Kapitel 20

Unter Leopolds Regentschaft hatte der Hof in Wien nichts an seiner Betriebsamkeit und seinem Glanz verloren. Wie es schien, war Philipp nicht der Einzige, dem Bischof Wolfger Boten gesandt hatte: Die Nachricht von der Krankheit seines Bruders hatte ihn bereits erreicht, und noch mehr als das.

»Seine Heiligkeit der Papst ist gestorben«, sagte Leopold, »und die Kardinäle sind zusammengetreten, um seinen Nachfolger zu wählen. Ich bin natürlich willens, Herzog Philipp zu unterstützen, doch gewiss kann es nicht schaden, zu warten. Der nächste Papst wird gewiss das Seine zur Wahl unseres neuen Königs zu sagen haben.«

Wenn Walther nicht innerhalb des letzten Jahres wiederholt die Gelegenheit gehabt hätte, mit mehreren Fürsten über die Angelegenheiten des Reiches zu sprechen, hätte er sich vielleicht daran erinnert, dass Leopold um einiges empfindlicher und adelsstolzer als Friedrich war und weit weniger für spitzzüngige Scherze empfänglich. Stattdessen sagte er unüberlegt genau das, was er dachte: »Wenn man bedenkt, was es derzeit kostet, um vom Erzbischof von Köln eine Empfehlung für eine Wahl zu hören, weiß ich nicht, ob es eine gute Idee ist, den Papst dazu zu befragen, Euer Gnaden.«

Leopold starrte ihn ungläubig an. Unter den Höflingen um ihn lachten ein oder zwei, nur kurz, bis auch sie in das eisige Schweigen ihres Herrn einstimmten.

»Ich will hoffen, dass eine derartig respektlose Bemerkung über den Heiligen Vater nie wieder über Eure Lippen dringt, Herr Walther«, sagte Leopold scharf. »Wir sind hier nicht in einem Schankhaus, wo solche Zoten vielleicht am Platz wären. Wollt Ihr behaupten, dass dergleichen am Hof Philipps geduldet wird?«

Vieles in Walther drängte ihn dazu, das zu bejahen. Um Leopolds Gesicht zu sehen; weil es ihm nicht wirklich wichtig war, was Leopold von Philipp dachte; weil es Walthers Ansicht nach nichts gab, für das er sich entschuldigen musste, denn was er gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Doch dann erinnerte er sich an das qualvolle Sterben des alten Herzogs und die Furcht seiner Familie, der Mann würde wegen des Bannes, der auf ihm lag, geradewegs in die Hölle fahren, und musste zugeben, dass Leopold Grund hatte, sich mit dem Heiligen Stuhl gut stellen zu wollen.

»Herr Philipp ist ein frommer Sohn der Kirche«, sagte er stattdessen, was weder ein Ja noch ein Nein war, doch Leopold genügte.

»Das will ich hoffen«, entgegnete der Herzog der Steiermark. »Ihr könnt gehen, Herr Walther.«

»Ich habe ein Lied für Euren edlen Bruder …«

»Ihr könnt gehen.«

Das kam einem Hinauswurf so nahe, wie es Walther noch nicht geschehen war. Er wanderte einigermaßen benommen durch die Gänge, ehe er bemerkte, dass ihn seine Füße zum Gemach Reinmars führten. Dieser war nicht unter den Höflingen um Leopold gewesen, sondern saß in einen warmen Pelz gehüllt mit seinem Knappen zusammen bei einem Würfelspiel, ein wenig grauer, ein wenig faltiger, doch ansonsten unverändert.

»Schau, wer eingeflogen ist«, sagte er, als er seinen Schüler erblickte; seine Stimme war leicht belegt. Walther lächelte.

»Ein gerupfter Hahn, wie es derzeit aussieht, Reinmar. Es wird dir gewiss zu Ohren kommen, aber mir scheint, Herr Leopold schätzt Bemerkungen über den Heiligen Vater und dessen Sorge um Macht und Geld noch weniger als du.«

»Nun, ich bin sicher, es wird dir bald wieder gelingen, dich mit neuen Federn zu schmücken«, gab Reinmar trocken zurück und schickte seinen Knappen, um Wein für den Gast zu holen.

»Solange du mich nicht beschuldigst, dass es fremde Federn sind …«

»Walther«, sagte Reinmar kopfschüttelnd, »deine Lieder sind zu erzürnend, um von irgendjemand anderem zu stammen.«

»Hast du das von Frankfurt gehört?«, fragte Walther schamlos neugierig, denn obwohl er im letzten Jahr noch anderes verfasst hatte, auf das er stolz sein konnte, wusste er, was sein größter Erfolg gewesen war.

»Es ist nicht das, was ich Dichtkunst nennen würde, doch es ist unvergesslich«, gab Reinmar steif zurück. Sie stürzten sich in eine Debatte über den Sinn und Zweck des Dichtens, als wäre es immer noch das Jahr nach Walthers Ankunft in Wien. Es machte ihm Freude, doch er verlor auch nie das Bewusstsein, auf einem Schiff zu stehen, das sorgsam alle Klippen umschiffte und nie zu einem gewissen Strudel kommen durfte. Schließlich fragte er Reinmar nach dessen eigenen neuen Liedern. Vielleicht, dachte Walther, werde ich Reinmars Lobpreis der unerwiderten Liebe jetzt anders hören.

Reinmar war höchst zufrieden, gefragt worden zu sein, und drei wunderbar ausgefeilte, aber gefühllose Lieder später zog Walther die Schlussfolgerung, dass er immer noch nicht ausreichend Geduld für dergleichen Entsagungshymnen hatte. Im Gegenteil: Mit jedem angehörten Vers kroch ihm der Spott erneut in die Fingerspitzen und wollte sich Luft machen.

