Der deutsche Kletterwald

Jedes Alter hat seine Tücken, aber nichts ist anstrengender als die Pubertät. Es gäbe drei Mädchen-Cliquen in ihrer Klasse 6a, berichtete mir meine Tochter Nicole. Die obercoolen Mädchen aus der Mainstream-Clique tragen schon alle einen BH, benutzen Nagellack und schminken sich – nicht immer dezent. Die BH-Trägerinnen stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und werden von den Lehrern und anderen Schülern mit Respekt behandelt. Zu der zweiten Clique gehören Mädchen, die geistig schon längst reif für den BH sind, aber aus technischen Gründen noch keinen tragen. Ganz abseits vom Mainstream sind die sogenannten Babymädchen, die statt Rihanna-Clips den Kinderkanal im Fernsehen gucken.

Meine Tochter ist klein und kann daher nicht bei den Obercoolen angeben. Sie beneidet die Großen sehr und leidet unter dieser krassen Ungerechtigkeit der Natur, die irgendwelche blöden Kühe zu Obercoolen wachsen lässt und sie nicht. Ich als Vater leide mit meiner Tochter selbstverständlich mit, bloß: Wie kann ich ihr helfen? Und muss man das Erwachsenwerden beschleunigen? Bei solchen Fragen sind selbst die besten Väter hilflos.

»Würdest du bitte an unserem Wandertag teilnehmen?«, fragte mich Nicole eines Tages. Sie fuhr mit der Klasse in den sogenannten Kletterwald nach Strausberg-Nord, und es wäre cool, wenn ich mitkommen würde. Der Vater ihrer Freundin Mari, ein Polizist, habe auch vor mitzukommen, erklärte sie mir. Er nähme die Erziehung seiner Tochter sehr ernst. »Wenn du mitkommen könntest und ihn mit einem tiefschürfenden Gespräch von der Erziehung seiner Tochter ablenken würdest, dann könnten wir in der S-Bahn in Ruhe Musik hören«, meinte Nicole.

Ich sagte leichtsinnigerweise zu. Spätestens beim Wort »Kletterwald« hätte es natürlich bei jedem vernünftigen Vater geklingelt, und er hätte mindestens im Internet nachgeschaut, worauf er sich da einlässt. Aber ich konzentrierte mich auf den Vater von Mari, den Polizisten, und dachte über das Endziel des Ausflugs nicht weiter nach. Die Attraktion »Kletterwald« stellte ich mir entspannend vor: kleine Tannen mit aufgespannten Schaukelnetzen dazwischen und glückliche Kinder, die in den Büschen herumkrabbeln. Für alle Fälle zog ich mir Turnschuhe an.

Die Fahrt nach Strausberg-Nord dauerte eine Stunde und einunddreißig Minuten. Die Klasse 6a wurde von drei Erwachsenen begleitet: von Frau Walzer, der Sportlehrerin und gleichzeitig Klassenlehrerin der Klasse 6a, von dem Polizistenvater und von mir. Ich habe viel Interessantes über Polizeiarbeit erfahren: Wie verschiedene Fußballfans nach dem Grad ihrer Aggressivität eingestuft werden, und woher all die übergewichtigen Polizisten kommen, obwohl sie doch so einen sportlichen Beruf haben.

Der Vater von Mari war allerdings nicht irgendein gewöhnlicher Streifenpolizist, sondern ein Ordnungshüter auf Weltniveau. Er hatte bereits bei wichtigen Gipfeltreffen und Fußballspielen die Sicherheit gewährleistet und in Afghanistan Polizisten ausgebildet, damit sie besser gegen ihre Feinde, die Taliban, vorgehen konnten. Wobei er sich jedoch nicht sicher gewesen war, ob er nicht gleichzeitig auch die Taliban selbst ausbildete. Männer in archaischen Gesellschaften wechseln gerne ihre sozialen Rollen. Tagsüber sind sie Polizisten und bekämpfen die Taliban, nachts sind sie möglicherweise selber Taliban und bekämpfen die Polizisten. Auf jeden Fall wächst die Widerstandskraft der Taliban in gleichem Maße wie die Schlagkraft der Polizei. Je besser die einen ausgebildet werden, umso sicherer agieren die anderen. Ein Paradox, meinte der Polizistenvater. Außer in Afghanistan hatte er auch im Kosovo ausgebildet, und wahrscheinlich hat er auch zu Hause seine Frau und seine Tochter ausgebildet, aber danach habe ich ihn nicht gefragt.

