Stirb langsam
Am späten Heiligen Abend, im Grunde war es bereits die Heilige Nacht, kurz nach Mitternacht, gab das Handy meiner Frau Olga ein kleines Klingeltonkonzert. Sie ging ran, und ihre beste Freundin, ebenfalls eine Olga, schluchzte in den Hörer, ihr Kater sei nach seiner langen Krankheit so etwas wie fast ganz tot.
Olga wohnte in Friedrichshain zusammen mit ihrer Tochter Melanie und einem sehr alten Kater namens Johann Wolfgang. Seinen Namen hatte er wegen der angeblichen Ähnlichkeit mit dem größten deutschen Dichter aller Zeiten bekommen, ich konnte allerdings diese Ähnlichkeit nicht erkennen. Der Kater war die letzten hundert Jahre seines Lebens schwer krank und lag wegen fortschreitender Altersschwäche, Epilepsie und Diabetes permanent im Sterben. Es war jedem schon lange klar, Johann starb, aber er tat es sehr langsam. Er lag nicht einmal richtig im Sterben, sondern wackelte im Sterben von Zimmer zu Zimmer, kippte an jeder Ecke um, rappelte sich hoch, erbrach sich auf den Teppich und machte für Katzen ungewöhnliche Geräusche. Er pfiff, kicherte und grunzte. Zweimal am Tag bekam er von seiner Besitzerin Olga eine Insulinspritze und versuchte dabei, mit letzter Kraft die heilende Hand zu beißen.
Das langsame Sterben von Johann Wolfgang war ein trauriger Anblick und bescherte Olga und ihrer Tochter große seelische Schmerzen. Wie Bruce Willis im gleichnamigen Film inszenierte sich der Kater als Held und wollte in der Öffentlichkeit leiden. Anstatt sich eine dunkle Ecke in der Wohnung zu suchen, das Maul zur Wand zu drehen, dort nach »Mehr Licht!« zu rufen oder bloß ein letztes Mal zu miauen und in Würde die Augen zu schließen, ging Johann Wolfgang auf Olga und ihre Tochter zu, schaute beiden Frauen mit seinen großen dunklen Augen direkt in die Seele, kotzte dabei und pinkelte unter sich. Die Tierärzte, die den Kater jeden Monat untersuchten, verdienten sich dumm und dämlich an ihm.
Am späten Heiligen Abend packte der Tod den Kater aber schließlich am Kragen, berichtete Olga. Plötzlich rannte Johann Wolfgang kreuz und quer durch die ganze Wohnung wie verrückt, versuchte, aufs Fensterbrett zu springen, fiel um, stand auf, ging in die Küche und fiel dort erneut um, mit dem Gesicht in die Schale mit Trockenfutter. Danach stand er nicht wieder auf, atmete aber noch. Olga konnte diesen Anblick nicht ertragen. Dabei konnte sie nicht einmal die diensthabende notärztliche Tierarztpraxis ausfindig machen, die am Heiligen Abend in Berlin geöffnet hatte. Ihr Internetanschluss war ausgefallen. Sie bat also meine Frau um Hilfe. In einer solchen Notsituation kann niemand Nein sagen. Also ermittelte meine Frau den tierärztlichen Notdienst – er befand sich am Ende der Welt, in Marzahn –, nahm sich ein Taxi, fuhr nachts zu ihrer Freundin nach Friedrichshain, lud sie und den Kater in den Wagen, und weiter ging es nach Marzahn.
In der tierärztlichen Praxis herrschte eine frohweihnachtliche Stimmung. Das Wartezimmer war überfüllt mit Tieren, die typische weihnachtsbedingte Unfälle und Verletzungen hatten. Zwei niedliche Kätzchen, die vom Weihnachtsbaum genascht hatten und denen nun große bunte Bündel von Lametta aus den Hintern raushingen. Wenn aber die Besitzerin ihren Kätzchen das Lametta aus dem Arsch ziehen wollte, fingen beide sofort an, elendig zu jodeln. Anscheinend hatte sich das Lametta im Inneren der Katzen um irgendwelche wichtigen Organe gewickelt.
Außer den Katzen gab es Papageien, die sich an Weihnachtskerzen verbrannt hatten, und runde Meerschweinchen, die allem Anschein nach etwas Großes, Flaches und Quadratisches gefressen hatten und nun geröntgt werden mussten. Ich tippte auf Adventskalender. Neben den Meerschweinchen saß ein gut gewachsener Hund mit gebrochenem Bein, der wahrscheinlich in den Tannenbaumhalter getappt war.
Die lange Fahrt nach Marzahn hatte Johann Wolfgang gutgetan. Wie so vielen Patienten ging es auch ihm beim Anblick des Arztes plötzlich besser. Die Tierärztin untersuchte ihn kurz und meinte, es sei alles gar nicht so schlimm, der Zucker spiele ein wenig verrückt, aber mit der richtigen Behandlung, am besten stationär, würde der Kater problemlos noch weitere hundert Jahre schaffen. Die Untersuchung kostete hundertfünfzig Euro, die Medikamente hundertvierzig, und jeder Tag auf der Station zusätzlich fünfzig Euro.
»Können Sie dem Kater nicht vielleicht eine Erlösungsspritze geben?«, erkundigte meine Frau sich unverblümt bei der Ärztin, als ihre beste Freundin einmal kurz mit dem Kater rausgegangen war. »Das Tier zieht das letzte nicht vorhandene Geld aus der Familie und macht mit seinem langsamen Sterben alle Menschen in seiner Umgebung unglücklich, traurig und depressiv. Es ist eine Qual für seine Besitzer und sich selbst geworden und würde bestimmt selbst den Freitod wählen, wenn es mündig wäre.«
Die Ärztin war darüber mehr als empört. »Wie können Sie es wagen!«, rief sie. »Müssen wir jetzt etwa alle Lebewesen töten, die Ihre Freundin traurig oder irgendjemanden depressiv machen? Wenn ich Ihrer Logik folge, dann müsste ich jedes zweite Tier, das in meine Praxis kommt, sofort umbringen. Aber ich bin kein Mörder, ich bin Tierärztin, mein Beruf ist es zu heilen, nicht zu vernichten. Jedes Leben ist ein Wunder der Natur und darf auch nur von der Natur wieder genommen werden. Glauben Sie mir, dieser Kater wird uns alle überleben, er muss nur auf seinen Zuckerspiegel aufpassen!«, sagte die Ärztin noch zum Abschied und zwinkerte optimistisch.
Nachts fuhren die beiden Olgas mit Johann Wolfgang nach Friedrichshain zurück, durch die dunkle schneelose Weihnachtsstadt. Die Frauen schwiegen. Die eine dachte darüber nach, wie sie ihrer Mutter erklären konnte, dass sie schon wieder kein Geld mehr besaß, obwohl sie sich doch gerade letzte Woche welches bei ihr geliehen hatte; die andere dachte darüber nach, wie sie ihrem Mann glaubwürdig erklären konnte, dass sie die ganze Heilige Nacht in einer Tierarztpraxis in Marzahn mit einem Kater verbracht hatte. Der Kater selbst verlor keine Zeit für irgendwelche Gedanken, er schnurrte und machte daneben während der ganzen Fahrt komische Geräusche: Er grunzte, kicherte, nieste und bereitete sich auf ein langes glückliches Leben vor.