»Du bist bei all deinen Spruchdichtungen über Fürsten und das Reich wohl nicht dazu gekommen, Neues über die Liebe zu schreiben?«, erkundigte sich Reinmar ein wenig ungnädig, denn er musste an Walthers einsilbigen Reaktionen gemerkt haben, dass er von seinen Liedern alles andere als begeistert war.

»Aber ganz im Gegenteil!« Walther gab Reinmar das kurze Verslein zum Besten, das er sich während seines Vortrags zurechtgelegt hatte.

Wer sagt, dass Minne Sünde sei,
Der soll sich erst bedenken wohl.
Ihr wohnet manche Tugend bei,
Die man mit Recht genießen soll.
Die falsche Minne mein’ ich nicht
Die hab ich nie gewollt,
Die könnt’ Unminne heißen ehr:
Und will sie hassen sehr.

»Walther, Walther, du weißt noch immer nicht, wovon du sprichst und singst«, seufzte Reinmar. »Ist es dir denn gar so wichtig, alles in den Staub zu treten, was mir lieb und teuer ist?«

»Nun, wenn es dir Befriedigung verschafft, dann lass dir gestehen, dass ich mich in eine Frau vernarrt habe, die so weit von mir entfernt ist wie nur irgendeine deiner Damen und nie die Meine sein kann. Betrachte es als Strafe Gottes.«

Es war heraus, ehe Walther es sich versah; als er es einmal ausgesprochen hatte, begriff er, dass er deswegen zu Reinmar gekommen war. Es gab sonst niemanden, dem er sich anvertrauen konnte, und gerade der Umstand, dass er Reinmars dunkelste Seite miterlebt hatte, ließ ihn sicher sein, dass er ihm nicht mit diesem Wissen in den Rücken fallen würde. Was Reinmar an Bösartigkeit ihm gegenüber in sich trug, das hatte sich in jener Nacht erschöpft.

»Walther«, sagte Reinmar besorgt, »du warst doch nicht so töricht, die Prinzessin von Byzanz … was gibt es denn da zu grinsen?«

Walther versuchte vergeblich, sein Lächeln zu einem Husten abzuwandeln. »Du musst zugeben, für jemanden, der mich gelehrt hat, dass nur eine Dame, die weit über dem Sänger steht, des Minnesangs würdig ist, ist es ein starkes Stück, jetzt gegen eine Dame zu protestieren, die eindeutig den höchsten Rang im gesamten Heiligen Römischen Reich hat, bis auf die Kaiserinwitwe natürlich.«

»Ich sprach immer nur von Liedern, aber bei dir muss man befürchten, dass du unziemliche Gedanken zu Taten machen wirst. Das würde dich den Kopf kosten«, sagte Reinmar gekränkt. »Sosehr du bisweilen eine Lektion benötigst, so wenig wünsche ich dir diese.«

Walthers Erheiterung verschwand so schnell, wie sie gekommen war, weil er an die letzte Lektion dachte, die Reinmar ihm erteilt hatte, ob absichtlich oder nicht.

»Nun, dann kannst du ruhig schlafen«, sagte er brüsk. »Die Herzogin Irene hat nichts von mir zu befürchten.«

»Aber wer …«

Es kam Walther in den Sinn, dass er vorgeben könnte, in die Markgräfin von Meißen verliebt zu sein, was immer noch Reinmars Vorstellungen entspräche und immerhin nicht völlig erfunden war, doch gerade heute wollte er ehrlich sein.

»Ich sprach von weiter Entfernung, und es sieht dir ähnlich, dass du sofort davon ausgehst, dies bedeute, dass die Dame über mir stehen müsse. Reinmar, hast du denn nie in deinem Leben ein Mädchen geliebt, das im Rang unter dir stand?«

Reinmar hüllte sich noch ein wenig mehr in seinen Pelz. »Das ist keine Liebe, Walther. Das ist nur das, was wir mit den Tieren gemeinsam haben.«

Der Zorn, der Walther ergriff, überraschte ihn. »Was wir mit einigen Raubtieren gemeinsam haben, das ist die Lust am Töten. Aber kein Tier, das ich je beobachtet habe, hat andere dazu abgerichtet, für sich diese Drecksarbeit zu erledigen, um sein Mütchen an Dritten zu kühlen.«

Reinmars Haut wurde fahl. Man konnte die Stoppeln jenseits seiner sorgfältig gehaltenen Bartlinie erkennen, genau wie die roten Adern in seinen gealterten Augen. Er wusste, wovon Walther sprach. Natürlich wusste er es. »Warum«, stammelte er, »was hat das …«

Ob blutleer oder nicht, Reinmar war immer ein Meister des Wortes gewesen und hatte sich nie anders als klar ausgedrückt. Ihn auf einmal stottern zu sehen, verriet, wie sehr ihm die Erinnerung an jene Nacht zu schaffen machte. Auf seltsame Weise beruhigte das Walther ein wenig. Zu klar erinnerte er sich daran, wie die Kreuzritter, die den Tross ein Stück begleiteten, nur gelacht hatten über ihre Untat.

»Sie ist eine Jüdin«, sagte Walther. »Die Base des Münzmeisters Salomon. Und nun weißt du, warum es hoffnungslos ist.«

Diesmal war die Stille, die sich in den Raum senkte, nicht eisig wie im Palas bei Leopold und seinen Höflingen, sondern schwer mit dem Gewicht eigener Taten und belastender Träume. Schließlich streckte Reinmar seine linke Hand aus und legte sie auf Walthers.

»Du könntest ihre Seele retten, wenn du sie für das Christentum gewinnst und heiratest«, sagte er ernsthaft. Er meinte es gut, das war offensichtlich, und was auch immer ihn im letzten Frühjahr an Eifersucht und Groll getrieben hatte, war nicht mehr vorhanden. Doch Walther hatte sich ihm nie ferner gefühlt. Er sagte nichts, sondern erwiderte Reinmars Händedruck, doch ihm war klar, dass er nie mehr ein vertrauliches Wort mit ihm wechseln konnte.

