Zelten in Brandenburg
»Warum müssen wir immer auf diese anstrengenden Weltreisen gehen, Paris, London, Rom? Können wir nicht einmal wie eine ganz normale deutsche Familie Urlaub machen ?«, fragte meine Tochter.
»Wie meinst du das, Nicole, wie macht eine ganz normale deutsche Familie Urlaub?«, fragte ich irritiert nach.
»In Brandenburg zelten!«, klärte mich das Kind auf.
Ich weiß, woher sie ihre Informationen über die Freizeitaktivitäten der Ganznormaldeutschen bezieht, von ihrer Schulfreundin Mari, einem großwüchsigen Mädchen, bei dem niemand auf die Idee käme, es wäre erst elf. Der Vater von Mari ist Polizist, die Mutter Grundschullehrerin, ein perfektes Erziehungsteam. Beide sind Berufspädagogen, der Vater geht mit dem Schlagstock zur Arbeit, die Mutter mit dem Zeigestock. Vor fünf Jahren sind sie mit ihrer Tochter nach Thailand geflogen, um fremden Kulturen einmal persönlich zu begegnen, sonst zelten sie immer in Brandenburg, wenn sie Urlaub haben – und zwar nur auf ausgewählten Zeltplätzen. Die Mari-Familie ist aber auch schon fast die einzige normale deutsche Familie in unserem Umkreis. Ich kenne sonst niemanden, der in Brandenburg zeltet, abgesehen von den Campern im Cargolifter, dem größten Zelt von Brandenburg und gleichzeitig dem höchsten der Welt. Im Cargolifter zu zelten ist aber etwas anderes, es hat nichts mit Normal-deutsch-Sein zu tun.
Der Cargolifter, dieses Malaysia des Ostens, ist kein x-be-liebiger Zeltplatz. Es ist ein Ort, der die neueste Geschichte Deutschlands widerspiegelt – die mit der Wiedervereinigung versprochene blühende Landschaft, ein Paradies, das aussieht wie ein Riesenschwimmbad mit Palmen und Grillwürstchen. Nach der Wende suchte man dringend nach neuen Nutzungskonzepten für die ehemalige DDR. In Brandenburg siedelte sich daraufhin die Firma Cargolifter an – mit einer Halle zum Bau gigantischer Zeppeline. Aber noch bevor das erste Luftschiff fertig war, ging die Firma in Konkurs. Die Halle wurde von einem malaysischen Investor übernommen, der daraus eine Wellness- und Erholungsoase namens »Tropical Island« machte. Aber die Einheimischen nennen das Objekt weiterhin Cargolifter. Die »Island«-Idee bestand darin, eine tropische Insel mit ebenfalls tropischen Temperaturen mitten in Deutschland zu schaffen, die es den Besuchern erlauben würde, in Badeanzügen zu überwintern. Egal wie lange man vorhatte, im Tropical Island zu baden, der Eintrittspreis wurde nur einmal verlangt. Damit hatte man freien Zugang zum Paradies, ob für drei Stunden oder für drei Jahre. Das Winterproblem in Brandenburg sollte so ein für alle Mal gelöst werden.
Die Gäste meckerten trotzdem. Im Winter funktionierte das Tropical Island nämlich nicht ganz perfekt. Weil die Halle zu einem anderen Zweck und deutlich zu hoch gebaut worden war, stieg die warme Luft unablässig nach oben und löste sich in der Atmosphäre über dem Hallendach auf. Die kalte Luft sickerte trotz aller Sicherheitsmaßnahmen durch das Dach nach unten und sorgte für einen leichten, erfrischenden Luftzug. Kurzum: Das Tropical Island war nicht tropisch genug. Die Gäste litten darunter, vor allem aber litten die Palmen und damit auch der Investor.
Im Sommer ist das Tropical Island jedoch ein lustiger Ort. Es wird gegrillt, gebadet, getrunken und jeden Abend brasilianisch getanzt. Die meisten bleiben über Nacht, viele zelten. Die Mehrheit der Badegäste kommt aus Polen, man hört hier und dort aber auch Russisch und Deutsch, vor allem Berlinerisch. Letztens haben meine Freunde sogar Japaner im Cargolifter getroffen. Die Japaner hatten einen weiten Weg auf sich genommen, sie waren quasi um die halbe Welt gereist, um das tropische Paradies in der Cargolifter-Halle zu bewundern. Ein Trip ins authentische Malaysia wäre für sie sicher sehr viel kürzer gewesen. Doch der Mensch ist von Natur aus neugierig, es zieht ihn immer dorthin, wo er noch nicht war.
