Neue Heimat
Wenn man von einem Land in ein anderes zieht, nicht nur, um sich die dortigen Sehenswürdigkeiten anzugucken, sondern mit dem Wunsch, dort ein neues Leben auf unbekanntem Territorium zu beginnen, so ist die tödlichste aller Gefahren der Vergleich. Dessen Verführungskraft ist allerdings sehr stark und hängt mit der Verführung durch den Zweifel zusammen. Kaum einer kann ihr widerstehen, und natürlich muss die neue Heimat den wildesten Erwartungen standhalten. Alles Neue und Ungewohnte wird genauestens bewertet, die Vorzüge und Nachteile abgewogen – die Sitten, die Waren, die Fernsehprogramme, die Architektur … Und immer fällt die neue Heimat beim Vergleich durch. Nie hält sie, was man sich von ihr versprochen hat.
Ich glaube, dieses Phänomen ist überall auf der Erde gleich, egal ob ein Chinese nach Australien zieht oder ein Kroate nach Finnland. Nur kenne ich viel zu wenig Chinesen und Kroaten, dafür aber sehr viele Russen und Ukrainer in Deutschland. Wenn ein Russe von den Deutschen spricht, dann sagt er, ihnen fehle das Herz. Sie gehen zwar auch gerne saufen, sie sitzen nächtelang in Biergärten oder ziehen mit einem Leiterwagen und Aquavit durch Kohlfelder. Sie sind als Extremtouristen überall auf der Welt bekannt, fahren mit dem Motorrad steile Berge hinauf und hinunter, laufen Marathon durch die Wüste, jagen bei großen Open-Air-Partys Mädels hinterher, doch das alles tun sie ohne Herz, aus bloßem Interesse. Und wenn das Interesse gesättigt ist, hören sie mit ihren Exzessen auf und gehen von neun bis fünf und einer Mittagspause zwischendurch wieder einer abhängigen Beschäftigung nach.
Dieses Doppelleben ist unter den Einheimischen in Deutschland stark verbreitet. Ihre Leidenschaften bleiben immer Hobbys. Während andere sich an ihren Abenteuern verbrennen, wollen sich die Deutschen eigentlich nur bilden. Deswegen werden hier in den Reisebüros statt erholsamer Sauftouren gerne »Bildungsreisen« angeboten. Die Menschen finden es toll, wenn man im Urlaub nebenbei noch irgendeinen Motorboot-Führerschein bekommen oder Spanisch lernen kann.
Die größte Schwäche seiner neuen Heimat ist aus Sicht des Neuankömmlings natürlich ihre Gastronomie. Hier entdeckt er riesige Defizite. Man kann unendlich lange darüber sinnieren, wie gesund, ökologisch bewusst und vitaminreich sich das Essen in Deutschland präsentiert, Tatsache ist: Nichts schmeckt hier so, wie es schmecken soll. Das fängt mit dem Brot an und endet bei Wassermelonen und Gurken. Diese Produkte sind keine Delikatessen, in Russland weiß jedes Kind, wie eine Gurke oder eine Beere oder eine Wassermelone zu schmecken hat. Ganz sicher nicht nach Zeitungspapier.
Den hiesigen Produkten fehlt es einfach an Geschmack, an Fett und Zucker und anderen Stoffen, die das Essen schmackhaft und die Menschen etwas mollig machen. Abgesehen davon fehlt hierzulande die Kultur der leicht gebeizten Gurke, des Pilzes und des Krauts. Die Deutschen können kein Gemüse richtig einlegen, sie bringen ihre Gurken mit Essig und Chemikalien um, sie trinken den Wodka warm und im Stehen und halten das polnische nastrovje für einen russischen Trinkspruch. Sie werden viel zu schnell betrunken und fallen immer dann um, wenn es am interessantesten wird, wodurch ihnen der unterhaltsame Weg in die Vielfalt der osteuropäischen Gastronomie verwehrt ist.
Ein weiterer großer Mangel und ein nicht weniger großes Problem hierzulande ist die sogenannte Aufklärung, ein Bildungsprozess aus der Vergangenheit, der mit den Deutschen von heute nichts mehr zu tun hat, sie aber im Glauben lässt, sie wären so etwas wie die Kulturavantgarde der Menschheit. Dabei haben sie eine Schwäche für dumme Kabarettistenwitze, schweinische Zeitungsüberschriften, hässliche Einfamilienhäuser und Hunde, die aus großen Büchsen mit vielen Konservierungsstoffen ernährt und dadurch praktisch unsterblich werden.
Ein anderes Thema ist die deutsche »Vergangenheit«. Mit »Vergangenheit« werden hier in der Regel die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Diktatur bezeichnet, die in ihrer Mordlust und Monstrosität alle anderen Epochen und Diktaturen Europas locker übertreffen. Diese deutsche Vergangenheit sorgt bei den Russen oft für Unbehagen, besonders wenn sie auf sehr alte Menschen oder alt aussehende Hunde stoßen, die eigentlich fast immer sympathisch und nett wirken. Viele müssen aber schon als Kleinkind Mitglied der NSDAP gewesen sein. Obwohl der Krieg inzwischen seit mehr als sechzig Jahren vorüber ist, entbrennen in den deutschen Medien noch immer regelmäßig Skandale, weil neue Fakten auftauchen – dass der Schauspieler X oder der Sozialdemokrat Y als Kleinkind bereits bei den Nationalsozialisten mitmachte. Wahrscheinlich hat diese Diktatur in ihrer Agonie oder aus Verzweiflung sogar Föten in die Partei eintreten lassen, um sich auf diese Weise den Zugang zu den deutschen Medien des XXI. Jahrhunderts zu sichern.