Er würde nicht lange hier in Wien bleiben. Um Leopold in der Hoffnung herumzustreichen, den verpatzten Eindruck von vorhin wiedergutzumachen, das war eine trübselige Aussicht, die auch nicht dadurch besser wurde, wenn er sich vorstellte, das den ganzen Weg von Wien ins Rheinland zu tun, denn Philipp hatte ihm verkündet, dass seine Königswahl nicht in Hagenau, sondern in Mainz stattfinden würde. Nein, es war an der Zeit, wieder etwas zu tun, auf das die hohen Herren nicht gefasst waren. Leopold wollte erkennbar auf den Bescheid aus Rom vom nächsten Papst warten und verbat sich unverschämte Einschätzungen eines Sängers zu diesem Thema? Philipp behandelte Botschaft nach Botschaft so, als sei sie zwar wichtig, doch nicht wichtig genug, um Walther einen festen Platz an seinem Hof anzubieten?

Nun, es gab jemanden, der über ihnen stand, und das war nicht die Kaiserinwitwe Konstanze. Wer auch immer der nächste Heilige Vater sein würde, er musste eine Meinung zu den Ereignissen im Reich haben, damit hatte Leopold recht gehabt. Und es mochte sich für mehr als einen Beteiligten lohnen, herauszufinden, was das für eine Meinung war.

* * *

Die Entbindung der Salzhändlergemahlin Richildis fand zwei Wochen früher statt, als Judith sie nach den Angaben der Frau erwartet hatte. Da deswegen die Hebamme noch nicht im Haus war, gab es außer Judith nur noch das Gesinde, um ihr zu helfen.

Die Knechte und Mägde hatten ihre Anwesenheit im Haus nicht freudig aufgenommen; sie wussten nicht, ob sie die Magistra als Teil des Gesindes oder als Herrschaft zu behandeln hatten, und außerdem sprach sich sehr schnell herum, dass sie eine Jüdin war, ob getauft oder nicht, das wusste niemand mit Gewissheit zu sagen. Eine der Mägde fragte offen, ob es stimme, dass Juden kleine christliche Kinder bei ihren Passah-Feiern schlachteten.

»Nein«, entgegnete Judith mit zusammengebissenen Zähnen und erniedrigte sich nicht zu einer längeren Antwort, denn der Vorwurf war zu lächerlich, um ihn ernst zu nehmen. Dann fiel ihr ein, was Gilles und Stefan über die jüdischen Bürger von Blois erzählt hatten, die wegen ebendieses Vorwurfs bei lebendigem Leibe verbrannt worden waren, und es lief ihr kalt den Rücken hinunter.

Als bei Richildis die Wehen einsetzten, musste Judith dreimal darum bitten, dass Wasser abgekocht wurde. Von da an verlief nichts mehr so, wie es sollte: Das Fruchtwasser kam bald aus Richildis heraus, doch das Kind nicht, und das machte den Geburtsvorgang unendlich schmerzhafter. Außerdem lag es falsch, das konnte Judith ertasten. Eine der Mägde war so dumm, um von Teufelskindern zu sprechen, ehe Judith sie aus dem Zimmer warf. Richildis geriet immer mehr in Angst, ihre Krämpfe wurden schlimmer, und ihr Gemahl, der wie alle Männer dem Geburtszimmer wohlweislich fernblieb, hörte auf die Magd und holte einen Priester, was Richildis gänzlich davon überzeugte, dass ihr letztes Stündlein geschlagen hatte.

Schließlich beschloss Judith, das Kind im Mutterleib zu drehen, um es aus der Steißlage zu befreien. Sie hatte das bei Hebammen beobachtet, aber selbst noch nicht getan, obwohl ihr Francesca erklärt hatte, was zu tun war. Ihre eigene Angst war inzwischen groß, obwohl sie versuchte, sich nichts davon anmerken zu lassen. Richildis stöhnen und schreien zu hören, ohne zu wissen, ob es vor Schmerzen oder aus Furcht geschah, steigerte das Gefühl, sich vor einem Abgrund zu befinden. Judith rieb sich Hand und Unterarm mit Öl ein und versuchte ihr Bestes, um das Kind zu drehen, doch es gelang ihr erst beim zweiten Anlauf. Richildis fing an zu flehen, Christus möge sich ihrer Seele erbarmen, weil sie zugelassen hatte, dass eine Jüdin Hand an sie legte.

Endlich kam das Kind, und als Judith die Nabelschnur zerschnitt, nahm es die verbliebene Magd sofort an sich, damit, wie sie offen sagte, kein böser Zauber damit getrieben werden konnte. Es war ein gesunder Junge, obwohl er erst einen Klaps auf den Hintern erhalten musste, um zu schreien, aber Richildis blutete immer noch zu stark, als dass es sich dabei nur um die Nachgeburt handeln konnte. Am Ende musste sie miterleben, wie die Salzhändlergattin verblutete.

Judith hatte noch nie einen Patienten verloren; dass es eine Frau war, empfand sie als doppelt schändlich. Es war ein widerliches Gefühl der Ohnmacht und des Wissens, irgendetwas falsch gemacht haben zu müssen. Ja, das Kind lebte, aber Richildis war es noch vor einem Tag gutgegangen. Judiths Behauptung, der gesamte letzte Monat ihrer Schwangerschaft müsse ständig überwacht werden, war eine Lüge gewesen, um sich ein Obdach zu verschaffen, und nun fragte sie sich, ob diese Lüge dazu beigetragen hatte, in Richildis die Furcht wachsen zu lassen und ihren Willen zum Überleben zu zerstören. Entsetzt sprach sie für die Frau Kaddisch, ohne nachzudenken, und die Magd fing an, etwas über bösen Zauber zu murmeln. Als Judith mit dem schreienden Kind im Arm den Raum verließ, um dem Salzhändler den Tod seiner Frau beizubringen, war sie zu betäubt von Schuld, um gegen das Gezeter der Frau zu protestieren.

