GPS
Im internationalen Klischeevergleich haben die Deutschen und die Russen gegeneinander gerichtete Karten gezogen. Die Deutschen die Ordnung und die Russen die Anarchie. Wenn man diese angeblich volkstypischen Eigenschaften etwas genauer betrachtet, wird einem schnell klar: Sie sind beide aus dem gleichen Teig gebacken, aus dem Misstrauen gegenüber dem Nachbarn. In Deutschland hat es historische und geografische Gründe. Im engen Europa war der deutsche Wald schon immer dicht eingekesselt, von Fremden umzingelt. Ein Schritt nach links – Frankreich. Ein Schritt nach rechts – Polen. Man musste sich allein schon deswegen ordentlich in Reih und Glied aufstellen, um einander nicht aus dem Blick zu verlieren. Deswegen gelingen den Deutschen bis heute am besten gemeinschaftliche Sportarten und Massenaktionen, sei es Karneval, Oktoberfest, Love-Parade oder Bezirksevakuierung. Die Angehörigen anderer, weniger disziplinierter Völker fahren extra nach München oder in die Karnevalshochburg Köln, um deutsche Kollektivfeste zu bewundern.
Die Deutschen selbst halten ihre Art für nicht besonders herausragend. Statt sich selbst zu bewundern, staunen sie über die »russische Seele«, ein Ausdruck für die russische Anarchie. Auch sie entspringt dem Misstrauen dem Nachbarn gegenüber. Dieses Misstrauen ist in Russland mit den Jahren nicht weniger geworden. Nach wie vor schreiben die Russen beispielsweise keinen Namen auf ihre Briefkästen, damit der Nachbar sie nicht denunzieren kann. Auch fragen sie nie nach dem Weg. Lieber gehen sie verloren, als einem Fremden zu erzählen, wohin sie wollen. Der Einzige, der sich in Russland immer nach dem Weg erkundigen kann, ist ein Ausländer oder jemand, der sich für einen Ausländer ausgibt.
Um das Vertrauen der Russen zu gewinnen, muss man sich etwas dusselig anstellen und mit einem ausländischen, am besten deutschen Akzent freundlich nach dem Weg fragen. Ausländern helfen die Russen gerne, sie haben Mitleid mit ihnen, denn aus der Sicht der Russen sind alle Ausländer ein bisschen verpeilt. Russen selbst hassen es, von jemandem geführt zu werden, sei es ein Präsident, ein Oktopus oder ein Navigationsgerät. Der Deutsche dagegen überlässt die Führung gerne einer aus seiner Sicht vertrauenswürdigen Person, z.B. seinem Hund, seiner Frau oder seinem Staat. Obwohl sie ihn oft in die falsche Richtung ziehen, bleibt er seiner gewählten Führungsperson bis zum bitteren Ende treu. Das wissen Hunde, Frauen, Politiker und Versicherungsvertreter sehr zu schätzen.
Diese deutsche Stärke, die gleichzeitig eine Schwäche ist, kommt besonders deutlich in dem bekannten deutschen Märchen Der Rattenfänger von Hameln zum Ausdruck. Dem Helden dieser Geschichte, einem wandernden Kammerjäger, ist es gelungen, durch einfaches Flötenpfeifen zuerst alle Ratten der Stadt Hameln in Reih und Glied aufzustellen und sie dann in den sicheren Tod, nämlich die Weser, marschieren zu lassen. Später, als die Bewohner von Hameln seine Dienstleistung nicht anständig bezahlen wollten, lockte er auf die gleiche Weise alle Kinder aus der Stadt.
Bei dieser traurigen Geschichte wird gerne hervorgehoben, dass es hier um die unwiderstehliche Kraft der Musik gehe, obwohl es doch jedem Blinden klar sein müsste, dass es in Wahrheit um eine übertrieben hohe Bereitschaft der Deutschen geht, zusammen zu marschieren, ganz egal wohin. Die Musik spielt dabei keine besondere Rolle. Wäre der Rattenfänger zum dritten Mal in die Stadt gekommen, hätte er mit der gleichen einfachen Melodie nicht nur die Kinder der Bürger von Hameln, sondern auch ihre Frauen, ihre Hunde, ihre Katzen, letzten Endes sie selbst in die Weser geführt, sie wären sicher begeistert hinter ihm her getrampelt.
Wenn man dieses alte Märchen in die heutige Zeit verlegt, würde man feststellen, der moderne Rattenfänger des Deutschen ist sein Navigationssystem, auch GPS genannt. Dieses wunderbare Gerät, einst für die Nöte des Militärs entwickelt, kann im ständigen Austausch mit Satelliten, die aus dem Weltraum heraus unsere Erde pausenlos beobachten, gefährliche Waffenlabors in Schurkenstaaten erkennen oder einem Autofahrer den kürzesten Weg nach Freising anzeigen. Obwohl aus dem Weltall nicht alle Baustellen zu sehen sind, hat das Navigationsgerät in kürzester Zeit große Beliebtheit erreicht, und das nicht nur bei Autofahrern. Viele tragen es mit sich, auch wenn sie ohne Auto unterwegs sind. Das tun sie aus Angst, jemand würde ihnen das Navigationsgerät klauen und ihre Lebensroute entschlüsseln. Andere haben es in ihren Telefonen. Die modernen Mobiltelefone haben fast alle ein Navigationsgerät. Das hat zur Folge, dass immer mehr Menschen abbiegen, ohne auf Straßenschilder zu schauen. Stattdessen starren sie auf ihr Handy, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie alle in der Weser landen.
