Demut

In Deutschland fordern ab und zu einige Millionäre die Regierung auf, sie höher zu besteuern, weil sie zu viel besäßen und deswegen Gewissensbisse hätten. Anstatt sich des überflüssigen Reichtums in aller Stille zu entledigen, schweigend ihr Geld an die Staatskasse zu überweisen, machen sie jedoch eine große Kampagne daraus, trommeln sich auf die Brust und fordern lautstark eine Reichensteuer nicht nur für sich selbst, sondern für alle Reichen, auch für diejenigen, die sich gar nicht reich fühlen. Das ist Demut auf Europäisch.

Im Kaukasus, auf dem Land, sind die Türen in manchen Häusern extrem niedrig gebaut, damit jeder Gast gebückt eintreten muss. Ein Aberglaube dort besagt, nur der Teufel ginge hinein, als hätte er einen Besen geschluckt, ohne sich zu bücken. Wer sich dagegen bückt und kniet, der kann kein schlechter Mensch sein. Das ist Demut auf Kaukasisch. Ein anderer kaukasischer Aberglaube besagt übrigens, dass man in einem fremden Haus nichts loben oder begehren darf, da andernfalls der Gastgeber das Objekt der Begierde dem Gast sofort schenken muss. Mein Onkel hat durch diesen Aberglauben bereits zwei tolle Sakkos und einen Hut eingebüßt. Letzteren fand er selbst allerdings nicht so toll.

Im Kaukasus haben die Menschen großen Spaß am Verschenken. Das hilft den Männern, nicht so verbissen an ihren Sachen zu hängen, d.h. ihre Unabhängigkeit und somit ihre Freiheit zu bewahren. Die Männer Mitteleuropas hingegen kleben buchstäblich an den Dingen, die sie zu besitzen glauben. In Wirklichkeit besitzen die Dinge sie. Mein Freund York bekam vor zehn Jahren das Angebot, während seines Urlaubs auf einer kroatischen Insel für fünfzehnhundert DM ein Schlauchboot zu kaufen, gebraucht, aber wie neu und mit einem guten Motor. Ein Schnäppchen, sagten ihm alle Freunde. Die Insel war seit eh und je von deutschen Urlaubern okkupiert. Früher hatte das Boot einem Philosophen der Frankfurter Schule, einem Schüler Adornos, gehört, der es mit professorischer Zärtlichkeit behandelt, geputzt und gepflegt hatte. Nun war aber der Professor zu alt, um aufs Meer hinauszufahren. Er verkaufte das Boot in gute Hände. York konsultierte mehrere Seemänner, bevor er auf das Angebot einging, und alle meinten unisono, es sei ein günstiger Sonderfall, er solle es sofort kaufen. Nur ich, kein Seemann, sagte ihm damals: »Mach es nicht! Wenn du das Boot kaufst, wirst du nirgendwohin mehr fahren können, du wirst dein Leben lang an die Insel gekettet sein, wo dein Boot liegt.«

»Bist du verrückt, ich richte mein Leben doch nicht nach einem Schlauchboot!«, protestierte York damals. Seitdem sind zehn Jahre vergangen, und York verbringt jede freie Minute bei seinem Boot. Er fährt es raus, kontrolliert den Vergaser, putzt es in der Garage.

Erinnert sich jemand an diese traurige Fernsehwerbung, die vor ein paar Jahren lief, als zwei Männer voreinander mit Fotos von ihrem Eigentum angaben: mein Auto, mein Haus, mein Boot? Ich erinnere mich nicht mehr, wofür sie genau geworben haben, aber an ihre Gesichter kann ich mich noch gut erinnern. Angst und Unterwürfigkeit vor den Dingen spiegelte sich in ihren Augen wider, eine typische Männersache. Männer fühlen sich oft leer und verloren, sie haben Angst abzuheben und wegzufliegen wie von Kindern losgelassene Luftballons. Deswegen hängen sie an ihren Immobilien, Autos und Booten, die sich zwar bewegen können, aber auch immobil sind. Schließlich müssen sie, egal wohin sie gefahren werden, irgendwann immer zurück in die Garage bzw. in den Hafen gebracht werden.

Der Gerechtigkeit halber muss ich sagen, dass Frauen viel weniger Interesse an solchen Immobilien haben. Das Körperliche, Lebendige zieht Frauen mehr an. Sie besitzen zum Beispiel gerne Männer. Sie können mit ihren Körpern machen, was sie wollen: sie im Sommer am Strand eincremen und im Winter fürs Taschentragen zum Einkaufen mitnehmen. Aber auch Frauen glauben, etwas zu besitzen, was ihnen nicht gehört, und weinen bittere Tränen, wenn ihr Besitz sich befreit.