Der Kaufmann bestand darauf, dass sein Sohn die Nottaufe erhielt, obwohl das Kind gesund war. Während der Priester die nötigen Worte sprach, stand Judith mit ihrem blutigen Oberkleid in einer Ecke und fragte sich, wann die erste Anschuldigung ausgesprochen würde. Als es an der Tür pochte, stellte sich das Klopfen als das der Hebamme heraus, doch sie war nicht alleine: Bei ihr standen Gilles und zwei junge Männer, die Judith noch nie gesehen hatte.

Paul hatte Gilles ihre Botschaft überbracht, doch Judith keine Antwort bekommen. Sie hatte angenommen, Gilles’ Schweigen sei seine Erklärung für Stefan. Aber hier war er, in einem der schlimmsten Momente ihres Lebens, und sie blinzelte ungläubig, als sei er eine Erscheinung, die sich in jedem Moment in Luft auflösen konnte.

»Richildis ist tot«, sagte sie hilflos. Gilles wirkte, als verstünde er ein wenig, was das für sie bedeutete. Sie dachte daran, wie sie sich in seiner Gegenwart einmal über Richildis ausgelassen hatte, und ihr Schuldgefühl stieg. Unbeholfen legte Gilles seine Arme um sie. Als er sie an sich zog, flüsterte er ihr ins Ohr: »Die beiden sind die Geiseln des Erzbischofs. Es wäre wahrlich gut, wenn wir die Stadt sehr schnell verließen.« Judith warf einen Blick auf die beiden Mägde, die sich sofort bekreuzigten, auf den trauernden Salzhändler mit seinem neugeborenen Sohn neben dem Priester und nickte, statt Fragen zu stellen.


Ein paar Stunden später kauerten sie alle auf dem ersten Schiff, das sie hatten finden können und dessen Schiffer nicht sofort abergläubisch die Anwesenheit einer Frau ablehnte. »Ich habe lange nachgedacht über deine Worte«, sagte Gilles zu ihr, während sie von Pferden den Rhein aufwärts gezogen wurden. »Dein Onkel war mir immer ein guter Patron, und ich habe schon einmal herrenlos gelebt; das ist kein gutes Dasein. Aber dann hat er mir eine Botschaft geschickt. Er wollte, dass ich die Geiseln gehen lasse.« Judith schaute zu den beiden jungen Männern, Verwandte des Herzogs von Zähringen. »Er wollte, dass ich sie gehen lasse und behaupte, sie hätten mich überwältigt«, erläuterte Gilles. »Damit ich … wie sagt man in deiner Sprache … einen Sündenbock abgebe gegenüber dem Erzbischof. Er wollte, dass Adolf keinen Grund mehr hat, auf das Geld des Zähringers zu warten. Aber der Erzbischof, das ist kein Herr, der leicht verzeiht. Er hätte mir die Schuld gegeben. Und so wäre dein Onkel mich ganz einfach losgeworden.«

»Onkel Berthold hätte uns ohnehin nicht ausgelöst«, bemerkte eine der Geiseln. »Nicht bei unseren Spielschulden. Er hat gemeint, wir seien eine Schande für die Familie, und ein paar Wochen beim Erzbischof seien genau das, was wir verdient hätten. Als Mann der Kirche könne der Erzbischof ohnehin nicht mehr tun, als uns in kargere Räume stecken, wenn er es satthabe, auf Berthold und sein Geld zu warten.«

Judith war in Gedanken noch bei Richildis und dem Kind. Hoffentlich kannte die Hebamme eine andere Wöchnerin, so dass der kleine Junge anständig genährt werden konnte. Und Richildis … wieder und wieder ging sie in Gedanken alles durch, was sie getan hatte und was nicht. Auf diese Weise brauchte sie länger, als es sonst der Fall gewesen wäre, bis sie Gilles stirnrunzelnd fragte: »Aber wenn du durchschaut hast, warum Stefan das von dir verlangt hat, warum …« Sie blickte zu ihm hin und verstand. »Danke.«

»Nun, wir konnten doch nicht allein und ohne ausreichenden Schutz übers Land ziehen«, sagte der junge Verwandte des Herzogs von Zähringen. »Es ist gefährlich auf den Straßen dieser Tage! Auf dem Weg nach Andernach hatten wir immer fünf Bewaffnete bei uns, und die waren auch nötig. Aber wenn diese Pfeffersäcke so gegen den Onkel als neuen König sind, dass sie uns loswerden wollen, greifen sie vielleicht noch zu ärgeren Methoden, als uns fliehen zu lassen. Deswegen mussten wir die Gelegenheit beim Schopf packen.«

»Du hast gesagt, dass wir Geld brauchen und neue Arbeit«, sagte Gilles und sah Judith bedeutungsvoll an.

Sie zweifelte, ob der Herzog von Zähringen bereit war, Gilles für die sichere Rückkehr seiner Neffen zu bezahlen, wenn er schon nicht die Absicht hatte, das beim Erzbischof zu tun, doch vielleicht irrte sie sich. Eigentlich hatte sie vor allem neue Arbeit für sich selbst gemeint, doch sie konnte immer noch das Blut von Richildis an sich riechen; in ihrer jetzigen Stimmung hätte Judith es sich noch nicht einmal zugetraut, eine Maus zu heilen. Sie wusste, dass sich das ändern würde. Aber vielleicht gab es etwas, das sie bis dahin tun konnte.

Walther belieferte seine Gönner nicht nur mit angenehmen und stacheligen Versen: Er war in Köln gewesen, um etwas für Herzog Philipp herauszufinden, nicht nur für sich selbst, das hatte sie sich sehr schnell zusammengereimt. Vielleicht konnte er auch deswegen von seinen Liedern leben, weil er außerdem noch Geheimnisse herausfand, mit denen sich handeln ließ.

Nun, Onkel, dachte Judith, mein Herz hat nicht staufisch geschlagen, doch Ihr habt dafür gesorgt, dass es mit Sicherheit nicht welfisch schlägt, und Otto hat noch etwas bei mir gut!

