die Rache an meinem Gemahl, die Euch bei mir gehalten hat! Aber Ihr könnt überhaupt nichts wiedergutmachen. Ihr habt mir meine Mutter genommen, nicht nur einmal, sondern zweimal!«

Jedes Wort war wie ein Schlag ins Gesicht. Sie meint es nicht so, versuchte Judith sich zu sagen, sie ist nur verletzt und wütend, weil ich sie belogen habe, und so jung, da muss sie sich rächen. Aber dergleichen verstandesgemäße Argumente halfen ihr nicht gegen das Gefühl, für ihre Lügen in Fetzen gerissen zu werden.

»Beatrix«, begann Judith, zu entsetzt, um noch auf den Rang des Mädchens zu achten.

»Wir wollen Euch nie wiedersehen, Magistra«, sagte die junge Kaiserin eisig. »Seid unbesorgt, Wir werden Euch nicht an Unseren Gemahl verraten, aber Wir wollen nicht, dass Ihr noch länger Unser Auge mit Eurer Gegenwart beleidigt. Nie wieder.«


Wenn Walther in Speyer gewesen wäre, hätte er wohl versucht, mit Beatrix zu sprechen, doch er befand sich in Wien, um einen möglichen Platz dort vorzubereiten, wenn Otto erst wieder im Lande war. Leopold von Österreich war nicht nur der Enkel einer Byzantinerin, sondern seit ein paar Jahren auch mit einer verheiratet, Irenes Base Theodora. Damit war es nicht unmöglich, dass er Beatrix im Fall einer Annullierung ihrer Ehe an seinem Hof aufnehmen würde, und er war reich und mächtig genug, dass Otto es sich nicht leisten konnte, ihn zu befehden, nicht, wenn er ohnehin genügend andere Sorgen hatte. Überdies hatten die Herzöge von Österreich nie mit den Welfen Freundschaft gehalten; Leopold schuldete Otto nicht das Geringste und war nur sein Verbündeter, solange Otto mit der letzten Stauferin verheiratet war. Wien war Walther und Judith daher als der beste Ort erschienen, um ihn Beatrix als neue Heimat vorzuschlagen, bis ihr Vetter, so Gott wollte, als nächster Herrscher fest im Sattel saß. Und auch, falls der junge Friedrich scheiterte.

Walther nachzureisen, war keine Lösung, denn dabei konnten sie einander leicht verfehlen, wenn er bereits auf dem Rückweg war. Überdies wollte Judith sich nicht zu weit von Speyer entfernen. Sie hoffte, dass Beatrix nur etwas Zeit brauchte, um sich zu beruhigen, und dann willens war, sie anzuhören. Außerdem war ihr Versprechen an Irene nicht mit einem Streit zu Ende. Wenn sie allerdings daran dachte, wie lange sie selbst gebraucht hatte, um Walther zu verzeihen oder auch nur wieder bereit zu sein, mit ihren Verwandten zu sprechen, dann hatte Judith wenig Hoffnung, dass es mit Beatrix’ Zorn und Verletzung schnell vorbei sein würde.

Jedes Wort des Mädchens hallte in ihrem Kopf wider. Aber versteh doch, argumentierte Judith stumm, es ging nicht nur um Rache, nicht nur das, was er mir angetan hatte, sondern um das, was er noch tun könnte, dir und Menschen im Reich, bei der Macht, die er nun hat!

Sie schaute in den Bronzespiegel, der zu ihren Instrumenten als Ärztin gehörte, und kam sich wie die schlimmste Heuchlerin vor, denn sie wusste sehr wohl, dass die Sorge um alle anderen Menschen nicht genügt hätte, um sie vor Würzburg zum Handeln gegen Otto zu treiben. Eine einzige Nacht hatte alles verändert. Am Ende war sie nicht besser als Stefan, vielleicht sogar schlechter, denn der hatte nie aus eigener Verletzung heraus gehandelt.

Dieser Gedanke war es, der sie zu einer Entscheidung kommen ließ. Sie beschloss, nach Köln zu gehen, und schärfte Lucia ein, ihr umgehend einen Boten zu senden, wenn Beatrix bereit war, wieder mit ihr zu sprechen. Köln lag nahe genug, dass sie innerhalb weniger Tage nach Speyer zurückkehren konnte; außerdem gab es dort einiges, was sie zu tun hatte.