Ich fühlte mich völlig in Sicherheit, in der S-Bahn neben dem Mann zu sitzen. Die Mädchen hörten entspannt die ganze Zeit Musik. An der Endstation stiegen wir aus und gingen den Rest des Weges zu Fuß. Ich war noch nie in Strausberg-Nord gewesen, und ich glaube, man fährt auch ohne Not nicht dorthin, es sei denn, um zu klettern. Die Gegend sah ländlich aus, kleine weiß gestrichene Häuschen, viel Grün. Die Bewohner von Strausberg-Nord hatten noch die inzwischen in den Städten selten gewordene Angewohnheit, ihre Unterwäsche auf dem Hof zum Trocknen aufzuhängen. Überall wehten Büstenhalter in unglaublichen Größen. Auch ein paar kleine Höschen waren zu sehen.

Im Kletterwald angekommen dachte ich zuerst, es müsse sich um einen Scherz handeln. Es war schließlich gerade der erste April, der Tag der Scherze. In zwanzig Metern Höhe hingen dort Metallkonstruktionen, so weit von einander entfernt, dass man fliegen können musste, um weiterzukommen. Die wackelnden Treppen, die einfach so in der Luft hingen, die schrecklichen Seile – die ganze Anlage sah aus wie eine kompliziert gebaute Folterstrecke mit abschließendem Erhängen. Nicht einmal der dümmste Makake würde sich auf ein solches Abenteuer einlassen, dachte ich, sagte aber nichts. Ich wartete, bis die anderen es selbst einsahen. Die hatten aber anscheinend keine Berührungsängste mit dem Kletterwald. Die Mitarbeiter gaben uns schließlich eine kleine Einweisung. Demnach gab es acht verschiedene Routen, eine schlimmer als die andere. Und für alle Kletterfans ab einem Meter sechzig wäre da noch die sogenannte Extremroute im Angebot, ein ganz besonderer Spaß für auf den Kopf Gefallene.

»Die Erwachsenen wollen auch mitmachen?«, fragte die Kletterwaldmitarbeiterin.

»Natürlich«, sagte Frau Walzer, die Sportlehrerin.

»Klar doch«, sagte der Afghanen-Ausbilder.

Und ich, ein Schreibtischarbeiter, sagte ebenfalls Ja, um nicht als Versager dazustehen.

Sekundenschnell wurden wir drei von Mitarbeitern des Kletterwaldes in spezielle Gürtel mit Rollen, Sicherheitsseil, Karabinern und andere Bergsteigerausrüstung gehüllt, dazu bekamen wir Schutzhelme und Handschuhe, und eine Minute später hing ich schon an einem Baum fest.

»Ich muss auf die Kinder aufpassen«, sagte Frau Walzer. »Jemand muss aber am Boden bleiben!«, rief sie uns zu und kletterte den nächsten Baum hoch.

Der Polizistenvater überlegte kurz und sagte, er werde am Boden bleiben, für alle Fälle, und um die Sicherheit von unten zu gewährleisten.

»Ich halte Ihnen den Rücken frei«, zwinkerte er mir zu und zog seinen Klettergürtel wieder aus.