»Edle Herren«, sagte sie zu den Neffen des Herzogs von Zähringen, »wenn Euer Onkel Euch so ungnädig gesinnt ist, dann gibt es einen Herrn, der gewiss über Eure Anwesenheit froh wäre, vor allem, wenn Ihr ihm berichtet, was Ihr in Andernach alles gesehen habt. Immerhin steht dort die wichtigste Feste des Erzbischofs.«

»Ihr meint …«

»Unseren zukünftigen König«, sagte Judith, »Philipp von Schwaben.«

* * *

Die einzigen Reisenden, die im Winter von Wien zu Fuß nach Italien zogen und bereit waren, Kälte, Schnee, Lawinen und kaum überquerbare Flüsse zu riskieren, waren Pilger, von denen einige so sehr um ihr Seelenheil fürchteten, dass sie nicht den Frühling abwarten wollten. Mit jeder Papstkrönung war gewöhnlich auch ein Generalablass verbunden, um den es ihnen ging. Wenn sie auch als Rompilger unter dem generellen Schutz der Kirche standen, was ihnen Sicherheit gegenüber menschlichen Übergriffen versprach, gegen Kälte und Naturgewalten half das nichts, und sie riskierten ihr Leben. Das zumindest erzählten sie Walther, der nicht erwartet hatte, sich in einer Schar Büßender wiederzufinden, und sehr erleichtert war, als sich herausstellte, dass er nicht der Einzige mit ausschließlich weltlichen Gründen war, nach Rom zu reisen: Ein Ritter mit seinem Dienstmann nahm an dem Pilgerzug teil, weil er darauf hoffte, vom Papst die Ehe seiner Eltern als gültig und sich selbst daher als erbberechtigt bestätigt zu bekommen, etwas, was bisher niemand bezweifelt habe, bis sein gerissener Hund von einem Vetter auf einmal einen Kaplan hervorzauberte, der behauptete, der verstorbene Vater des Ritters wäre vor seiner Eheschließung mit der Mutter bereits vermählt gewesen. »Das würde mich zum Bastard und meine arme Mutter zur Hure machen! Natürlich hat mein Vetter ihn bestochen«, donnerte der Ritter. »Der Bischof von Passau ist noch nicht wieder zurück, doch dessen Stellvertreter hat einfach für meinen Vetter entschieden. Fragt mich nicht, wie viel auch dem bezahlt worden ist. Aber nicht mit mir! Wenn nötig, gehe ich bis nach Rom, habe ich zu meinem Vetter gesagt, und genau das tue ich jetzt!« Genau wie Walther hatte der Ritter ein Pferd, musste es aber auch, um in der Gruppe aufgenommen zu werden, für das Gepäck zur Verfügung stellen.

Außerdem war ein Bettelmönch dabei, der sich auf das Singen verstand, was Walther bereits beim ersten Mal heraushörte, als die gesamte Schar einen Chorus anstimmte. Er trug in seiner Kapuze nicht nur Medaillen, die er in Rom segnen lassen wollte, sondern auch eine Menge Broschen, was für Walther nur so lange ungeklärt blieb, bis die Pilgergruppe zum ersten Mal in ein Städtchen einkehrte. Zwar kamen sie wie immer in einem Kloster unter, doch der Bettelmönch brachte es fertig, einigen Bürgersfrauen die Beichte abzunehmen und mit weniger Broschen zurückzukehren, dafür aber mit einem runderen Bäuchlein und der noblen Erklärung, er würde zugunsten der anderen Pilger auf seinen Anteil am gemeinsamen Mahl verzichten.

»Du und ich, mein Freund«, sagte er zu Walther, »sollten uns zusammentun. Ich stamme aus der Gegend von Brixen, du aus der Nähe von Bozen, das verbindet. Oder hast du ein Gelübde abgelegt, auf dem Weg nach Rom zu fasten?«

»Nein, aber ich bin auch nicht derjenige, der vom Anführer unserer Schar wegen des Bruchs des Gelübdes belangt werden kann«, erwiderte Walther. Bei dem Anführer handelte es sich um einen gestrengen Zisterzienser, mit dem nicht gut Kirschen essen war. Im ersten Kloster, in welchem sie blieben, hatte man ihnen anfangs kein Quartier geben wollen, weil bereits das Gefolge eines Grafen dort logierte, und der Zisterzienser war dem Benediktiner-Abt so zu Leibe gerückt, dass man fast von einem Turnier ohne Lanzen sprechen konnte. Außerdem hatte er bereits einen Scholaren aus ihrer Schar geworfen, weil er der jüngsten der drei Nonnen schöne Augen gemacht hatte.

»Dem Tapferen gehört die Welt, und dem Sänger guter Lieder das Ohr der Frauen und die Leckereien in ihren Kochtöpfen«, sagte der Bettelmönch. »Im Übrigen bin ich ein Laienbruder.«

»Aber hast du nicht gesagt, dass du berechtigt wärest, die Beichte abzunehmen?«

»Nun, um offen zu sein, mein genauer Stand wird sich in Rom klären, das hoffe ich wenigstens. Wem schadet es, wenn ich in der Zwischenzeit die Herzen von ihrer Sündenlast befreie?«

Sein Name war Martin, doch Walther argwöhnte, dass dieser Name genauso wenig echt war wie die Broschen und Medaillen, die ihm sehr wie mit etwas silberner Farbe überzogene Bronzen vorkamen. Als Geschichtenerzähler wusste er Martins Einfallsreichtum jedoch zu würdigen. Außerdem zeigte sich der Bettelmönch besser unterrichtet, als es Leopold gewesen war, nachdem er von seinen Beichten zurückkehrte. Wie es schien, war noch in der Nacht nach dem Tod Coelestin III. ein neuer Papst gewählt worden, ein Kardinaldiakon namens Lothar von Segni. Coelestin war bei seiner Wahl bereits fünfundachtzig gewesen, meinte Martin, und das Einzige, was er über Lothar von Segni wusste, war, dass der Mann siebenunddreißig Jahre alt war und den Namen Innozenz III. angenommen hatte.

