Das Eimerchen
Dieses Jahr hatten wir eine besonders multikulturelle Ecke auf Teneriffa erwischt. Man hörte von allen Seiten Französisch, Englisch, Spanisch, Italienisch, Russisch und Norwegisch. Durch dieses Stimmengewirr drang an unsere Ohren immer wieder der deutsche Satz:
»Geh und hol dir deinen Eimer, ich lasse mich nicht von dir kneifen.«
Eine drollige Stimme sagte dies alle fünf Minuten wie auf einer Schallplatte, die einen Sprung hat. Der Satz kam von einer sonnenbebrillten Mutter, die mit ihrem Kind in der Nähe saß. Das Eimerchen lag am Wasser zwei Meter von ihren Füßen entfernt. Das Kind weinte und weigerte sich, das Ding zu holen. Seine Mutter wiederholte wie ein Roboter: »Geh und hol ihn dir.« Schon bald verstummte der ganze Strand im Umkreis von hundert Metern. Alle horchten nur noch, wie die Eimerchen-Geschichte ausging, und wurden trotz strahlender Sonne immer blasser. Ein fremdes spanisches Kind stand schließlich auf und brachte das Eimerchen. Die Roboter-Mutter schmiss ihn wieder zurück. Das Kind solle es selbst bringen, meinte sie. Eine deutsche Nachbarin flüsterte ihr irgendetwas ins Ohr.
»Erzählen Sie mir nichts über Erziehung, ich bin selbst Erziehungswissenschaftlerin!«, regte sich die Mutter auf. »Er wird das Eimerchen schon bringen, wir haben zwei Wochen Zeit.« Sie zog ihr weinendes Kind zu dem Eimer und steckte ihn wahlweise mal mit dem Bein, mal mit dem Kopf hinein, dazu wiederholte sie ihren berühmten Satz. Die Frau war offensichtlich krank.
Ein englischer Vater kam auf sie zu und hielt eine wütende Rede auf Englisch, dabei gestikulierte er stark und zeigte auf die vielen Leute, die um die Frau herum lagen und saßen. Trotz meiner schlechten Englischkenntnisse konnte der Sinn seiner Ansprache kaum missverstanden werden: »Wenn du blöde Kuh nicht sofort aufhörst, das Kind und die Menschen in deiner Umgebung zu quälen, bekommst du bald von jedem Urlauber hier mit dem Eimerchen eine übergebraten.« So in etwa, glaube ich, hatte sich der Mann – natürlich äußerst höflich – geäußert. Die Strandgesellschaft nickte zustimmend und unterstrich die Botschaft mit wilden Gesten. Die Erziehungswissenschaftlerin ließ sich jedoch nicht einschüchtern. »Geh und hol dir dein Eimerchen!«, sagte sie nur. Aber das Kind schien seiner Mutter in Sachen Trotz gewachsen zu sein. Obwohl fast noch ein Baby, hatte es sich bereits vorgenommen, lieber auf der Stelle zu sterben, als das Eimerchen auch nur anzusehen.
Der kompromisslose Kampf der beiden Dickköpfe ging also weiter. Weil niemand sich dieser Schau entziehen konnte, schlossen die Urlauber Wetten ab, wer gewinnen würde. Ich setzte wie meistens auf das Kind. Es war wie beim Fußball: Plötzlich gab es zwei Parteien, der ganze Strandabschnitt teilte sich in zwei Fronten. Nach zwei Stunden kam allerdings eine große Welle und zerstörte das Spiel. Der Eimer verschwand für immer im Meer. Auf eine solche Entwicklung waren die beiden Seiten nicht vorbereitet, und eine ungewöhnliche Stille legte sich plötzlich über den Strand. Selbst das Kind und seine erziehungswissenschaftlich ausgebildete Mutter schwiegen minutenlang. Wir machten uns schon Sorgen, dass sich die beiden gar nicht mehr aus ihrer Starre befreien würden. Dann aber hörte man: »Hol dir deine Schaufel, hol dir deine Schaufel, hol dir deine Schaufel.« Das Kind fing wieder an zu weinen, und alle atmeten erleichtert auf.