Für mich führte nun kein Weg zurück. Meine Tochter und ihre ganze Klasse hatten sicher aufgepasst – was würden sie denken? Der Vater von Nicole kann nicht klettern? Nachdenklich und mit Vorsicht stieg ich immer weiter nach oben, und schon zweieinhalb Stunden später fand ich mich in einer mörderischen Höhe auf der Extremroute für auf den Kopf Gefallene zwischen zwei Seilen an einem Karabiner hängend. Bis zum nächsten Baum waren es noch drei Meter, meine Kraft reichte aber nicht einmal mehr für drei Zentimeter. Das verhängnisvolle Ende meiner Kletterkarriere war erreicht. Niemand machte Anstalten, mich aus dieser Lage zu befreien. Direkt unter meinen Füßen, weit unten auf der Erde, stand die Klasse 6a, die längst mit ihren Kletterrouten fertig war. Die unglaublich sportliche Frau Walzer bat gerade den Polizistenvater, der die Bodensicherheit vorzüglich gewährleistet hatte, ein paar Gruppenfotos zu machen, zur Erinnerung an diesen unvergesslichen Ausflug zu Beginn des Frühlings. Die Tatsache, dass ein großer Schriftsteller, weit über einen Meter sechzig groß, ganz oben an einem Seil festhing und nicht vorwärts kam, schien niemanden zu stören.

Dabei habe ich mich immer für supersportlich gehalten. Ich hatte mich geirrt. Meine Vorstellung von Sportlichkeit wurde im Kletterwald bei Strausberg-Nord völlig neu definiert. Eine solch sportliche Sportlehrerin wie Frau Walzer hat es in sowjetischen Schulen nie gegeben. Bei uns waren immer Männer für den Sportunterricht zuständig gewesen, ausrangierte Sportler, die keine Lust mehr hatten auf Sport. Der Unterricht hieß auch nicht »Sport«, sondern »physische Kultur«. In meiner Schule war ein ehemaliger Fußballspieler mit Namen Eduard und einer morgendlichen Alkoholfahne für »physische Kultur« zuständig, der allerdings auch auf Klettern stand. Seine Lieblingsübung war es, den Mädchen aus unserer Klasse auf das Seil zu helfen. Er sicherte sie von unten am Hintern ab, und die Mädels kletterten, so schnell sie konnten, von Eduard weg zwei oder drei Meter nach oben. Dort blieben sie in der Regel hängen. Der Fußballspieler Eduard beobachtete sie nachdenklich von unten und verteilte dann die Noten, völlig willkürlich, wie es uns damals schien.

Die Jungs mussten nicht klettern, stattdessen spielten sie Fußball.

Die Sportlehrerin meiner Tochter, Frau Walzer, kletterte schnell wie Mogli von Baum zu Baum, kontrollierte gleichzeitig die Klasse, und manchmal nahm sie auch noch ein paar Kinder mit, die auf der Strecke geblieben waren. Überhaupt habe ich in diesen zweieinhalb Stunden sehr viele Kletterdeutsche beobachtet, die sich mit einer solchen Gelassenheit auf diesen halsbrecherischen Strecken bewegten, als wären sie in einer Baumhöhle auf die Welt gekommen.

»Komm runter, Papa, wir gehen!«, rief mir meine Tochter zu. Ich sammelte meine letzten Kräfte, zog mich gewissermaßen am eigenen Schopf hoch und schaffte gerade noch die letzten Meter der Extremroute.

»Und? War es gut ?«, fragte mich der Polizistenvater.

»Nicht der Rede wert«, antwortete ich und wollte mit der Hand eine abwinkende Geste machen, bekam sie jedoch nicht mehr hoch.

»Ich komme mit meiner Einheit in einem Monat noch mal hierher und hole alles nach«, sagte der Vater.

Noch Wochen danach hatte ich Muskelkater und konnte mich kaum bewegen. Dafür wissen nun, hoffe ich, alle in der Klasse meiner Tochter, was für einen coolen Klettervater sie hat.