»Wir werden es noch rechtzeitig zur Papstweihe nach Rom schaffen«, erklärte er zuversichtlich. »Anna, mein Beichtkind von gestern, hat gesagt, sie sei auf Ende Februar angesetzt. Ihr Gatte liefert das Tuch für ein paar der neuen Roben.«

»Warum ist dir das so wichtig?«, fragte Walther neugierig.

»Wegen des Generalablasses natürlich«, gab Martin zurück. »Der nächste kommt erst zu Ostern, und bis dahin … nun, um offen zu sein, in mir ist ein Geschwür. Ich werde nach Salerno weiterziehen, doch wer weiß, ob sie mir dort helfen können. Also möchte ich vorher im Reinen mit unserem Herrn sein.« Er zwinkerte Walther zu. »Aber bis wir nach Rom kommen, lohnt es sich, noch ein wenig zu sündigen. Selbst der große Augustinus hat gebetet, Gott möge ihn sündenfrei machen, aber doch nicht gleich! Was einem Kirchenvater recht ist, muss einem armen Laienbruder wie mir doch billig sein, oder?«


Zwei Mitglieder der Pilgerschar holten sich Erfrierungen an den Zehen, ehe sie die Berge hinter sich ließen, aber ansonsten brachten sie Schnee und Schneeschmelze hinter sich, ohne Verluste zu erleiden. Gefährlich wurde es erst, als sie die Gegenden verließen, in denen Deutsch gesprochen wurde. Sie hatten alle Geschichten darüber gehört, wie nach dem Tod des Kaisers in Italien die Hölle ausgebrochen war. Der Ritter versicherte, sie beschützen zu können, doch der Zisterzienser beschwor ihn, das sein zu lassen. Walther und Martin, die zwar beide die Volgare sprachen, aber den Schutz der größeren Gruppe nicht verlieren wollten, hatten sich vorgenommen, das für sich zu behalten, um gar keine Diskussion über ständige Hilfe beim Übersetzen aufkommen zu lassen.

»Wir sind Pilger«, sagte der Zisterzienser. »Brüder und Schwestern in Christus. Wer Pilger nach Rom und Santiago de Compostela verletzt, ist verflucht und verliert sein Seelenheil. Wenn wir dagegen als Waffenträger erscheinen, beschwören wir die Gefahr geradezu herauf.« Mit einem strengen Blick in die Richtung von Walther und Martin fügte er hinzu: »Gesten und Scherze, die missverstanden werden könnten, sollten auch unterlassen werden.«

Wie sich herausstellte, waren die Klöster wirklich gastfreundlich, doch das mochte auch damit zusammenhängen, dass im letzten Jahr eine Flut an deutschsprachigen Rittern und Kaufleuten nicht nur Obdach auf heiligem Boden gesucht hatte, sondern auch bereit gewesen war, dafür zu bezahlen. Nachdem der Zisterzienser sie an die Pflicht der brüderlichen Liebe für Pilger erinnert hatte, wurden sie zwar etwas weniger freundlich empfangen, doch trotzdem untergebracht. Walther gelangte allmählich zu der Überzeugung, dass alle schlimmen Berichte heillos übertrieben worden waren, bis der Ritter in Verona den Fehler machte zu erwähnen, dass sein Vater mit dem alten Kaiser Rotbart hier gewesen sei, und das in Hörweite einer Gruppe von Einheimischen. »Barbarossa?«, wiederholte einer wütend. Am Ende hatte die Pilgergruppe Glück, nach einem Steinhagel gerade noch ihre Herberge zu erreichen.

»Nun ja«, sagte der Ritter unbehaglich, da er sich nicht eben geopfert hatte, um der Schar einen sicheren Abzug zu ermöglichen, »vielleicht hätte ich daran denken sollen, dass Verona nicht mehr so gut dastand nach seinem Besuch.«

»Vielleicht hättest du das, Bruder«, gab eine der Nonnen wütend zurück. Sie hatten ihren Beutel auf der Straße zurücklassen müssen, um schneller rennen zu können. Walther fragte sie, was sich denn in dem Beutel befunden hatte, und erfuhr nach einigem Hin und Her, es habe sich um Untergewänder und Strümpfe gehandelt. Das Problem waren die Strümpfe; die Untergewänder, welche die Nonnen am Leibe hatten, mussten eben bis Rom reichen, aber die Strümpfe nutzten sich durch das ständige Laufen ab und konnten nicht ewig geflickt werden.

Sie taten Walther leid; außerdem hatte er es noch nie gut vertragen, irgendwo eingesperrt zu sein. Also schnappte er sich Martin mit seinen Broschen und Medaillen. Gemeinsam schlichen sie aus der Herberge, um am Marktplatz ein paar italienische Trink- und Frühlingslieder zu schmettern. Sie kehrten mit frisch gebackenem Brot und zwei Paar Strümpfen für die drei Schwestern zurück. »Ihr werdet Euch eben abwechseln müssen, Schwestern«, sagte Walther und wurde gesegnet. Bisher waren ihm die Nonnen aus dem Weg gegangen, doch nun hörten sie fast nicht mehr auf zu reden.

Wie sich herausstellte, waren zumindest sie nicht wegen des Ablasses auf dem Weg nach Rom, sondern weil sie das Recht erwirken wollten, das Gemeinschaftskloster zu verlassen, in dem sie mit den Brüdern des Heiligen Benedikt lebten, um ihr eigenes Stift zu gründen, wo sie nur einer Äbtissin untertan sein würden, nicht einem Abt. Der für sie zuständige Bischof wäre Wolfger gewesen, doch in seiner Abwesenheit hatte der Abt ihres Gemeinschaftsklosters ihre Bitte strikt abgelehnt. Jede Nonne brachte neben ihrer Arbeitskraft auch ihre Mitgift mit ins Kloster; deswegen wollte er sie wohl behalten.