Obwohl die Gäste aus verschiedenen Regionen kommen, herrscht im Tropical Island keine Sprachverwirrung, alle verstehen einander blendend, wenn auch nicht ganz. Doch je mehr Zeit sie miteinander in dem Riesenschwimmbad verbringen, desto deutlicher hört man bei allen Sprachen eine tropisch-brandenburgische Aussprache heraus. Über bestimmte Singvögel habe ich gelesen, dass ihre Artenbildung durch den Gesang erfolgt. Diese Vögel entwickeln nämlich ihren Gesang weiter, indem sie Geräusche aus der Umgebung aufnehmen und in ihren Melodien »verarbeiten«. Damit locken sie Weibchen an und markieren ihr Territorium. Wenn einige Singvögel wegfliegen und sich zum Beispiel in der Nähe einer Autobahn niederlassen, während sie früher in der Nähe eines Flusses lebten, können sich die Dagebliebenen und die Weggeflogenen nach kurzer Zeit nicht mehr verstehen. Nicht anders funktionieren die Menschen, glaube ich, auch wenn sie nicht singen. Wie die Singvögel auf beiden Seiten der Oder, die einander nicht verstehen und sich demzufolge nicht miteinander paaren können, verhält es sich mit den Bürgern der Bruderrepubliken der ehemaligen Sowjetunion. Noch vor Kurzem sprachen sie alle Russisch. Aber plötzlich verstehen sie einander nicht mehr und wollen nichts mehr miteinander zu tun haben. Die Vögel auf beiden Seiten der Oder sehen einander verblüffend ähnlich, tragen aber unterschiedliche Namen. Hier heißen sie Nachtigall, dort Sprosser. Die Teilung der Menschen geschieht nach dem gleichen Prinzip. Sie machen einen Schritt auseinander, und nachdem sie ihre Sprachen mit den Geräuschen ihrer Umgebung vermischt haben, verstehen sie einander nicht mehr.
Es muss also immer an der Umgebung liegen, wenn wir uns nicht verstehen. Diejenigen, die an der Autobahn groß geworden sind, kreischen; wenn sie in der Steppe auf die Welt kamen, wird der Wind zwischen ihren Zähnen pfeifen, und wenn sie nahe am Wasser aufwuchsen, würde ein aufmerksamer Zuhörer das Rauschen des Meeres in ihrem Sprechen erkennen. Die Umgebung ist schuld daran, dass die Franzosen nuscheln und die Engländer miauen. In leisen Ländern sind die Menschen in der Regel schweigsam, in lauten umgekehrt gesprächig, und viele Völker aus vogelreichen Ländern machen es ihren Vögeln nach. Die Chinesen zwitschern wie die Spatzen, und die Russen gurren, aber nicht alle und nicht überall. Großstadtrussen kreischen nämlich ganz laut und machen Fabrikgeräusche – eine Folge der Turboindustrialisierung. Die Russen aus dem Süden singen wie die Sachsen, und die Kasachen aus der Steppe kauen so komisch beim Sprechen, als hätten sie Sand im Mund.
Neulich unterhielt ich mich bei der Russendisko mit meinem DJ-Kollegen Juri auf Großstadtrussisch, als wir von einer Landsfrau, einer Russin aus Usbekistan, angesprochen wurden.
»Sagt mal, Jungs«, fragte sie uns, »das, was ihr sprecht, was ist das für eine Sprache?«
»Das ist Russisch«, sagten wir.
»Ich habe es mir fast gedacht«, nickte die Dame. »Es hat sich auch wie Russisch angehört. Aber warum habe ich dann kein Wort verstanden?«
Wir wunderten uns ebenfalls.
Bei mir zu Hause hat sich die Sprache noch weiter entwickelt. Meine Tochter berlinert nämlich, wenn sie mit mir auf Russisch über die Einzelheiten des Zeltens in Brandenburg spricht. Aber wie sich Berlinerisch auf Russisch anhört, kann ich hier leider nicht wiedergeben.