Ich habe nur einmal eine Begegnung mit dieser deutschen »Vergangenheit« erlebt. Das war im Juli 1990 in Ostberlin. Damals war die Wiedervereinigung de facto bereits abgehakt, obwohl die DDR de jure noch existierte. Es fühlte sich an, als hätte der Lauf der Geschichte für einen Moment haltgemacht, um Luft zu holen. Die Ostberliner hatten in jenem Sommer die einmalige Gelegenheit, etwas zu erleben, das es so nirgends auf der Welt mehr gab: Sie lebten gleichzeitig im Sozialismus und im Kapitalismus. Sie genossen die Vorzüge beider Systeme, ohne ihre Nachteile zu spüren. Als Wohnungsmiete zahlten sie noch immer 16,50 DM, in den Kaufhallen lagen aber schon Berge von Bananen, und man konnte laut auf Honecker und die Kommunisten schimpfen. Die Polizei hatte Angst, die Punks von der Straße zu verjagen, und die Verkäuferinnen hatten keine Lust, die neuen Produktnamen auswendig zu lernen, jeden Tag kamen neue dazu. Sie antworteten zur Sicherheit: »Ham wa nich«, wenn man Unbekanntes verlangte. Dabei stand schon alles in den Regalen.
In dieser wunderbaren Zeit gingen mein Freund Boris und ich oft und gerne in der nagelneuen Kaisers-Filiale in Prenzlauer Berg einkaufen, die sich in einer leer stehenden DDR-Konsumkaufhalle eingerichtet hatte. Wir waren beide frisch aus der Sowjetunion geflüchtet, unsere alte Heimat befand sich gerade in Auflösung, und beinahe jede Woche ging ihr ein Stück ihrer Identität verloren. Unsere neue Heimat war dagegen gerade im Aufbau – täglich wurden riesige Laster mit Westwaren vor den Hintertüren der Ostkaufhalle ausgeladen.
An einem sonnigen Tag traf uns die deutsche Vergangenheit wie ein schwarzer Schatten, und zwar dort, wo wir sie am wenigsten erwartet hatten – vor der Kaufhalle. Auf dem Bordstein vor der Tür saß ein alter deutscher Schäferhund. Er sonnte sich mit geschlossenen Augen und wirkte überhaupt nicht böse, sondern verschlafen und müde. Boris stellte sich neben den Hund, um sich eine Zigarette zu drehen. Damals war Zigarettendrehen groß in Mode, alle drehten schwarzen Tabak wie verrückt, und manche konnten es sogar mit einer Hand in der Hosentasche. Mein Freund hatte noch keine solche Geschicklichkeit entwickelt, er brauchte ein spezielles Gerät, um Zigaretten zu drehen. Trotzdem fiel sein Tabak immer wieder auf den Asphalt, und Boris schimpfte laut auf Russisch. Zu diesem Zeitpunkt konnte noch keiner von uns Deutsch, unsere Sprachkenntnisse waren auf das Minimum reduziert, das wir aus sowjetischen Kriegsfilmen kannten. In diesen Filmen sprachen russische Schauspieler, die Deutsche spielten, einander gelegentlich auf Deutsch an, um ihrer Rolle mehr Glaubwürdigkeit und Ausdruck zu verleihen. Es waren schlichte Sätze, die man sich leicht merken konnte wie zum Beispiel »Heil Hitler« oder »Feuerzeug kaputt« oder »Sie können gehen, Barbara«. Das war nicht viel, und wir konnten deswegen auf Deutsch keine Unterhaltung führen, wir konnten auch nicht auf Deutsch schimpfen, aber zum Einkaufen reichte es.
Mein Freund stand also in der Sonne, drehte seine Zigarette und schimpfte laut auf Russisch. Plötzlich erwachte der alte Hund. Er drehte seinen Kopf zu Boris, und ohne die Augen zu öffnen, nahm er Boris’ Hand ins Maul. Es sah schrecklich aus. Der Hund biss meinen Freund nicht, er hielt seine Hand zwischen seinen scharfen gelben Zähnen, zärtlich, aber fest. Dabei öffnete der Hund die Augen und schaute meinem Freund direkt ins Gesicht. Boris wirkte ziemlich durcheinander. Ihm fiel in dieser Situation nichts Besseres ein, als »Heil Hitler« zu sagen. Sofort machte das Tier sein Maul auf und ließ Boris los. Danach schloss der Hund die Augen wieder und tat so, als würde er im Sitzen schlafen.
Wir gingen sofort weg von der Kaufhalle, ohne ein Wort zu wechseln, aber mein Freund stand noch eine ganze Weile unter Schock. Wir wussten natürlich nicht, wie dieser schreckliche Hund reagiert hätte, wenn wir zu ihm »Feuerzeug kaputt« gesagt hätten oder »Sie können gehen, Barbara«. Doch wir beide waren überzeugt, dass dieser Hund ein Nazi war. Das Ganze ist nun schon zwanzig Jahre her, der Hund ist hoffentlich längst tot (sie sind zäh wie Leder), und mein Freund Boris ist vor zwölf Jahren nach Amerika emigriert. Er studierte dort Grafikdesign und schleppt als staatlich geprüfter Fremdenführer in New York russische Touristengruppen durch die Gegend.