Deutsch-russische Vergleiche
Die Russen gehen gerne auf Reisen. Dabei spielt das Ziel der Reise eigentlich keine Rolle, der Prozess selbst ist das Entscheidende. Vor allem Männer überraschen oft mit spontanen Reisen ihre Arbeitskollegen und Familienangehörigen. Sie gehen kurz aus dem Haus, Bier holen, und rufen sechs Tage später aus Wladiwostok an. Dazu kommt, dass Russland ein unheimlich großes Land ist und den Eindruck von Grenzenlosigkeit vermittelt, sodass man meint, man könne dort ewig im Zug sitzen. In einem europäischen Land stößt der Reisende schnell an die nationalen Grenzen. Russland dagegen hat sehr lange Gleise, besonders wenn man mit dem Zug nach Norden in Richtung Sibirien fährt. Auf einer solchen Reise glaubt man beinahe, das Land habe sich von der Geografie befreit, es dehne sich endlos. Deswegen werden auch so westliche Werte wie Nachhaltigkeit und Mülltrennung in Russland als kleinkariert verspottet, weil die Russen eben ihrer Meinung nach in einem grenzenlosen Land leben. Und in ein grenzenloses Land kann man endlos Müll hineinkippen, ohne dass es groß auffällt. Nur an der Westseite hat dieses Land eine Grenze, dort wo die russischen Zugräder nicht mehr auf die Schienen passen. Dort hat der Spaß der Grenzenlosigkeit ein Ende.
Nicht zuletzt deswegen lag der Schwerpunkt der russischen Suche nach dem Sinn des Lebens schon immer bevorzugt hinter dem Ural. Dort schien er begraben zu liegen. Die besten Männer Russlands, die Blüte der Aristokratie, verließen die vornehme Gesellschaft in den russischen Hauptstädten und gingen für Jahre nach Sibirien in die Taiga, um die Natur zu studieren. Sie fanden heraus, wie es andere Arten unter schwierigen Voraussetzungen schafften zu überleben: indem sie zusammenkamen. Es gibt in der Natur kaum Einzelgänger, die meisten Tiere und Vögel bilden Herden, Scharen, Meuten und Schwärme, sie führen ein Leben aufgebaut auf den Prinzipien der Kooperation, der Solidarität und gegenseitigen Hilfe, die man bei den Menschen der europäischen »zivilisierten« Welt noch heute vermisst. Die Russen gingen immer weiter durch Wald und Schnee und machten sich Namen als herausragende Geografen, Polarforscher und Neulanderoberer.
Dann kam die Revolution, doch kaum hatte sich das Land von der rückständigen Monarchie befreit, wurde sie durch eine noch blutrünstigere Diktatur ersetzt. Der neue Staat versuchte, aus Sibirien das größte Zuchthaus der Welt zu machen. Millionen Russen wurden von Stalins Regime repressiert und nach Sibirien in Lager geschickt. So wurde der Norden auch noch zum Friedhof der Nation. An kaum einem anderen Ort sind so viele Dichter und Denker gestorben. Zu meiner Jugendzeit, in den lieblichen Achtzigerjahren des altersschwachen Sozialismus, hatte die Diktatur ihre Bürger nicht mehr so fest im Griff, auch wenn sie immer wieder so tat, als ob. Unsere sozialistische Diktatur war von vielen Alterskrankheiten geschwächt, sie hatte Alzheimer, oft vergaß sie sogar, was an ihr eigentlich sozialistisch war. Das gesellschaftliche Leben, selbst die Zeit schien in diesem versteinerten Staat zum Stehen gekommen zu sein. Nur die Züge fuhren, und sie waren voll. Die Gleise lenkten ab und luden ein, sie gaben jedem die Chance abzuhauen – natürlich nicht für immer, vielleicht nur für die kurze Zeit der Fahrt, aber zumindest da konnte sich ein Zugreisender von der stehen gebliebenen Realität erholen. Viele Lieder von damals feierten die Romantik der Zugfahrt: »Mein Herz klopft im Takt der Zugräder«, »Die Waggons schaukeln, die Waggons wackeln«, »Wir werden niemals umdrehen, unsere Lokomotive bleibt erst im Kommunismus stehen«.
Als Kind glaubte ich, die Welt sei an allen Ecken und Seiten verschieden wie ein Kaleidoskop. Ich dachte natürlich nicht, dass die Australier die ganze Zeit auf dem Kopf stehen würden mit den Füßen zur Sonne oder dass in Südamerika die Vögel tatsächlich mit dem Hintern nach vorne flögen, wie mancher bei uns behauptete. Aber ich konnte mir durchaus vorstellen, dass die Australier beim Gehen mal sprangen oder stolperten und die Vögel in Südamerika beim Fliegen ein wenig schief in der Luft hingen.
