Im Land der Ideen
Die Bewohner der mittelfränkischen Stadt Lauf bereiten ihren Karpfen wie die Wiener ihr Wiener Schnitzel zu – konsequent. Sie machen den Karpfen platt, indem der Fisch in zwei Hälften längs zerschnitten wird. Danach wird jede Hälfte paniert und in den Zustand einer radikalen Knusprigkeit versetzt. Diese Karpfen, die im Gasthof Zur Post auf keinem Teller fehlten, als gäbe es in dem ganzen Lokal kein anderes Gericht, beeindruckten mich durch ihr ungewöhnliches Aussehen. Als jemand, der seit vielen Jahren jede Woche in einer anderen deutschen Stadt speist, glaubte ich, längst alle regionalen Spezialitäten dieses Landes mehrmals gekostet zu haben: Würste unterschiedlicher Größe und Farbe, Kraut, mal mehr, mal weniger sauer und manchmal zu Brei verkocht, Eisbeine, die von neugierigen japanischen Mädchen in Münchner Touristenlokalen zu dritt umschlungen werden, wie Pythonschlangen ihre Kaninchen umschlingen. Und Aufläufe, ja vor allem unzählige Aufläufe, diese kulinarische Erinnerung Deutschlands an die Zeit des Hungers und der Not. Vor diesem Hintergrund wirkte der mittelfränkische Karpfen gehoben, beinahe dekadent.
Meinen Besuch in Lauf an der Pegnitz verdankte ich Bundespräsident Köhler, der seine Aufgabe darin sah, Deutschlands Selbstwertgefühl zu modernisieren, d. h. zu heben. Gleich nach der Fußballweltmeisterschaft, die bekanntlich unter dem etwas verwirrenden Slogan »Die Welt zu Gast bei Freunden« stattfand, entwarf er, auf der Welle der allgemeinen Selbstbegeisterung surfend, ein neues Motto: »Deutschland – Land der Ideen«.
Schon beim ersten Slogan schauten sich die Deutschen ungläubig um, auf der Suche nach irgendwelchen »Freunden«, bei denen sie zu Gast waren. Jeder wollte sich zur Welt zählen, nicht Gastgeber sein. Nach der beinahe siegreichen Fußballweltmeisterschaft hatte sich jedoch das Selbstwertgefühl dermaßen gesteigert, dass nichts mehr unmöglich schien in diesem Land der Ideen. Aus dem Vorstoß des Bundespräsidenten entwickelte sich eine landesweite Initiative: »365 Orte im Land der Ideen«, unterstützt von der Deutschen Bank, die wahrscheinlich in jedem Ort Deutschlands eine Filiale hat und damit den Fluss der Ideen gut vor Ort kontrollieren kann.
Es war ein ehrgeiziges Projekt: Jeden Tag musste eine deutsche Stadt eine kreative Idee entwickeln oder auch zwei. Dafür wurde der Stadtverwaltung ein handgeblasener Pokal der Kreativität des Bundespräsidenten von den örtlichen Vertretern der Deutschen Bank überreicht. Der Präsident konnte unmöglich persönlich mit dem Pokal der Kreativität von Idee zu Idee torkeln, dafür hätte er 365 Tage im Jahr unterwegs sein müssen. Aber zum Glück hatte er überall seine Leute.
Die Städte und Gemeinden bewarben sich eifrig um den Pokal der Kreativität und statt 365 Ideen kamen über 1500 zusammen, d. h. fast jede zweite deutsche Stadt hatte eine ausgebrütet! Manche Ideen waren allerdings so bescheuert, dass sie schon im Sekretariat des Bundespräsidenten aussortiert wurden. Das Aussortieren tat dem Projekt nur gut, es waren sowieso viel zu viele Ideen für das relativ kleine Land. Nur die besten schafften es in den »Katalog der Ideen«.
