Held werden

Wir wohnen in einer sportlichen Gegend. Bei gutem Wetter sitzen im Park auf der anderen Seite der Straße Frauen in Sportanzügen und machen Atemgymnastik, Jungs werfen einander kleine Bälle zu, und langsam wie Schildkröten ziehen Jogger unter meinem Balkon vorbei. Die alte olympische Parole »schneller, höher, weiter« passt zu diesen Sportlern nicht. Sie wollen keine Spitzenleistungen erbringen, sondern sich bloß fit halten. Nicht umsonst ist die populärste Sportart in Deutschland nicht Fußball, sondern Yoga – die demokratischste Form der Fitness. Jeder, ob dick, dünn, faul oder geistig behindert, kann Yoga machen. Man braucht keine Geräte, keine Ausrüstung, höchstens eine Yogamatte oder für Fortgeschrittene ein Nagelbrett zum bequemen Sitzen. Doch zur Not kann man Yoga auch auf einer alten Zeitung üben. Wenn man keine Lust hat, allein zu trainieren, geht man zu einer Gruppe. Beinahe in jeder Straße bei uns gibt es ein Yoga-Center, manche mit, manche ohne Guru. Dabei werden besonders »innere Ruhe und Ausgeglichenheit« trainiert. Außerdem verspricht Yoga dem fleißigen Schüler eiserne Kraft, ewige Jugend und ein ausgeglichenes langes Leben in Harmonie mit sich selbst und der Welt. Die Yogis sind die Helden des Egoismus.

Neulich sagte mir ein Freund und Nachbar, nachdem er mehrere Stunden im Fitnesscenter verbracht hatte, er wolle damit bloß etwas für seinen Oberkörper tun. Für jemanden, der wie ich in einem ideologischen Staat aufgewachsen ist, hörte sich das merkwürdig an. Bei uns tat man etwas für seine Familie, für Freunde, für die Frau, die man liebte, letzten Endes für Volk und Vaterland. Aber für seinen Oberkörper? An die Stelle der ideologischen Zwänge der Vergangenheit sind die körperlichen Zwänge der Neuzeit getreten, wir sind in einer putzigen Oberkörper-Gesellschaft gelandet. Die Helden aus früheren Zeiten, all die Supermans, Batmans und Spidermans, hatten sich zwar auch um ihren Oberkörper gekümmert, das taten sie aber nur, um mit ihm die Welt zu retten. Die Helden der sowjetischen Zeit schmissen sich mit ihrem Oberkörper gar auf feindliche Maschinengewehre wie Alexander Matrossow, oder sie sprengten sich zusammen mit dem Feind in die Luft wie der Pionierheld Marat Kasei.

Der Hauptunterschied zwischen den westlichen und unseren Helden war: Unsere waren alle tot. Nur ein Toter konnte bei uns ein richtiger Held sein. Zumindest die Pioniere, die Kinderhelden, haben alle ihr Leben geopfert. Sie wurden in einem Buch aufgelistet, das in fast jedem Kinderzimmer der Sowjetunion im Bücherregal stand. Nicht alle diese Pioniere sind mit der Waffe in der Hand zu Helden geworden. Pawlik Morosow zum Beispiel denunzierte seinen Vater, einen Bauer, der die halbe Ernte vor den Kommunisten versteckt hatte, und wurde dafür von den anderen Verwandten umgebracht. Ein anderer waffenloser Held war Musja Pinkelson, ein jüdischer Junge, der auf von Deutschen okkupiertem Territorium blieb und laut der Legende so gut Geige spielte, dass die Deutschen ihn statt ins KZ nach Hause schicken wollten. Aber da spielte Musja Pinkelson plötzlich aus Trotz die Internationale und wurde prompt zu einem Pionierhelden. Diese Kinder sollten uns ein Vorbild sein, weil sie so viel Schmerz und Leiden aushielten, Mut und Durchhaltevermögen zeigten und ihr Leben opferten, um die Allgemeinheit zu retten.

Nach dem Krieg kamen allerdings keine neuen Helden mehr dazu. Und ohne Heldentaten stagnierte wiederum die Ideologie. Die ersten Helden der Neuzeit kamen erst 1975 in die Sowjetunion, als im sowjetischen Fernsehen ein Dokumentarfilm mit dem Titel IndischeYogis – wer sind sie wirklich? ausgestrahlt wurde. Es ist bis heute unklar, wie dieser Film durch alle Barrikaden des Zensurkomitees in das stark kontrollierte ideologische Feld der Sowjetunion gelangen konnte. Der Sinn dieses Aufklärungsfilms bestand natürlich nicht darin, Werbung für Yoga zu machen, sondern umgekehrt: die dekadenten und perversen Praktiken des Auslandes zu entlarven. Doch was die Bürger auf dem Bildschirm zu sehen bekamen, erinnerte keineswegs an lausige Schergen des Kapitals. Die kleinen dünnen Yogis saßen auf Nagelbrettern, konnten sich tagelang mit einer Hand an einen Baum hängen, liefen über glühende Kohle und lächelten dabei milde. Sie konnten Ewigkeiten unter Wasser schwimmen, ohne zu atmen, und monatelang ohne Essen und Trinken aushalten. Das wollten die Russen schon immer können.

Schon am Tag nach der Ausstrahlung des Films saß das halbe Land im Schneidersitz. Früher unsportliche Menschen schrieben Yoga-Übungen per Hand voneinander ab und gaben ihre Schriften weiter. Anders als ihre Vorgänger wollten die Yogis weder die Welt retten noch die Überlegenheit einer Ideologie beweisen. Sie saßen nicht aus Prinzip auf den Nägeln, sondern einfach so, aus Spaß. Die Verbreitung von Yoga wurde zu einer Katastrophe für die sozialistische Ideologie. Statt die Klassiker des Marxismus-Leninismus zu studieren, standen die Menschen Kopf, zu Hause und bei der Arbeit. Manche kamen bei der Erforschung der Möglichkeiten des eigenen Körpers ziemlich weit. Meinem Vater gelang es einmal, ein Bein hinter den Kopf zu klemmen, zurück schaffte er es jedoch nicht mehr – die Folge war ein Leistenbruch. Nach drei weiteren Leistenbrüchen hörte er mit Yoga auf.

Mein Freund, der Künstler, schimpft gerne über Yoga und die ganze indische Philosophie. Er sagt, sie sei die Religion der Gleichgültigkeit. Diese Menschen könnten zwanzig Jahre lang eine Wand anstarren, die Welt sei ihnen einfach egal, sie wollten bloß ihre innere Ruhe haben und sich nicht anstrengen. Deswegen lebten sie auch so lange.

»Du kannst wählen«, schimpfte mein Freund, »entweder etwas Gutes tun und hoffen oder dein Leben wie ein Schmarotzer entspannt in der Lotus-Position auf dem Nagelbrett verbringen! Die erfahrenen Yogis sagen, es täte sowieso nur beim ersten Mal weh. Danach muss man nur noch die alten Löcher treffen.«