»Am Ende ist es vielleicht besser, wenn Ihr wegbleibt«, sagte Lucia. »Ich habe Euch gern, Magistra, das wisst Ihr. Aber die Imperatrice und ihre Schwestern, die sind wie meine Kinder.«

»Ich liebe sie ebenfalls«, sagte Judith mit tauben Lippen.

»Ja«, sagte Lucia und tippte ihr mit dem Finger auf die Stirn, »aber das, was da drin vorgeht, das ist immer wichtiger für Euch. Wie ein Mühlenrad ist Euer Verstand, immer zwei, drei Drehungen voraus, und Ihr hört immer mehr auf ihn als auf Euer Herz. Das ist nicht gut, wenn man ein Kind hat.« Sie seufzte. »Aber ich will Euch einen Boten senden, wenn sie ihre Meinung ändert, das verspreche ich.«

Judith nannte Lucia das Hospital, in dem sie zu erreichen sein würde, und schiffte sich dann nach Köln ein.

Ihre Vaterstadt und das Umland waren dabei, sich von den Wunden der letzten Kriege zu erholen; man merkte, dass seit Jahren keine Belagerung und keine Verwüstung mehr stattgefunden hatten. Diesmal war niemand bei ihr, den sie als Lockvogel zu Stefan schicken konnte, also drückte sie einem der Knechte seines Hauses eine Botschaft in die Hand und wartete am Grab ihrer Mutter auf dem jüdischen Friedhof. Sie hatte bereits den Stein, den sie aus Salerno mitgebracht hatte, hingelegt und die Gebete gesprochen, als Stefan auftauchte.

»Lass mich raten«, sagte er. »Du trägst Verrat im Herzen, und das bringt dich zu mir.«

»Ich trage Versöhnung im Herzen, und vielleicht gilt das Gleiche für dich«, entgegnete sie. »Oder nur die Kehrseite dieser Münze.«

Ihr Onkel musterte sie. »Es ist kein Fürsprecher, den du diesmal brauchst«, stellte er fest. »Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, du brauchtest Absolution, aber im Gegensatz zu mir hast du nie die Taufe empfangen, die das möglich macht.«

»Glaubst du denn wirklich, dass ein christlicher Priester die Macht hat, dir zu vergeben?«, fragte Judith überrascht, denn sie hatte sein Christentum nie als mehr als eine Tünche gesehen.

»Ich glaube, dass wir alle jemanden brauchen, der uns vergibt«, entgegnete Stefan. »Und wenn Gott ein paar Münder benutzt, die ihre Berufung darin sehen, zu vergeben, wer bin ich, um diese Gabe zurückzuweisen, da ich doch ohnehin Abgaben an sie bezahle? Das ist ein guter Handel.«

»Du würdest nicht mit mir sprechen, wenn du glaubtest, dass sie dir vergeben könnten. Dabei möchte man meinen, dass alles gut für dich steht und liegt. Du hast den Kaiser, den du wolltest, Onkel, und die Vorteile für Köln. Sag mir – und ich frage das ohne Hohn oder Bitterkeit –, war es das alles wert?«

Zunächst schwieg er und legte selbst einen Stein auf das Grab ihrer Mutter. Dann drehte er sich ruckartig zu ihr um. Auf seinem Gesicht zeigte sich eine eigenartige Mischung aus Stolz und Zorn. »Warst du es?«, fragte er heftig. »Die Wahl in Nürnberg? Ich hätte es wissen müssen. Ich selbst hätte es nicht besser machen können. Nun beginnt der Krieg von neuem, König wider König. Sag mir, Nichte, ist es das wert?«

Anders als bei Beatrix’ Vorwürfen, die ihr die Kehle zugeschnürt hatten, gab ihr sein Zorn die Freiheit, zu atmen.