Es ist oft schwierig, sein Ziel präzise einzugeben, und so kommt es immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Mensch und Gerät. Der Mensch glaubt, sein Ziel bereits erreicht zu haben, das Gerät meint jedoch, der Weg gehe noch weiter.
Neulich aßen wir an einer Raststätte, neben uns saß ein älterer Herr. Ein kleiner Kasten lag vor ihm auf dem Tisch. Kaum hatte der ältere Herr ein Stück Wurst auf der Gabel, fing der Kasten an zu reden.
»Abfahrt!«, sagte das Gerät laut. »Bei der ersten Gelegenheit biegen Sie nach rechts ab.«
Dem älteren Herrn wäre beinahe die Wurst aus dem Mund gefallen. Er sprang hoch, nahm den Kasten und lief in großen Schritten zu seinem Auto, um den Anweisungen des Gerätes zu folgen.
Ich habe das Gefühl, früher wussten die meisten, wohin sie wollten. Heute sind viele unentschlossen, besonders bei schlechtem Wetter oder wenn an ihrem Satelliten Wartungsarbeiten angesagt sind. Ohne Navi kommen sie nicht mehr vom Fleck. Viele reden mit ihren Navigationsgeräten mehr als mit ihren Familienangehörigen. Bei anderen ersetzen die Navigationsgeräte sogar ihre Familienangehörigen. Eine Bekannte von mir fuhr mit einem Navigationsgerät, das mit der Stimme ihres verstorbenen Mannes zu ihr sprach. Eigentlich hatte sie den Mann noch vor seinem Tod aus Unzufriedenheit mit seinem scheußlichen Charakter verlassen. Er war Gymnasiallehrer, wusste immer alles besser und gab ihr ständig Anweisungen, als wäre sie eine seiner Schülerinnen und keine erwachsene Frau. Sie stritten sich ständig, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie schließlich auseinandergingen. Der Mann konnte keine Kompromisse schließen, seine Führungsrolle nicht aufgeben, erkannte selbst keine Autoritäten an und hörte auf niemanden – außer auf sein Navigationsgerät.
Das hat ihn letzten Endes in den Tod geführt. Mit seinem Mitsubishi fuhr er auf der Landstraße nach Neuruppin, als sein Navigationsgerät ihm sagte: »Jetzt abbiegen.« Er sah zwar einen Minibus vollbeladen und viel zu schnell rückwärts aus der Straße kommen, doch das Gerät sagte: »Jetzt.« Der Lehrer bog ab und bremste so unglücklich, dass er sich beim Aufprall das Genick brach. Der Fahrer des Busses hielt an und brachte ihn ins Krankenhaus, doch zu diesem Zeitpunkt war der Lehrer bereits tot. Das Auto war Schrott, nur das Navigationsgerät überlebte und wurde der Witwe übergeben. Am Tag des Begräbnisses fuhr sie damit zum Friedhof, parkte ein und ging die richtige Allee suchen. Sie war zum ersten Mal auf dem großen Friedhof und hatte sich schnell verlaufen. Als sie verzweifelt jemanden suchte, um nach dem Weg zu fragen, fing das Navigationsgerät ihres verstorbenen Mannes in ihrer Handtasche mit der Stimme ihres verstorbenen Mannes an zu reden: »Nach hundert Metern biegen Sie rechts ab!« Ihr Mann konnte es selbst nach seinem Tod nicht lassen, ihr weitere Anweisungen zu geben. »Nach dreihundert Metern haben Sie Ihr Ziel erreicht«, sagte die Stimme, und tatsächlich navigierte sie das Gerät zum Begräbnisort. Viele Arbeitskollegen waren gekommen, und die Klasse, die ihr Mann als Klassenlehrer betreut hatte, war beinahe vollzählig erschienen. Meine Bekannte erlitt durch dieses Erlebnis einen schweren Schock. Sie hatte das Gerät extra im Hinterhof ihres Hauses begraben und sich kein neues besorgt. Seitdem glaubt sie an eine Verschwörung der Navigationsgeräte gegen die Menschheit.
Diese Geräte werden mit Algorithmen gespickt, deren ganzer Sinn darin besteht, die optimale Bewegung des Fahrzeuges zu ermöglichen, also das Auto schnell durch die Gegend zu bringen und Verkehrshindernissen auszuweichen. So werden Autos immer intelligenter. Sie fahren schon jetzt so gut wie von allein, und früher oder später werden ihre Navis die Wahrheit erkennen müssen, dass nämlich das größte Verkehrshindernis nicht die Baustellen sind, sondern die Autofahrer selbst. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass die Geräte daraufhin beschließen, diese eigenwilligen Verkehrshindernisse zu beseitigen, um ihre Route endgültig zu optimieren. Eines Tages sagen alle Navigationsgeräte gleichzeitig: »Jetzt rechts«, und eine neue Zeit wird beginnen, eine neue Route, bei der alle Verkehrsteilnehmer makellos diszipliniert handeln, alle Verkehrsregeln penibel beachtet werden und keiner mehr hupt.