Der achte Kreis
Deutschland hat viele Gesichter. Beinahe jedes Jahr schafft sich irgendein Deutschland ab und ein anderes entsteht. Das Leben fließt weiter, es ändert sich jeden Tag – zum Ärger der einen und zur Freude der anderen. Allein in meiner Wahlheimat Berlin, Prenzlauer Berg, habe ich in den letzten zwanzig Jahren jede Menge Veränderungen erlebt. Als ich hierherzog, waren die Kastanienbäume von der sogenannten »russischen Motte« befallen, die in Russland nebenbei gesagt als »amerikanische Motte« bekannt ist. Die Wohngegend wiederum war von freien Künstlern und Schauspielern befallen, die wie die Motten an den Kastanienbäumen und allen Kneipentischen klebten. Die Lebenskünstler aus dem Westen lösten die schwermütigen ostdeutschen Rentner in ihren Wohnungen mit Ofenheizung und Außentoilette ab. Später kamen die unrasierten norddeutschen Kneipenwirte, dann die geschäftstüchtigen Schwaben und die alten Kinder des Internets. Heute ist unsere Gegend durchmischt und undurchsichtig, aber es fällt auf, dass die meisten hier keine vernünftige Arbeit haben. Sie halten zusammen, helfen einander und kommen so über die Runden.
In der Fähigkeit zur Veränderung sehe ich den Unterschied zwischen einer offenen und einer totalitären Gesellschaft. Einmal sagte der deutsche Bundespräsident über die Demokratie, sie würde davon leben, dass alle Bürger ihre Regeln verstünden und verinnerlichten. In Wirklichkeit ist es eher umgekehrt. Eine Diktatur lebt davon, dass alle ihre Regeln kennen. Eine Demokratie dagegen zeichnet sich dadurch aus, dass niemand ihre Regeln versteht, auswendig kennt und den Ablauf des morgigen Tages, die Regeln von morgen voraussehen kann. Nein, diese Regeln werden in einem Prozess der demokratischen Erneuerung und Regelbildung ständig neu erfunden. Die große Kunst der Politik in einer solchen Gesellschaft besteht darin, die Interessen der unterschiedlichsten Gruppen, der unzähligen Minderheiten, zu berücksichtigen und sie alle unter einen Hut zu bringen.
Ein vernünftiger Staat muss ein solidarischer sein, er hat nur dann eine Existenzberechtigung, wenn ihm alle Bürger gleich viel wert sind, ganz egal wie viel Geld sie in die Staatskasse bringen. Der Maßstab der Politik in einer Gesellschaft, die sich demokratisch und christlich nennt, muss nicht der Kontostand der Staatsbank, nicht der Schutz der Interessen besonders großer Unternehmen sein, sondern der einzelne Mensch. Dieser Mensch muss genauso viel wert sein wie das ganze Land. Ein vernünftiger, solidarischer Staat würde seine Bürger niemals im Stich lassen, wenn sie in der Wüste des Auslandes verlorengehen, in den Bergen verschollen sind oder von Piraten gekidnappt wurden. Ein vernünftiger Staat wird seine Bürger retten, ganz egal wer diese Bürger sind, ob Banker oder Rentner, ja sogar den Arbeitslosen würde er zu retten versuchen. Ein solcher Staat bekommt Ansehen in der Welt, er ist lebendig wie ein menschlicher Organismus, er hat ein Herz und eine Seele.
In Deutschland wird leider in der letzten Zeit immer öfter die Politik der zwei Herzen betrieben. »Wenn wir ein Herz für die Leistungsschwachen haben wollen, müssen wir auch ein Herz für die Leistungsstarken zeigen«, sagt die Bundeskanzlerin und spaltet damit die Gesellschaft. Ihr folgend versuchte ein streberhafter Vorstand der Bundesbank, die Menschen in gut und überflüssig zu teilen. Nur die, die Leistung bringen, verdienen Respekt, lautet seine Botschaft. Dabei ist Leistung keine menschliche Eigenschaft, es ist vielmehr ein Wort aus der Welt der Technik. Computer und Autos haben eine Leistung, von Krankenversicherungsvertretern werden bestimmte Leistungen angeboten – oder noch öfter gestrichen. Aber ein Mensch ist mehr als ein Dienstleister, er blüht auf, wenn er nicht aus Leistungsdruck, sondern aus Leidenschaft handelt. Für den aber, der das Leben als Kosten-Nutzen-Rechnung versteht, hört sich Leidenschaft unwirtschaftlich an. Sein Traum ist eine Gesellschaft, die sich von nutzlosen Menschen befreit hat, von all den Leistungsschwachen, die keinen vernünftigen Mehrwert schaffen, sich dazu noch komisch kleiden und schlechtes Deutsch sprechen.
Die Entsorgung der nicht brauchbaren Bürger ist zu einer chronischen politischen Debatte geworden. Mal geht es um die Erhöhung des Rentenalters, ein andermal um die faulen Arbeitslosen oder die gescheiterte Integration jener Menschen, die einst zum Arbeiten nach Deutschland geholt worden waren, um die Arbeit zu erledigen, die kein Deutscher machen wollte. Aus Sicht eines Buchhalters wäre es von Nutzen, diese Menschen loszuwerden und etliche andere dazu, die schwächeln. Dann wäre Deutschland ein Land der Starken und Klugen. Zum Arbeiten kann man ja immer noch andere Dumme aus dem Ausland holen und, wenn die Zeit reif ist, nach einem Gentest wieder rausmobben.
Es wurden nicht nur in Deutschland immer wieder Versuche unternommen, die Schwachen von den Starken zu trennen, die Richtigen von den Falschen, die Guten von den Bösen. Doch alle diese Versuche scheiterten. Immer gingen mit den Schwachen auch die Starken drauf. Ein Rätsel. Anscheinend sind die Schwachen und die Starken auf verhängnisvolle Weise voneinander abhängig. Kaum werden die Schwachen beseitigt, fangen schon die ersten Starken an zu schwächeln und neue Schwache aus ihren Reihen auszustoßen. Es gibt für niemanden eine individuelle Rettung auf diesem Planeten, selbst für den Vorstand der Bundesbank nicht. Entweder alle oder keiner. Bis ans Ende aller Tage werden die Schwachen und die Starken aneinandergekettet weitergehen. Trotzdem haben die Spalter und falschen Ratgeber oft großen Erfolg. Dafür landen sie bei Dante im achten Kreis der Hölle mitsamt allen Fälschern und Verrätern. Es soll dort die ganze Zeit sehr düster und kalt sein, sie frieren im Eis, und keiner reicht dem anderen die Hand.