»Wenn wir ein Bistum in Wien hätten«, sagte die älteste Nonne und musste den Gedanken nicht zu Ende sprechen. Bei sich dachte Walther, dass sie dann immer noch vor dem Problem stünden, wem der Bischof die Mitgiften der Novizinnen mehr gönnte, doch für die Schwestern brachte er fertig, was er bei Leopold nicht vermocht hatte: Er hielt sich zurück.

Bald sprachen sie über die Hoffnungen, die sie in den neuen Papst setzten. Im Gegensatz zu Martin hatten sie schon früher von ihm gehört. »Er hat in Paris studiert und gilt als wahrer Meister des Kirchenrechts«, so hieß es, »einer der klügsten Köpfe der Christenheit«, so nannten sie ihn. Die älteste Nonne gestand, dass ihr merkwürdig zumute war bei dem Gedanken, mit einem Mal älter als der Heilige Vater zu sein, wo es sonst immer umgekehrt gewesen sei. Doch auch sie bewunderte ihn und hoffte, dass er zu ihren Gunsten entscheiden würde.

»Wisst Ihr, ob er den Gesang liebt?«, fragte Walther nur halb im Scherz und bekam zu hören, dass die Nonnen das sehr bezweifelten, obwohl sie selbst, der großen Hildegard eingedenk, Freundinnen des Gesanges seien. »Unser neuer Heiliger Vater hat in demjenigen seiner Bücher, aus dem der Abt in unserem Kloster hat rezitieren lassen, geschrieben: Aus Erde geformt ist der Mensch, empfangen in Schuld und geboren zur Pein. Er handelt schlecht, gleichwohl es ihm verboten ist, er verübt Schändliches, das sich nicht geziemt, und setzt seine Hoffnung auf eitle Dinge. Er endet als Raub der Flammen, als Speise der Würmer, oder er vermodert. Das bedeutet bestimmt nicht, dass er glaubt, man dürfe die Pein des irdischen Daseins durch weltliche Freuden lindern.«

Das klang alles andere als vielversprechend, was Walther betraf, aber sich auf halbem Weg nach Rom entmutigen zu lassen, war nicht seine Art. Nur der Bettziechenweber, der außer bei gemeinsamen Gebeten noch nie von sich hatte hören lassen, murmelte etwas davon, dass man Sänger, die Männer Gottes zur Sünde verleiteten, eigentlich dazu zwingen sollte, als Buße ein härenes Hemd zu tragen. »Ich habe eines dabei«, fügte er hilfsbereit hinzu, was ihm bewundernde Blicke der Nonnen einbrachte und Walther dazu veranlasste, das Weite zu suchen. Immerhin erinnerte ihn das Gerede von der Schlechtigkeit des Menschen daran, dass er schon viel zu lange tugendhaft gelebt hatte. Auf dem Marktplatz in Verona war ihm mehr als ein wohlwollendes Lächeln geschenkt worden, solange er die Volgare gesprochen hatte.

Ihre nächste Übernachtung fand in einer Einsiedelei statt, doch danach führte sie der Weg wieder durch ein betriebsames Städtchen. Walther überredete Martin, einen weiteren Ausflug zu unternehmen, diesmal einen, der nichts mit Nonnen zu tun hatte.

»Mir geht es heute nicht so gut«, sagte Martin mit einem leicht verzerrten Lächeln.

»Ein Grund mehr, um zu sündigen«, gab Walther zurück.

Sie schlichen sich aus dem Spital, in dem sie übernachten sollten. Es war erst früh am Nachmittag; sie hatten in dieser Stadt haltgemacht, weil der Zisterzienser sicher war, dass nach der Stadt auf dem Weg nach Rom lange nichts mehr kommen würde, und es war immer noch zu kalt, um im Freien zu übernachten, selbst hier in Italien, wo die Natur ein paar Wochen weiter zu sein schien.

»Musik und Liebe kennen keine Grenzen«, sagte Walther, zumal er und sein Begleiter geschickt vertuschen konnten, Deutsche zu sein. Seine Laute und Martins wunderbare Stimme ließ die beiden dann auch nicht lange einsam in der Schenke vor ihrem Becher Wein sitzen, wo sie ein beliebtes Weinlied sangen.

Sitzt so ein Sänger beim Weine,
Hemmungen kennt er dann keine,
Säuft er sich voll bis zum Rande,
bringt leicht sein Mund ihn in Schande.
Ich aber, bin ich betrunken,
sprühen mir die Verse wie Funken.
Drum lasst mich trocken nicht hocken,
sonst folgt ein Stümpern und Stocken!

Walther, der nach seinem Abschied von Judith noch bei keiner Frau gelegen war, wollte vergessen, dass sie verheiratet war. Lange schwarze Haare, die seine Beine streiften, wenn sie auf ihm saß, eine Haut wie ein Pfirsich, breite Hüften und ein weicher, großer Hintern, geformt wie zwei köstliche Brote, zum Reinbeißen einfach, dazu noch kräftige Brüste mit großen, dunklen Warzen und ein unstillbarer Hunger auf Leben, der ihm aus dunklen Augen entgegenblitzte, schafften es dann auch schnell, ihn so abzulenken, dass er jede Zeit vergaß. Er hätte sich wahrlich Glückspilz nennen sollen, denn sie ließ und ließ ihn nicht gehen. Sie hatte offenbar auch etwas nachzuholen, und dann waren sie beide irgendwann eingeschlafen.

Als er erwachte, war es früher Morgen, und er brauchte fast bis zum Mittag, um Martin zu finden, dem es nicht schlechter als ihm ergangen sein musste. Als sie die Einsiedelei erreichten, stand nur noch Walthers Pferd da, die Gruppe war ohne sie weitergezogen.

