Der siebte Gast

Erwachsen zu werden ist schön und gut, aber wann soll das passieren? Wohin das Auge blickt, lauter Kinder, die sich bloß als Erwachsene tarnen. Verantwortungslos, rücksichtslos, naiv. Diesem Trend folgend, schrieb ich ein Kinderbuch für Erwachsene und bin mit dieser Idee voll ins Fettnäpfchen getreten.

Es fing gut an. Ein kleiner christlicher Verlag fragte an, ob ich mir vorstellen könne, eine Bibelgeschichte meiner Wahl kinderfreundlich nachzuerzählen. Ich wählte die Geschichte von der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Sie war in meinen Augen eine typische Familiengeschichte. Ein Schöpfer, alt und weise, will seine Vorstellung von Recht und Ordnung bei der Schöpfung durchsetzen, aber entweder klärt er die Schöpfung nicht klar genug auf, oder sie ist tatsächlich zu blöde, und jedes Mal, wenn sie vor eine Wahl gestellt wird, entscheidet sie sich für das Falsche, versteht die göttliche Ordnung nicht und fliegt zuletzt raus aus dem Paradies.

Menschlich gut nachvollziehbar, die Haltung des Schöpfers. Nicht nur im Paradies, auch bei uns zu Hause in Berlin wird stets irgendjemand von irgendwo vertrieben. Mal die Kinder vom Computer, mal die Großmutter vom Fernseher, mal die Katzen vom Kühlschrank. Andererseits dachte ich, soll ich wirklich darüber schreiben? Das bringt doch nichts. Jeder Mensch neigt dazu, seine eigenen Erfahrungen zu sammeln und nur sich selbst zu vertrauen. Er kann seinen geraden Weg erst dann erkennen, wenn er zuvor alle Neben- und Quergassen besucht und in jeder Gosse herumgelegen hat. Diesem geraden Weg folgend, die Hosentaschen mit Erfahrungen und Erkenntnissen prall gefüllt, wird man schnell müde und denkt gar nicht mehr ans Paradies, sondern sucht nach Ruhe, statt nach Glück. Was soll das überhaupt für ein Glück sein, in einer Welt voller Leid und Hunger und Not? In einer solchen Welt kann nur ein Schurke oder ein Idiot glücklich sein.

Ich schrieb dann doch über das Glück, aus dem Paradies vertrieben zu werden, und landete mit meinem Kinderbuch für Erwachsene prompt in einer Fernsehtalkshow. Die Presseabteilung des Verlags hatte große Mühe, diesen Auftritt zu organisieren, ich wurde im letzten Moment außerplanmäßig als sechster Gast in die Talkrunde reingenommen. Tolle Werbung für das Buch, sehr verkaufsfördernd, meinte der Angestellte aus der Presse. Ich war schon lange nicht mehr in einer Talkshow gewesen, und das Fernsehen als Medium hatte sich zwischenzeitlich stark entwickelt, allerdings in eine mir entgegengesetzte Richtung. Und so landete ich mit meinen Adam-und-Eva-Buch in der wohl perversesten Gesprächsrunde, die das deutsche Fernsehen seinerzeit anzubieten hatte.

Rechts von mir saß ein zwei Meter großer Transvestit aus Hamburg, der gerade seine neue Striptease-Bar für Frauen, die auf zwei Meter große Transvestiten standen, eröffnet hatte. Rechts von mir saß ein kleiner singender Schauspieler, der einen anderen Schauspieler geheiratet hatte. Weiter saßen da eine Boxerfrau, ein türkischer Deutschdialekt-Imitator und ein Gehirnforscher, der ein Buch darüber geschrieben hatte, wie negativ sich das Fernsehen auf das Gehirn auswirkte. Diese unfrohe Botschaft wollte der Mann ausgerechnet im Fernsehen verbreiten. Er selbst habe kein Fernsehgerät, und das Gleiche würde er auch den Zuschauern raten, sagte der Professor. Die Tatsache, dass die Fernsehzuschauer, wenn sie wie der Professor keine Fernsehgeräte hätten, den Professor gar nicht sehen und somit nie erfahren würden, wie negativ sich das Fernsehen auf ihr Gehirn auswirkte, diese Tatsache schien den Professor nicht im Geringsten zu stören.