Damit einem solche Überraschungen erspart bleiben, üben manche sich in Demut, in Askese, im Verzicht auf dies und jenes. Am besten hilft es, gleich auf alles zu verzichten, frei und unabhängig durch die Welt zu pilgern und ganz nebenbei auch noch herauszufinden, wie herzlich wenig ein Mensch eigentlich zum Leben braucht – nämlich nicht einmal ein belegtes Brötchen, nicht einmal das. Am Rande der Landstraße sich fortbewegen, nicht predigen und nichts lehren, nicht immer recht haben wollen, verständnisvoll und tolerant sein.

Doch nichts ist hochmütiger als dieses tolerante Pilgertum – eine Beleidigung für die Welt und seine Bewohner. Allein schon der Begriff »Toleranz« setzt voraus, dass man von Zurückgebliebenen umgeben ist, die man tolerieren muss, als wäre man selbst der Träger einer höheren, überlegenen Kultur, die sich selbst nie hinterfragt. Toleranz ist nicht nur hochmütig, sondern auch gefährlich. Versuchen Sie am liebsten gar nicht erst, tolerant zu sein. Es werden sich immer Neugierige finden, die Ihre Toleranzgrenze austesten wollen, nur um zu erfahren, wie lange man einem Tolerierer auf die Glatze spucken muss, damit er endlich Amok läuft. Die Pilger und die Asketen verzichten auf eine Welt, die sie nicht verstanden haben, die sie nicht erkennen, die sie nicht lieben, vor der sie Angst haben. Sie sehen und hören so wenig von der Welt wie Blinde in einer Kunstausstellung und Taube auf einem Rockkonzert.

Viele Dichter und Denker haben versucht, Demut als Werkzeug zum Verändern der Welt zu benutzen. In Russland predigte Leo Tolstoi die Gewaltlosigkeit. Er meinte, der Kampf gegen das Böse könne nur mit Liebe gewonnen werden. Seine Bücher haben später viele Menschen in anderen Ländern gelesen und als Anweisung verstanden, unter anderem Mahatma Gandhi, den die Werke von Tolstoi zu der Idee des gewaltlosen Widerstands gegen die englische Kolonialmacht verleiteten. Hier schlug die Demut in ihr Gegenteil um. Denn was, wenn nicht Hochmut, ist jeder Versuch, die Welt nach den eigenen Vorstellungen zu ändern, sich quasi neben den Schöpfer zu stellen und zu sagen: Ich kann es besser? Wie wird jemand eingeschätzt, der in einem Theater mitten in einer Vorstellung plötzlich auf die Bühne springt und anfängt, wie ein Regisseur Anweisungen an die Schauspieler zu geben und ihnen ihre Rollen zu erklären? Als Spinner.

Gottgleich zu sein, sich maßlos zu überschätzen, sich für einen Versteher zu halten – diese Art von Eitelkeit hat nichts mit Demut zu tun. Sogar die zwei traurigen Debilen aus der Fernsehwerbung – mein Haus, mein Auto, mein Garten – zeigen mehr Demut, als Graf Tolstoi es jemals tat. Was wollen die Menschen überhaupt, was suchen sie? Es geht immer um diesen unsäglichen Traum, ein erfülltes Leben zu führen, »sich zu entwickeln«, »glücklich zu sein«. Die Tatsache, dass in einer Welt, die voller Schmerz, Trauer, Hunger und Not ist, nur Perverse, Betrüger und Dummköpfe glücklich werden können, diese Tatsache wird außer Acht gelassen.

Okay. Aber was ist denn nun wahre Demut?, könnte sich der Leser ermüdet an dieser Stelle fragen. Gibt es sie überhaupt? Natürlich gibt es sie. Der Grund zur Demut liegt in der Vergänglichkeit des Lebens. Sich mit der Vergänglichkeit abzufinden, mit der Tatsache, dass alles auf dieser Welt, jedes Staubkorn und jeder Stein, sogar das Boot, das Haus und das Auto uns überleben und nicht einmal einrosten werden, während alle Werbeträger schon längst tot sind, dass sogar unsere Fernsehgeräte uns überleben, das zu akzeptieren ist Demut. Diese Demut zu zeigen heißt, mit seiner Zeit und seinem Ort klarzukommen, einen Kompromiss zu schließen zwischen sich und der Welt, lange und ausgiebig mit dem schweigenden Himmel über Sinn und Unsinn der Welt zu diskutieren, um am Ende sagen zu können: »Schon schön, aber vielleicht haben sie ja auch recht.«

Und Demut bedeutet auch, ständig anzugeben, mit allem, was man hat. Am besten können das Kinder. Sie erzählen auch die besten Witze über den Tod. Neulich erzählte mir mein Sonn solch einen Super-Grundschulwitz: »Eine Fliege fliegt durch das Netz einer Spinne. ›Na warte‹, ruft die Spinne ihr hinterher, ›morgen kriege ich dich!‹ ›Ha-ha! Ich bin eine Eintagsfliege!‹, summt die Fliege höhnisch und verlässt mit lautem Lachen den Luftraum. «