Da er wusste, dass die Pilgerreise nach Rom für Martin einen ernsten Grund hatte, schlug er vor, nicht auf die nächste Gruppe zu hoffen, sondern sich gemeinsam bis in die Ewige Stadt durchzuschlagen. Martin war indes tiefer von dem Debakel getroffen: Er wanderte verstört und mit zitternden Lippen den Weg entlang, bis Walther, dessen Versuche, ihn aufzuheitern, alle fruchtlos verlaufen waren, schließlich sagte: »Nimm es mir nicht übel, aber wir wissen beide, dass du kein Mönch bist. Sei doch froh, nicht länger einen spielen zu müssen!«

»Aber ich wollte ein Mönch sein«, entgegnete Martin düster. »Kein Kloster hat mich aufgenommen. Da dachte ich mir, ich werde beweisen, dass ich als Mönch leben kann. Nur musste ich mich eben auch von etwas ernähren, und so führt ständig eines zum anderen. Aber es gab eine Zeit, da hatte ich kein größeres Vorbild als den heiligen Benedikt.«

»Besser ein tapferer Sünder als ein halbherziger«, meinte Walther philosophisch, und sie lachten. Eigentlich wollte er Martin gerne anbieten, sein Knappe zu werden, denn er mochte ihn, doch wenn Martin wirklich zu Tode erkrankt war, dann machte ein solches Angebot keinen Sinn.

Sie verbrachten die nächsten beiden Tage guter Dinge, wobei sie abwechselnd beide liefen und Hildegunde nur das Gepäck tragen ließen, oder einer von ihnen, der gerade etwas Erholung brauchte, auf dem Pferd saß. Dann hatte Hildegunde wieder einen ihrer Anfälle von Bissigkeit und Sturheit, weigerte sich, weiterzugehen, keilte aus und wäre um ein Haar durchgegangen. Martin machte einen Scherz über die Ähnlichkeit von Herr und Tier – und hielt mitten im Satz inne. Seine Stirn überzog sich mit einem Runzeln.

»Walther«, sagte er und schniefte ein paarmal, »da liegt etwas in der Luft, lass uns in den Büschen verschwinden, hier stimmt etwas nicht.«

Kaum hatten sie den Weg verlassen und sich hinter hohem Gestrüpp verborgen, als ein Trupp Berittener mit einem bunten Wappen auf ihren Rüstungen in Sichtweite kam. Walther hielt Hildegunde die Nüstern zu, damit sie ruhig blieb, was sie erstaunlicherweise auch hinbekam. So verstanden sie etwas von dem Gegröle in der Volgare. »Die hat gequiekt wie ein Schwein« und »Hast du mitbekommen, das waren Deutsche« und »Nicht besser verdient«. Eine Ahnung, dass etwas Schreckliches passiert sein musste, drängte sich ihnen auf.

Sie fanden die Leichen eine halbe Stunde später, Pilger, die unter dem Schutz Gottes standen. Alle waren sie tot, die Nonnen, der Ritter, sein Knappe, der Zisterzienser, der Bettziechenweber. Tot und ausgeplündert, sogar ihre Kutten und Unterkleider waren offenbar den Diebstahl wert gewesen. Die Nonnen waren vor ihrem Tod noch vergewaltigt worden; man konnte Blut und Samen zwischen ihren Schenkeln und auf ihrem Bauch sehen. Warum es geschehen war, blieb Walther unbegreiflich: War das Morden den Kriegsknechten so in Fleisch und Blut übergegangen, dass ihnen egal war, wen sie töteten? Durfte man solchen Leuten überhaupt Waffen geben? War das nicht schon zu viel Macht, wie die Toten bewiesen? Gab es niemanden mehr, der solchen Auswüchsen Einhalt gebieten konnte? Martin murmelte etwas von Tieren, nicht Menschen, die hier gewütet hatten.

»Tu diesen Kreaturen nicht die Ehre an, sie Tiere zu nennen. Tiere vergewaltigen nicht, Tiere quälen nicht, sie töten nur, wenn sie Hunger haben, nicht aus Freude.« Aber Walthers Zorn ebbte auch durch diesen Gefühlsausbruch nicht ab.

Martin äußerte die Hoffnung, dass mörderische Verhältnisse wie diese mit dem neuen Papst ein Ende haben würden, und forderte Walthers Widerspruch geradezu heraus. »Mord, Vergewaltigung, Raub, das gibt es heute, das wird es morgen geben und in tausend Jahren. Solange es Menschen gibt, die den Besitz anderer begehren oder Macht über andere haben wollen, ändert sich daran nichts. Ich bin eher gespannt, ob Innozenz mit Macht umgehen kann. Ob bei ihm der Auftrag von Jesus, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, erkennbar bleibt«, fügte er noch verbittert hinzu.

Sie verbrachten den Rest des Tages damit, die Leichen zu beerdigen, während Martin alle Gebete sprach, an die er sich erinnerte. Walther konnte sich noch an die Namen der Nonnen und des Zisterziensers erinnern, aber nicht, aus welchem Kloster sie gekommen waren. Der Ritter Heinrich hatte einen Kärntner Akzent gehabt, aber sein Name war der häufigste Name im Heiligen Römischen Reich. Der Bettziechenweber war ihnen gänzlich ein Unbekannter geblieben. Niemand, nicht der Vetter des Ritters, der ihn unehelich genannt hatte, noch der Abt der Nonnen würde je erfahren, was aus ihnen geworden war. Es war, als hätten sie nie gelebt, ausgelöscht durch eine Stunde Gewalt und den Tod.

Das sah ich, und ich sag euch das: keiner, der lebet ohne Hass.

Die Worte gingen ihm nicht aus dem Kopf, fügten sich in eines seiner Lieder für Philipp ein. Aber wenn die Welt immer so war, dann war Walther trotzdem nicht zufrieden damit. Nicht zufrieden, sie so zu lassen. Die Menschen hatten Besseres verdient. Alle Menschen hatten Besseres verdient.

Das Spiel der Nachtigall
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