»Der Krieg hat nie aufgehört, Onkel. Ein Mann an der Macht, der Unrecht im Blut hat, braucht keine Schlachtfelder, um Krieg zu führen. Er führt ihn gegen seine eigenen Untertanen, wenn er ihn nicht gegen Fremde führt, nur ist es ein Krieg, den ihr Männer nur allzu leicht überseht und entschuldigt. Aber frag die Frau des Bürgermeisters von Goslar. Frag die geprügelten Diener in jeder Residenz. Frag die Töchter von Breisach. Frag mich! Und frag all die Menschen südlich der Alpen, die nicht deine Sprache sprechen und deren Städte gerade ein weiteres Mal verwüstet wurden. Es war kein Frieden, den dein Kaiser brachte, nicht für eine Stunde seiner Herrschaft, und ihm ein Ende zu machen, das ist Gerechtigkeit.«

»Wir werden sehen, ob du mit deiner Antwort leben kannst«, sagte Stefan. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, so leicht und kurz, dass sie sich nicht die Mühe zu machen brauchte, sie abzuschütteln, ehe er sie wieder zurückzog und sich zum Gehen wandte. »So wie ich mit der meinen.«

* * *

Es war Anselm von Justingen, der die Gesandtschaft der deutschen Fürsten anführte, die Friedrich von Hohenstaufen die Krone anbieten sollte. Da sie über Wien reiste, fragte Walther ihn kurzerhand, ob er mitkommen könne.

»Ihr seid die Zunge des Reiches, Herr Walther. Gewiss, Ihr habt bisher für Otto gesungen, aber es müsste doch möglich sein, dass Ihr ein anderes Lied singt, ein besseres Lied«, sagte Justingen und stürzte sich in eine Aufzählung von Gründen, die für Friedrich und gegen Otto sprachen. »Und schließlich«, gestand er, »macht es sich einfach besser, wenn wir dem König sagen können, dass sein Volk nach ihm ruft, nicht nur die Fürsten, und ihm den Beweis gleich mitbringen.«

»Da Ihr ihn auffordern wollt, ein sicheres Königreich für einen Thron aufzugeben, auf dem derzeit noch ein anderer mit vielen Waffen und reichlich Geld sitzt, kann ich verstehen, warum Ihr noch mehr Überzeugungskraft braucht«, gab Walther unschuldig zurück. »Wie viel ist Euch die Stimme des Volkes denn wert?«

Es war ein Glück, dass Anselm von Justingen keine Ahnung von Walthers wirklichen Überzeugungen hatte, sonst wäre der Preis, zu dem er sich bequemte, erheblich geringer ausgefallen. Am Ende klopfte ihm Walther zufrieden auf den Rücken. Selbst, wenn man die Summe abzog, die er einem Boten nach Speyer würde bezahlen müssen, um Judith davon zu unterrichten, sie könne mit Beatrix, wenn nötig, nach Wien kommen, blieb noch genügend übrig, um ihn für ein halbes Jahr über die Runden zu bringen.

»Ich folge Euch mit Freuden, Herr Anselm.«

* * *

Judith gelang es, sich in einem der Hospize als Ärztin für Reisende und Bettler zu verdingen, was es ihr ermöglichte, in Köln zu leben, bis sie von Beatrix oder Walther hörte. Es tat gut, sich wieder um Patienten kümmern zu müssen, mit denen sie nichts verband als deren Krankheiten. Sie legte Verbände an, trug Salben auf, verabreichte Tränke; hin und wieder nahm sie sogar Eingriffe vor, wenn die Patienten wagemutig genug waren, um sie von einer Frau durchführen zu lassen, doch niemals empfand sie mehr dafür als die Befriedigung über eine gelungene Ausübung ihres Berufes. Dabei versuchten die Menschen durchaus, sie öfter in Gespräche einzubeziehen, die nichts mit ihren Krankheiten zu tun hatten.

»Hört, Frau Judith, was haltet Ihr von dem jungen Nikolaus?« Es war eigenartig, von allen wieder mit ihrem Namen in seiner wahren Form angesprochen zu werden, aber es war ein Entschluss gewesen, den sie gefällt hatte, als sie in Köln eintraf und sich bei der Stadtwache ausweisen musste.

»Er sollte lieber Schreiben und Lesen lernen, als sich im Predigen zu üben«, entgegnete sie. Der Junge, von dem die Rede war, tauchte in Köln seit ein paar Wochen an allen Ecken und Enden auf und machte die Prediger in den Kirchen nach, die zum Kreuzzug aufriefen, nur dass er die Ansicht vertrat, nur sündenlose Kinder könnten das Heilige Land befreien. Es war das Unsinnigste, was Judith je gehört hatte, doch das behielt sie für sich.