Die Städte überboten sich an Kreativität und Einfallsreichtum, insbesondere in den Bereichen Kunst, Wirtschaft und Soziales. Es kam viel Erstaunliches zum Vorschein. Die Leipziger warfen zum Beispiel einen Elefanten in einen Brunnen mit Wänden aus Glas, damit man dem großen Tier beim Schwimmen von unten zuschauen konnte. Ein seltener Spaß. In Osterode luxussanierte man einen alten Schafstall. Die Bewohner von Pritzwalk machten, um den Abwanderungstrend zu stoppen, etwas aus dem öden Autobahndreieck Wittstock/Dosse: Man dreht sich dort nun nur noch im Kreis und kommt so gar nicht mehr weg – in den Westen. Die Stadt Kirchheim hat die Aktion »Buddeln mit Oma und Opa« ins Leben gerufen, damit Kinder unter Anleitung von engagierten Senioren Rüben sammeln und ihnen dadurch der reiche Erfahrungsschatz der älteren Generation nähergebracht wird. In Hamburg ließ die Leitung einer Justizvollzugsanstalt ihre Knastinsassen T-Shirts mit Aufdrucken wie »Noch unschuldig« und »Auf Bewährung« produzieren.
Die Idee von Lauf war, eigene Literaturtage auszurufen und mich zu einer Lesung einzuladen. Eine tolle Idee – aus meiner Sicht, und so konnte ich den Karpfen dort probieren. Die Stadt Lauf an der Pegnitz sollte ein Schloss aus dem 15. Jahrhundert haben, ferner ein altes Spital und schöne Kirchen. Auf meinen endlosen Reisen habe ich allerdings den Blick für Sehenswürdigkeiten aller Art verloren. In jeder Stadt interessiert mich nur noch das Wesentliche, genau genommen zwei Dinge: die Sushibar und die Schwimmhalle. Der mittelfränkische Karpfen war besser als die Sushis in vielen Bars, und die Schwimmhalle von Lauf hatte mehr Wasser als mein Stammschwimmbad in Berlin, wo die Mitarbeiter Wasser sparen sollen, sodass es unter der Woche immer nur halb voll ist. Das Bad in Lauf war dagegen randvoll mit Wasser und Menschen. Die Bewohner schwammen in alle Richtungen, ohne Markierung und ohne Bahnen, mit geschlossenen Augen, aber immer nett aneinander vorbei. Es sah aus wie Unterwasserballett, als ob sie alle zusammengehören würden. Wie schaffen sie das, immer so nett aneinander vorbeizuschwimmen?, überlegte ich. Vielleicht ist diese Ordnung der natürliche Zustand der Welt, und nur diejenigen, die sich zu viele Gedanken darüber machen, können es nicht mehr. Heinrich von Kleist vermutete bereits Ähnliches. Man muss Vertrauen in die Weltordnung haben, dachte ich, schloss die Augen und sprang ins Wasser. Sofort kollidierte ich mit einer großen Frau, die nach Tintenfischart das Becken durchquerte. Sie tauchte unter, war sichtlich geschockt, fand jedoch schnell zu ihrem ursprünglichen Tempo zurück.
Viele Bewohner von Lauf kamen zu meiner Lesung – sie war übrigens kostenlos. Anfangs spielte die regionale Jazzband, danach sprach der Bürgermeister, dann der Vertreter der Deutschen Bank, und dann las ich ein wenig vor. Später feierten wir das alles in kleiner Runde.
»Auf Lauf!«, erhob ich das Weinglas.
»Auflauf! Auflauf!«, wiederholten die Gäste.
Ich trank noch einen Schnaps auf Lauf.
Der Deutsche-Bank-Vertreter erzählte, auch er habe ein Buch geschrieben, ein Sachbuch, Das Leben in der Balance, und suche dafür nach einem Verleger.
Ich habe sehr gut geschlafen in Lauf, einer ruhigen, leisen Stadt. Anders als die Berliner machen die Läufer so gut wie überhaupt keinen Krach. Dafür haben sie zwei Bahnhöfe, »Lauf links Pegnitz« und »Lauf rechts Pegnitz«, wer hätte das gedacht? Ich bin zum falschen Bahnhof gegangen, hätte aber den Zug noch erreichen können, wenn ich ganz schnell durch die Stadt gelaufen wäre. Aber durch Lauf zu laufen kam mir irgendwie komisch vor.