Schneechaos in Deutschland
Über den Winter wird in Deutschland bevorzugt in einer speziellen Katastrophensprache berichtet. Wenn ein paar Schneeflöckchen vom Himmel fallen, heißen sie in den Nachrichten sofort »heftige Schneefälle«. Wenn diese Schneeflöckchen ein paar Tage liegen bleiben, werden sie zum »Schneechaos in Deutschland« ernannt, wenn sie sich später auflösen, heißt das »Glatteisgefahr!«. Autos, Züge, Flugzeuge, beinahe alle Transportmittel bleiben stehen, die Menschen laufen durch die Straßen wie besoffene Seiltänzer, rutschen aus, werden dabei mit besonderem Zynismus gefilmt und bilden so den Höhepunkt des abendlichen Fernsehprogramms. Es werden sogar Quizshows ausgestrahlt, bei denen der Zuschauer raten muss, wer von den gezeigten schwankenden Fußgängern demnächst fällt und wer nicht. Die Krankenhäuser sind mit hingefallenen, ausgerutschten Bürgern überfüllt.
Russen können sich aus meiner Sicht etwas besser auf dem Eis bewegen. Das mag ein Klischee sein, aber ein wahres. Vielleicht hat es damit zu tun, dass Russen grundsätzlich mehr vor sich auf die Erde gucken und aufpassen, wo sie hintreten. In Russland sind Fußwege traditionell ein Schwachpunkt der Landschaft, man kann auf ihnen sogar im Sommer sehr tief fallen. Dazu kommt natürlich, dass die meisten meiner Landsleute seit ihrer Kindheit sehr viel Eiskunstlauf im Fernsehen sehen mussten, es war nämlich das mit am häufigsten gesendete Programm. Meine Mutter schaut sich solche Sendungen auch in Deutschland an, sie hat dafür extra das russische Fernsehen abonniert. Jeden Abend wird in diesen Programmen auf dem Eis getanzt. Ihre Lieblingsprogramme heißen Die Eiszeit und Stars am Stiel oder so ähnlich. Alle Schauspieler, Sänger oder Nachrichtensprecher in Russland müssen ohne Ausnahme gut Eislaufen können und dabei singen, deklamieren oder Nachrichten sprechen. Nach dem Eiskunstlaufschauen ahmt meine Mutter unbewusst die Läufer nach, wenn sie einkaufen geht und selbst auf Eis gerät. Sie bewegt sich immer etwas nach vorne gebückt und kann sich sogar im Gehen um die eigene Achse drehen.
Gleichzeitig mögen die Russen die Kälte nicht. Meine Frau, die auf Sachalin, einem sehr kalten Ort, geboren wurde, kann Schnee überhaupt nicht leiden. Sie nennt ihn »Faschismus der Natur«. Russen hatten schon immer eine große unerfüllte Sehnsucht nach südlichen Temperaturen. Mit der Zeit entwickelten sie eine Art Wunschdenken: Egal wie kalt es tatsächlich draußen war, das Land tat so, als würden alle von einer inneren Sonne erwärmt stets ins Schwitzen geraten. Überall, in allen Behörden oder Fabriketagen, standen Palmen und ewig grüne Kakteen in großen Töpfen. Die unzähligen Eiskioske, Limonade-und Bierautomaten versorgten die heiß gelaufenen Bürger noch bei minus zwanzig Grad mit Kälte spendenden Getränken und Süßigkeiten. Im allgemeinen Warendefizit waren Sonnenbrillen und leichte Hüte eine Ausnahme, es gab sie überall und bei jedem Wetter zu kaufen. Auch den geliebten Wodka trank man am besten eiskalt, aß dazu ebenso kalte Salzgurken, eingelegte Pilze, Tomaten und Knoblauch und machte es sich auf dem inneren Strand der russischen Seele bequem. Nichts fiel uns einfach so vom Himmel zu außer Schnee, und den Sommer haben wir uns stets mit großer Mühe quasi per Hand gemacht. Deswegen waren diese Sommer die heißesten Sommer meines Lebens. Seitdem vertraue ich diesen leichten südländischen Sommern nicht. Alles Mühelose macht einen misstrauisch, alles, was mit Schweiß und Fleiß produziert wird, zieht die Leute dagegen an.
Auch in Deutschland stimmt diese banale Weisheit. Nehmen wir beispielsweise unseren Bioladen auf der Schönhauser Allee. Dort genießen die Lebensmittel die größte Popularität, die in einem besonders anstrengenden Arbeitsprozess entstanden sind: Joghurts, die in einer brandenburgischen Molkerei von Menschen mit Behinderungen hergestellt werden, und von Invaliden per Hand gedrehte Makkaroni. Mein absoluter Fleißfavorit in diesem Laden ist der Yukatanhonig. Dieser Honig stammt vom nördlichen Teil der Halbinsel. Auf der Honigbüchse steht, dass dieses Produkt überhaupt die einzige Form der landwirtschaftlichen Aktivität in dieser Gegend ist. Wegen der komplizierten Wetterbedingungen blühen dort kaum Blumen, und die Bienen werden ständig vom starken Wind aufs Meer verweht. An solchen Tagen gehen statt der Bienen die Ureinwohner auf Nektarsuche in den Wald. Mit leichtem Summen laufen sie durch die nördlichen Buschwälder Yukatans, tage-, manchmal sogar wochenlang, und sammeln am eigenen Körper die letzten Tropfen des Nektars unsichtbarer kleiner Blüten. Ein Stamm der Maya-Indianer muss wohl eine Woche lang durch die Büsche rennen, um eine Büchse dieses wunderbaren Honigs vollzubekommen. So etwas essen die Menschen in Europa total gerne. Ich habe schon mehrmals gesehen, wie schnell die Yukatanhonig-Regale leer geräumt waren. Fremder Fleiß macht Faule heiß.