»Ich frage mich, was der Kaiser dazu sagen wird. Schließlich hat er ja selbst einen Kreuzzug gelobt bei seiner Krönung.«

»Vielleicht führt er ihn ja durch, um den Papst zurückzugewinnen«, gab Judith zurück, obwohl sie das nicht glaubte.

»Ganz gewiss nicht. Habt Ihr denn nicht davon gehört? Er ist wieder im Lande! Hat die Kaiserin zu sich gerufen nach Nordhausen, um nochmals mit ihr Hochzeit zu feiern, diesmal richtig, wenn Ihr versteht, was ich meine«, gab der Pilger zurück, dem sie den Knöchel verband, und zwinkerte ihr zu. Sie brauchte alle Selbstbeherrschung, derer sie fähig war, um mit dem Verbinden fortzufahren.

»Nach Nordhausen, wirklich? Was tut er dort?«

»Krieg gegen den Landgrafen von Thüringen führen, den Verräter.«

Ihr Erspartes genügte, um sich ein Pferd zu sichern, aber nicht für einen Leibwächter. Sie versuchte, ein weiteres ihrer Bücher zu verkaufen, ihren kostbaren Galen, aber die Medici in Köln, die in Frage kamen, besaßen alle schon ihre eigenen Abschriften oder konnten sich ihren Preis nicht leisten. Also schluckte sie ihren Stolz hinunter und ging zu ihrem Onkel.

»Das kann nicht dein Ernst sein«, sagte Paul. »Für wie dumm hältst du uns?«

All ihre klugen Lügen, ihre guten Argumente ließen Judith im Stich, jetzt, wo sie diese am dringendsten benötigte. »Ich kann sie nicht im Stich lassen«, flüsterte sie. Ihre Stimme war heiser, als hätte sie sich die Kehle wund geschrien. »Sie ist meine Tochter.«

»Was redest du für einen Unsinn, Base, du hast kein Kind!«

»Paul«, sagte ihr Onkel, der sie nicht aus den Augen gelassen hatte, »begleite Judith nach Nordhausen.«

»Aber …«

»Tu, was ich sage. Es ist richtig so.«


Wetter, Wind und Straßen waren zur Abwechslung ganz auf Judiths Seite, und es gelang ihr in fünf Tagen, das kaiserliche Lager bei Nordhausen zu erreichen. Diesmal machte sie sich nicht die Mühe, zu baden oder aus ihren verdreckten Kleidern zu schlüpfen, ehe sie nach der Kaiserin fragte. Sie hatte damit gerechnet, Paul als Bürgen zu benötigen, doch als die Nennung ihres Namens und Titels genügte, damit man sie sofort durchließ, beschlich sie ein sehr eigenartiges Gefühl.

»Der Kaiser hat befohlen, dass alle Ärzte sofort zur Kaiserin gebracht werden«, sagte der Wächter, mit dem sie zu tun hatte. »Er hat reiche Belohnung dem versprochen, der sie heilen kann.«

»Die Kaiserin ist krank?«, fragte Paul, da Judith stumm blieb. Der Mann nickte. »Und seit wann?«

»Genau weiß ich das auch nicht, aber gesehen hat sie keiner mehr außerhalb ihrer Kemenate seit der … äh … seit der Hochzeitsnacht vor zwanzig Tagen.«

Die Nacht in Würzburg, das Sterben von Richildis, der Anblick von Gilles und das Bewusstsein ihrer eigenen Verantwortung dabei, der Tod von Irene: Das alles war im unterschiedlichen Grad schrecklich für sie gewesen. Aber der Anblick von Beatrix auf ihrem Lager, der Geruch von altem und neuem Blut, weil sie von Ottos Feldarzt zur Ader gelassen wurde, den vielen Schnitten an ihrem Arm und den Fußknöcheln nach nicht zum ersten Mal, ihr eingefallenes, graues Gesicht und die unverwechselbaren Zeichen, die Judith darin las: Das war das Schlimmste.

»Hört sofort auf!«, fuhr sie den Feldscher an.

