Alles lebt
Auf der Schönhauser Allee gibt es zwischen den vielen Kebabimbissen, Wurstbuden und Chinaboxen auch ein fortschrittliches Restaurant, Grüne Küche genannt, mit einer kleinen feinen Auswahl an guten Weinen, einem großen Kamin und einem gewissenhaften Koch. In der Speisekarte steht etwas pathetisch, die Inhaber wollten die Erinnerung und die Gegenwart auf einen Teller bringen, ihre Leidenschaft und den Geschmack ihrer Produkte verschmelzen. Große Worte, die auf große Taten neugierig machen. Es klingt immer erfolgversprechend, wenn Menschen ihre Arbeit als Leidenschaft begreifen und nicht als bloße Geldbeschaffungsmaßnahme. Meine Frau und ich haben uns jedenfalls über dieses Restaurant, als es eröffnet wurde, sehr gefreut. Von einem Imbissbesitzer oder von einem McDonald’s-Angestellten kannst du nicht erwarten, dass er mit seinen Gerichten leidenschaftlich verschmilzt. Tut er es trotzdem, muss er sich danach lange waschen und parfümieren. Aber in einem feinen Restaurant lässt sich so etwas sicher machen.
Wir wären gerne auch öfter hingegangen, allein schon der guten Weinkarte wegen, nur unsere Tochter machte nicht mit. Das Problem war, dass in diesem Restaurant niemals Tiere aus Massentierhaltung in der Küche landeten, sondern nur Wildtiere aus Wald und Feld. Und das war für die Kinder, selbst für meine Tochter, die sich Teenager nennt – also als halben Erwachsenen sieht –, ein Schock. Nicole standen jedes Mal die Haare zu Berge, wenn sie die Speisekarte der Grünen Küche las. Dort stand zum Beispiel als Vorspeise »Kaninchensalat«. Im alltäglichen Gebrauch bedeutete Kaninchensalat bei uns eine Packung mit klein geschnittenen Mixsalaten, die wir dem Kaninchen Ringo und dem Meerschweinchen Lisa gaben. Beide leben in einem Haus bei uns auf dem Hinterhof im Rahmen eines nachbarschaftlich organisierten Biotops. Im Restaurant Grüne Küche bedeutete Kaninchensalat jedoch nichts anderes, als dass ein enger Verwandter des Kaninchens Lisa gehäutet, gekocht, durch einen Fleischwolf gedreht und abschließend mit Rucola vermischt wurde.
Die Grüne Küche hat niemals gewöhnliche Hühner oder Schweine im Angebot, dort gibt es stattdessen Fasane und Wildschweine, die oft in einer besonders perversen Form serviert werden, zum Beispiel als Rillettes in klitzekleinen Döschen. Ein Kind mit lebhafter Phantasie kann sich sehr leicht vorstellen, wie lange der Koch an dem armen Wildschwein herumschneiden muss, um aus ihm die kleinen Rillettes herauszuschnibbeln. Als Hauptgang werden Wildtaubenbrust oder Rehrücken verzehrt. Die Portionen sind, wie gesagt, klein, damit die Gäste mehrere Gänge zu sich nehmen können. Der frische Rehrücken passt in ein Löffelchen. Das lässt die Kinder denken, dem armen Vater von Bambi wäre aus dem Rücken Zentimeter für Zentimeter etwas herausgeschnitten worden, was zu furchtbaren Rückenschmerzen geführt haben musste.
Meine Tochter weigert sich, zur Grünen Küche mitzukommen.
»Wieso kommt Ihre Tochter nicht? Wir haben doch auch vegetarische Gerichte!«, wundert sich der Koch.
»Die Sache ist die: Meine Tochter ist gar keine Vegetarierin, sie isst gerne Fleisch, nur eben keine Tiere«, erkläre ich ihm.
Wenn wir ins Restaurant gehen, macht Oma zu Hause Cevapcici für sie. Diese Cevapcici mag Nicole sehr, sie isst sie mit großer Lust und reinem Gewissen. Sie weiß mit Sicherheit, dass Cevapcici in der freien Natur nicht vorkommen. Sie haben keine warmen Pfoten und kein niedliches Gesicht, sie springen nicht von Baum zu Baum und sitzen nicht im Zoo hinter Gittern. Nicole war bestimmt mindestens zwanzigmal in verschiedenen Zoos verschiedener Länder, und in keinem Gehege saßen Cevapcici. Auch Chicken Wings mag meine Tochter, diese dreieckigen scharfen Dinger, die täuschend echt wie Hühnerflügel aussehen. Aber Nicole weiß, niemals würden Hühner mit so viel würziger Marinade auf den Flügeln abheben können.
Ich habe keine Eile, das Kind aufzuklären, schließlich ist es gerade in einem Alter, da es noch wächst und die richtige Ernährung besonders wichtig ist. Ich selbst bestehe schon lange nur aus Mitleid dem Lebendigen gegenüber, denn ich sehe, dass alles lebt. Es lebt und wird entweder niedergetrampelt oder geschluckt oder getrunken oder zerdrückt oder ignoriert und stirbt dann von allein. Ich weiß nicht, was besser ist. Auch die Cevapcici kriechen in ihrer Freizeit bestimmt über das eine oder andere Feld, aber sie tun es wahrscheinlich nur nachts, damit die Kinder sie nicht sehen. Meinen Erkenntnissen zufolge ist alles Leben miteinander verschmolzen. Man bringt das eine um, indem man das andere rettet. Oder wie die lustigen Russen sagen: Einen Biber gegessen – einen Baum gerettet.