Die weite unbekannte Welt war eine unerschöpfliche Quelle für Phantasien über alternative Lebensentwürfe. Mit der Zeit habe ich mich jedoch mit der Allgemeingültigkeit der Naturgesetze abgefunden. Nirgends wird gestolpert oder schief gehangen, überall stehen Häuser, und ihre Bewohner laufen um sie herum. Ihre Sorgen sind in der Regel an ihrem Äußeren zu erkennen, ihre Vorlieben sind leicht nachzuvollziehen. Frauen mögen Blumen, Kinder Eis und Männer Bier. Selten in anderen Kombinationen. Und trotzdem haben wir es geschafft, aus denselben Voraussetzungen überall ein einzigartiges Leben aufzubauen. Dieser Zauber unserer Welt war am deutlichsten bei einer Zugreise zu erfahren. Man konnte wochenlang fahren, doch die Landschaft hinter dem Fenster veränderte sich kaum.
Im Zug ging es jedoch wie in der Küche einer Kommunalwohnung zu. Die Züge meiner Kindheit waren laut, sie rochen nach Wurst, Rauch und Alkohol. Ich absolvierte bereits als Baby jedes Jahr im Sommer eine Zugfahrt, allerdings nicht nach Sibirien, sondern in Richtung Süden. Ich wurde zur Stärkung meiner physischen und geistigen Kräfte zu meiner Großmutter nach Odessa geschickt. Sie wohnte am Schwarzen Meer, nach russischen Maßstäben also gleich um die Ecke, gerade mal achtundzwanzig Stunden mit dem Zug. Das sogenannte Platzkarten-Abteil bestand aus vier Klappbetten und zwei zusätzlichen im Korridor für weitere zwei Passagiere. Es gab keine Türen oder Wände zwischen Gang und Abteil, daher waren wir während der Fahrt immer zu sechst und saßen einander buchstäblich auf dem Kopf.
Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich als Zugnachbarn Jahr für Jahr immer die gleichen Typen, die bloß einmal etwas jünger und einmal älter ausfielen. Aber immer war ein Ingenieur auf Dienstreise dabei, der tagsüber mit grobkörnigen Komplimenten die Schaffnerin umschmeichelte und nachts vom Regal fiel. Außerdem fuhr stets eine ältere Dame mit, die auf ihrer Liege im Liegen Atemgymnastik machte, ein molliges Mädchen mit Zopf, das verträumt in einem ebenfalls molligen Buch blätterte, und der demobilisierte Soldat, der seine Uniform nicht einmal nachts auszog, als hätte er keine Unterhose an. Die Hauptattraktion russischer Züge war das Waggon-Restaurant : Kein anderer Ort war zum dauerhaften Feiern besser geeignet. Dabei brauchte man nicht einmal ein schlechtes Gewissen zu haben, denn ein Restaurant, das auch noch fuhr, erfüllte den geheimen Wunsch jedes nach dem rechten Lebenszweck suchenden Menschen: Man tat gar nichts, kam aber trotzdem voran.
Der Zug gab die Sicherheit, die wir im sesshaften Leben nie fanden: Er fuhr immer auf dem richtigen Weg, er konnte sich unmöglich verlaufen. An Punkt A losgefahren, kam er immer an Punkt B an, wenn auch oft mit Verspätung. Aber wir hatten ja Zeit. Und die Bahnhöfe waren Horte der Sentimentalität, wo selbst Russen, die sonst eher zurückhaltend waren und ungern ihre Emotionen in der Öffentlichkeit zeigten, buchstäblich die Sau rausließen. Nirgendwo wurde bei uns so viel getuschelt und geküsst. Die Gleise verbanden die Menschen, und die Züge waren immer die gleichen, egal wie unterschiedlich die Passagiere sein mochten. Ich stellte mir vor, unser ganzer Planet sei mit diesen Gleisen umwickelt, man könne ein Leben lang um die runde Erde herumfahren, wobei allerdings die Überwindung der Ozeane entweder spezielle Zugschiffe oder sehr große Brücken oder ebenso lange Tunnel erforderlich machte.
Auf meiner Fahrt nach Berlin habe ich jedoch festgestellt, dass die Gleise doch nicht überall die gleichen waren. An der westlichen Grenze des sonst grenzenlosen Landes bekamen die russischen Züge andere Räder. Nicht nur das, auch die Passagiere veränderten sich merklich. Der Ingenieur hörte abrupt auf, die Schaffnerin anzubaggern und fiel nicht mehr vom Klappbett, die alte Dame beendete ihre Atemgymnastik, das Mädchen legte ihr Buch beiseite. Alle schauten interessiert aus dem Fenster und verglichen.