»Aber ihre Säfte müssen doch …«

»Denus septenus vix phlebotonum petit annus!« Judith musste sich zurückhalten, um ihn nicht zu erwürgen. »Vor dem Erreichen des achtzehnten Geburtstags darf man niemanden zur Ader lassen. Und selbst dann nicht bei vorherigem Blutverlust! Sie ist vierzehn!«

»Aber …«

»Wenn Ihr nicht sofort diesen Raum verlasst«, schrie sie, »dann werde ich dafür sorgen, dass man Euch wie ein Stück Vieh an einem Fleischhaken aufhängt.«

Etwas an ihr, ganz gleich, wie verstaubt und abgehetzt sie aussehen mochte, flößte ihm offenkundig Furcht ein, denn er floh. Judith stürzte neben dem Lager auf die Knie.

»Magistra«, flüsterte Beatrix, »Magistra, seid Ihr das?«

Ihre Augen waren offen, aber sie huschten umher, als sei sie nicht mehr in der Lage, fest in eine Richtung zu schauen. Gelblicher getrockneter Speichel klebte an ihren Mundrändern.

»Ich bin es, mein Liebstes«, sagte Judith, mit der zärtlichen Stimme, die sie nie einem Kind geschenkt hatte, ohne sich weiter von irgendetwas zurückhalten zu lassen.

»Es tut mir leid, dass ich Euch weggeschickt habe. Ihr … ich wusste es nicht. Ihr hattet recht.« Ihre Finger, kalt und klamm nach den zahlreichen Aderlässen, tasteten nach Judiths. »Es hat so weh getan, Magistra«, sagte Beatrix mit erstickter Stimme. »Und dann habe ich geblutet. Er hat gesagt, das wäre immer so, aber es hat nicht mehr aufgehört, und der Feldscher hat gemeint, die Weiber von Salerno wüssten nichts, als ich ihm verboten habe, mich zur Ader zu lassen.«

Judith musste die Decke nicht zurückschlagen, um den Rest zu sehen: schwärende Wunden, Dammbruch, Blutvergiftung.

»Er wird dich nie wieder anfassen«, sagte sie. Beatrix hielt ihre Hand mit der Stärke, zu der sie noch imstand war.

»Doch, das wird er«, gab sie zurück, und sie wussten beide, dass Beatrix nicht von dem Feldscher sprach. »Wieder und wieder und wieder.«

Als ein Schatten über sie fiel, nahm Judith an, dass es sich um den Feldscher handelte, drehte sich nicht um und sagte: »Bei dem Fleischerhaken bleibt es nicht. Ich werde auch dafür sorgen, dass sie Euch die Eingeweide bei lebendigem Leib herausreißen.«

Der Schatten blieb und rührte sich nicht. Judith wandte den Kopf und sah, dass es Otto war. Auch auf seinem Gesicht waren die Anzeichen unverkennbar. Zum ersten Mal, seit sie ihm in einem anderen Leben am österreichischen Hof begegnet war, stand dort reine Angst geschrieben. »Ihr könnt sie heilen, nicht wahr?«

Die Hand des Mädchens in der ihren zuckte zusammen. »Macht, dass er weggeht«, sagte Beatrix und wirkte von Wort zu Wort jünger. »Bitte macht, dass er weggeht.«

»Himmelherrgott noch mal, niemand stirbt an so etwas«, stieß Otto hervor.

Wie aus weiter Ferne hörte sich Judith sagen: »Verschwindet.«

»Niemand stirbt daran«, wiederholte er. »Hört, ich werde wirklich gut bezahlen, wenn sie am Leben bleibt. Verdammt, ich werde mich sogar entschuldigen. Bei ihr. Bei – sogar bei Euch, wenn es sein muss. Aber bringt mir das Mädchen wieder auf die Beine! Ich brauche sie.«

Natürlich tat er das. Schließlich war sie das Unterpfand seines Anspruchs auf Sizilien und auf die Treue der alten Stauferanhänger. Gott bewahre, dass ein so kostbares Staatssiegel Schaden nahm, nur weil Otto ein wenig grob damit umgegangen war. Mehr war sie für ihn nicht.

»Es ist so dunkel«, murmelte Beatrix, obwohl es helllichter Tag war und das Zimmer, in dem man sie untergebracht hatte, ein Fenster besaß. Dann krampfte sich ihre Hand in der von Judith zusammen – und erschlaffte.

Judith legte ihren Kopf auf die Brust des Mädchens und weinte. Otto schrie und brüllte irgendetwas, Drohungen oder Versprechungen, sie wusste es nicht; längst schon hörte sie ihn nicht mehr.

Das Spiel der Nachtigall
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