Kinder leiden

Wenn es Ende November lange genug kräftig regnet, verwandelt sich die norddeutsche Ebene in eine grenzenlose, dampfende grüne Brühe. Hier und da liegen niedliche Kühe wie Würstchen im Matsch und rülpsen faul vor sich hin. Passend zu diesem Bild hängt vor jeder Gaststätte ein Schild »Die Grünkohlzeit ist angebrochen«. Erwachsene Menschen sitzen vor großen Portionen grüner Brühe mit Würstchen und lächeln milde in die Teller, sie erkennen in ihnen ihre Heimat.

Ich fuhr mit dem Zug durch Norddeutschland und dachte an Singapur. Die Wege eines Lesereisenden sind unergründlich, und so kam es, dass ich innerhalb einer Woche zuerst im fernen Asien und gleich danach im nahen Kronshagen bei Kiel Lesungen hatte. In Singapur leben Menschen so vieler Nationen, dass sie selbst inzwischen nicht mehr so recht wissen, wer zu welcher Nation gehört. Jeder dort denkt, er würde Englisch sprechen, nur ist es eben seine eigene Variante davon, die nicht einmal der Sprechende selbst versteht, von seinem Gegenüber ganz zu schweigen. Der kann nur ahnen, was gemeint ist. Doch das Leben in Singapur ist dermaßen klar strukturiert, dass es keine Mühe macht, die Leute dort zu verstehen.

Ich hatte drei Lesungen in Singapur, die gut besucht wurden. Hauptsächlich waren Studenten der dortigen Universitäten gekommen, die sich entweder ins falsche Auditorium verlaufen hatten oder von ihren Professoren gezwungen worden waren, sich deutsche Literatur anzutun. Das Studium wird dort nicht nach den in Deutschland beliebten Montessori-Prinzipien als abenteuerliche Reise ins Land des Unbekannten organisiert, sondern vielmehr nach den Prinzipien der fernöstlichen Kampfkünste – als Hürdenlauf mit gebundenen Füßen und Händen. Jahr für Jahr werden den Studenten schwere Aufgaben gestellt, deren Schwierigkeitsgrad sich ständig noch steigert. Derjenige, der nicht kneift, bekommt am Ende ein Diplom und die Aussicht auf einen guten Job.

Deutsche Literatur zu studieren, ist in Singapur eine der schwierigsten Aufgaben, eine Art intelligente Folter. So habe ich es jedenfalls zu hören bekommen. Ich weiß, dass man gerade mit solchen Foltermethoden die Menschen am schnellsten in den Wahnsinn treiben kann – wie in dem alten Witz über Stalin und Hitler in der Hölle, wo Stalin von den Teufeln gleich auf eine heiße Pfanne gesetzt wird, während Hitler neben ihm konzentriert in einem Buch blättert. »Was soll das?«, regt sich Stalin auf. »Hat er etwa weniger Blut vergossen, dass nur ich gebraten werde, während Hitler Bücher liest?« »Er liest nicht«, erklärten ihm die Teufel, »er übersetzt Das Kapital ins Hebräische. «

Um das Leben der singapurischen Studenten nicht unnötig zu verkomplizieren, habe ich bei den Lesungen wenig gesprochen. Ich las jeweils nur den ersten Satz einer Erzählung. Der mir zugeteilte Übersetzer, ein südchinesischer Kung-Fu-Schauspieler, las dann aus der englischen Buchfassung den Rest vor. Dabei simulierte er aus Spaß meinen russischen Akzent, der mit seinem südchinesischen Akzent gemischt ganz neue, vorher ungehörte Formen des Englischen hervorbrachte. Ich glaube, die Engländer hätten sich sehr gewundert, wenn sie ihre Sprache aus unserem Munde gehört hätten. Aber es waren keine Engländer im Saal.

Ich hatte großes Glück mit meinem Kung-Fu-Übersetzter. Er war nicht nur in Asien sehr bekannt, sogar in Deutschland hatte mein kleiner Sohn, ein überzeugter Kung-Fu-Kämpfer, bereits mehrere Filme mit ihm gesehen. Beim Vorlesen gestikulierte er heftig, sodass die Veranstaltung halb Vorlesung und halb Kung-Fu-Film war und den Studenten die Aufnahme der deutschen Literatur leichter machte. Überhaupt scheint das Lesen keine singapurische Stärke zu sein, viel lieber gucken die Menschen dort Filme. Wozu lesen, wenn es so viel zu schauen gibt?