Ich überlegte, ob ich dem Professor, um seine Wut auf das Medium zu mildern, etwas über russische Verblödungskanonen erzählen sollte, darüber hatten nämlich gerade mehrere russische Zeitungen berichtet: Ein schlauer Journalist hatte nämlich in Moskau auf mehreren Hochhausdächern große dicke Antennenmasten entdeckt. Sofort sprach die Presse von neuen, unglaublich starken Verblödungskanonen. Man vermutete, die Masten würden Signale aussenden, die bei den Menschen jegliches kritische Denken blockierten. Vor einer Wahl zum Beispiel würden diese Kanonen angeschmissen, damit der Kandidat gewählt würde, der auf dem Plakat besser lächelte. Und wenn er ein leckeres Eis in der Hand hielte, bekäme er sogar hundert Prozent aller Stimmen. Man erzählte sich, die kleinen Verblödungskanonen mit einem engen Wirkungsradius wären schon früher entdeckt worden, man hätte sie im Kreml, in den Büroräumen der Regierung, gefunden. Als Gardinenhalter getarnt sollten sie die Staatsmänner daran hindern, ausgewogene politische Entscheidungen zu treffen. Niemand wusste, wer der Herr der Verblödungskanonen war, man vermutete, westliche Geheimdienste würden dahinterstecken, möglicherweise die Chinesen.

Die Bilder der russischen Verblödungskanonen kamen mir bekannt vor. Auch in Deutschland sah ich immer wieder solche Masten auf den Dächern der Hochhäuser. Aber die deutsche Öffentlichkeit drückte da ein Auge zu. Sie erkannte offiziell nur eine Verblödungskanone als einzig wahre an – das Fernsehen.

Ich saß also nun direkt im Lauf dieser Kanone, in einem öffentlich-rechtlichen Sodom und Gomorrha, in einer Runde, die gut die allgemeine Verwirrung unserer Zeit widerspiegelte, in der keiner mehr wusste, was er selbst und was der andere war. Lauter Kinder, die einmal angefangen hatten zu spielen und nicht mehr aufhören konnten.

»Und nun Sie, Herr Kaminer«, wandte sich die Moderatorin zu mir. »Warum hat denn der liebe Gott Ihrer Meinung nach uns Menschen aus dem Paradies vertrieben?«, fragte sie.

»Schauen Sie sich doch an, es ist doch klar, warum«, hätte ich sagen können, aber ich schämte mich, es zu sagen. Ich war auch selbst müde und verwirrt und in meinem Urteilsvermögen verunsichert. Vielleicht sind ausgerechnet die Transen und die Gehirnforscher fürs Paradies wie geschaffen. Steht etwa nicht in der Bibel, dass alle wie die Kinder werden müssen, um selig zu werden?

»Ja«, murmelte ich, »warum so tolle Menschen wie Adam und Eva vor die Tür gesetzt werden mussten, verstehe ich eigentlich auch nicht.«

Nach der Sendung sollte gefeiert werden, ein Umtrunk zum Jubiläum der Sendung. Man hatte draußen eine Grillanlage aufgestellt und Tische dekoriert. Das Ganze fand auf dem Messegelände von Hannover statt, einem leblosen Stück Erde, einst aus Übermut und Gier erbaut. Eine zermürbende Hitze herrschte in der Stadt, seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Wir standen draußen am Grill, und plötzlich sah ich, wie eine tiefschwarze Wolke mit atemberaubender Geschwindigkeit über das Expo-Gelände in unsere Richtung zog. Die Wolke kam schnell näher, als würde sie jemand vom Himmel aus immer wieder treten. Es blitzte und donnerte wie nichts Gutes. Ein gnadenloser Regen, als siebter, nicht eingeladener Gast unserer kleinen Talkrunde, strengte sich an, die Erde außerplanmäßig sauber zu waschen. Die Talkshow-Gäste und Fernsehmacher sprangen in ihre schwarzen nassen Autos und rasten davon.