Die Literatur, besonders die große deutsche Literatur, ist zu einem beträchtlichen Teil aus Langeweile entstanden. Langweile wurde hierzulande schon immer als äußerst geistreiche Eigenart geschätzt und behandelt. Nietzsche hielt Langeweile für das Einzige, was den Menschen vom Tier unterscheidet, und auch Goethes Faust beschwert sich ständig, wie langweilig ihm sei. »Ich langweile mich so, Mephisto!«, sagt er immer wieder. Aber hätte er sich auch gelangweilt, wenn er einen HD-Fernseher mit drei Dutzend Kung-Fu-Filmen gehabt hätte? Wahrscheinlich nicht. Ihm wäre einiges erspart geblieben. Außerdem hätte er jeden Augenblick mithilfe einer Fernbedienung festhalten können, solange er gewollt hätte, und seine Seele hätte er dabei auch behalten.

Die Singapuraner sind keine Langweiler, deswegen bevorzugen sie Filme, am liebsten Horrorfilme mit Gewaltelementen in 3D. Von der ganzen deutschen Kultur, die in Singapur präsentiert wird, ist deswegen vor allem das Festival des deutschen Films bei den Einheimischen beliebt. Sogar sehr, denn aus Sicht der Singapuraner bestehen alle deutschen Filme aus Horror mit Gewaltelementen, egal ob sie in ihrer Heimat als soziale Dramen über gescheiterte Integration, als Aufarbeitung der eigenen Geschichte, ja sogar als Komödien gedreht wurden.

Im Jahr meines Besuches sollte der Film Das weiße Band das Festival in Singapur eröffnen, ein Streifen, der viele Preise in Deutschland und Europa bekommen hatte und ohne Ende gelobt wurde. Ich habe den Film nicht gesehen, die Mutter eines der Hauptdarsteller hat mir den Inhalt aber erzählt. Es geht in dem Film wohl darum, dass Kinder in einem Internat kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges gemäß den damals gängigen Erziehungsmethoden ein bisschen geschlagen und gefoltert werden. Absicht des Regisseurs war es herauszufinden, wie ein Mensch zum Nazi wird. Und seine These lautete: Die mit Folter erzogenen Kinder wollen sich früher oder später rächen und zurückschlagen.

Der Regisseur mag sogar recht haben, doch diese ganze Gedankenspielerei interessierte die Singapuraner nicht. Sie wollten einfach bloß zugucken, wie blonde weiße Kinder in perversen Kostümen von Erwachsenen gefoltert und gepeinigt wurden. Sie hatten ihre eigene Theorie dazu. Sie dachten, es gibt eben Menschen, die Katzen oder Hunde nicht leiden können. Und es gibt Menschen, die können keine Kinder leiden. Diese Menschen arbeiten in Deutschland gerne in Schulen, um die Kids dort zu foltern und dadurch ihre Leidenschaft zu stillen.

Zur Premiere reisten die Hauptdarsteller aus Berlin an: ein Mädchen und ein Junge mit seiner Mutter, die zwar im Film nicht mitgespielt hatte, aber ihren Sohn gerne auf seiner Promotiontour begleitete. Der Junge hatte viel Freizeit in Singapur, denn der Film war auch dort als »ab achtzehn« eingestuft worden, und der Hauptdarsteller war erst vierzehn, durfte den Film also nicht sehen. Das hat den Jungen aber nicht traurig gemacht, ich glaube, er hat sich sogar darüber gefreut. Er hatte den Film bereits fünf Mal gesehen und überhaupt keine Lust auf eine weitere Vorführung gehabt. »Ich gehe lieber an den Strand«, sagte er. Das Mädchen aus dem Film war in ihrem Realleben inzwischen achtzehn Jahre alt geworden, aber noch nicht einundzwanzig. So befürchtete sie, zwar ins Kino zu dürfen, aber nachher nicht in die Bar eingelassen zu werden, wo der Erfolg des deutschen Kinos gefeiert werden sollte. Die freundlichen Singapuraner selbst aber freuten sich auf den Film wie Bolle, ließen alle mitfeiern, servierten bunte Gerichte auf kleinen Untertassen und schenkten aromatische Tees dazu aus.

Zurück in Deutschland schienen mir selbst meine netten Berliner der Gipfel an Unfreundlichkeit zu sein. Sogar »Juten Tach« hörte sich aus ihrem Munde wie eine Drohung an.

In Norddeutschland nieselte es ununterbrochen. In jeder Gaststätte aßen Menschen die dampfende grüne Brühe, und später im Zugabteil wechselte eine Dame ihrem Kind die Windel. Einer anderen Dame wurde dabei richtig schlecht. Wahrscheinlich kann sie keine Kinder leiden.