Flugangstattackenabwehr
Meine Frau und ich haben beide Flugangst. Dabei sitzen wir ziemlich oft in Flugzeugen. Die menschliche Zivilisation hat sich in eine solche für uns bedauernswerte Richtung entwickelt, dass man kaum irgendwohin kommt, ohne zu fliegen. Flugangst ist weniger eine Krankheit als ein Gefühl. Das Gefühl der Ohnmacht. Man fliegt nicht von allein, sondern sitzt in einer durch die Luft rasenden Maschine, die aus schwerem Metall gebaut ist. Man weiß nicht, was diese Maschine überhaupt in der Luft hält – vermutlich nur das Kerosin –, und wenn der Motor stehen bleibt, fällt sie herunter. Wir selbst haben weder Flügel noch Federung, von irgendeinem Fallschirm ganz zu schweigen. Als Passagiere sind wir Geiseln der Maschine und ihr völlig ausgeliefert. Kein Wunder, dass in Flugzeugen so viele durchdrehen. Jeden Tag kann man in den Nachrichten lesen, ein Fluggast habe in einem Flugzeug randaliert. Neulich wurde sogar ein ukrainischer Minister in Handschellen von Bord geleitet.
Alle diese Vorkommnisse verlaufen nach dem gleichen Muster. Zuerst sitzt der Passagier ruhig auf seinem Platz, liest Zeitung oder schaut gedankenlos durch das Bullauge auf die unter ihm liegenden Wolken. Plötzlich springt er auf und baut so einen Mist, dass gleich am nächsten Tag überall und in allen Einzelheiten davon zu lesen ist. Dieses Verhalten ist mit keinen Turbulenzen zu erklären. Hier ein Beispiel: Ein bekannter Geschäftsmann langweilt sich auf zehntausend Metern Höhe mit einem Sudoku-Heft. Er kommt bei einer superschweren Zahlenkombination nicht weiter und will dringend mit dem Piloten darüber reden. Als eine Stewardess sich ihm in den Weg stellt, beißt er die junge Frau in den Unterschenkel und verbarrikadiert sich auf der Toilette.
Wenn Männer im Flugzeug randalieren, beißen sie fast immer die Stewardess ins Bein. Deswegen tragen die Stewardessen auf vielen Fluglinien Strümpfe aus einem speziellen Schutzstoff, den man nicht durchbeißen kann. Wenn Frauen rebellieren, schicken sie gleich alle zum Teufel. Eine berühmte russische Schlagersängerin, die auf der Bühne herzzerreißende Liebesschnulzen zum Besten gibt, hat neulich mit ihrer Rebellion beinahe ein Flugzeug umgekippt. Zuerst beschimpfte sie lautstark alle Passagiere und forderte sie auf, sofort aus der Maschine auszusteigen. Anschließend trank sie die flüssige Seife auf der Bordtoilette und tanzte wild im Gang, bevor sie zusammenbrach.
All diese Vorfälle lassen sich leicht erklären. Russen wissen, gegen Flugangstattacken hilft nur Hochprozentiges. Cognac bekämpft sie zum Beispiel sehr gut, aber auch ein Wein tut es. Noch besser zwei. Doch wer will schon als Säufer abgestempelt werden? Es gilt als unangebracht, gar abstoßend, sich schon am frühen Morgen Hochprozentiges hinter die Binde zu kippen. Gerade bei den Russen, die seit eh und je unter dem Klischee zu leiden haben, sie wären für die Reize des Alkohols besonders anfällig.
Solche Klischees gehören abgeschafft, denken die Russen und wappnen sich für den Flug mit medizinischen Mitteln, die von Ärzten gegen Flugangst verschrieben werden. Das beliebteste davon ist Tavor, obwohl man sich unter Medizinern noch immer unsicher ist, was gefährlicher für den Patienten ist: Tavor oder Flugangst. Laut Gebrauchsanweisung soll Tavor ein Mittel zur Behandlung von Ängsten und Spannungsstörungen sein, obwohl in seinen Nebenwirkungen schwarz auf weiß das Gegenteil beschrieben wird. Dort steht, dass die Einnahme von Tavor außer den üblichen Kopfschmerzen und Durchfall auch Depressionen hervorruft, Realitätsverlust, Verhaltensstörungen, Panikattacken, Zittern und Schwitzen, Änderung des geschlechtlichen Verhaltens, sexuelle Erregung, Aggressivität, verminderten Orgasmus und Gedächtnislücken. Was soll man dazu sagen, was sich noch wünschen? Guten Flug! Es ist kein Wunder, dass Stewardessen ihre Strümpfe immer wieder nähen müssen.
Als aufgeklärte Bürger nehmen wir niemals Tavor, nur Wein und Cognac. Es hilft hervorragend. Wir haben davon Vorräte angelegt und spezielle Flugangstflaschen in der Küche und im Arbeitszimmer platziert, denn manchmal überkommt einen die Flugangst sogar zu Hause, dieses Gefühl der Ohnmacht. Man braucht nicht zu fliegen, um sie zu spüren. Es reicht schon, einmal in den Himmel zu schauen, wie die Wolken dort oben hängen. Zum Glück hat man zu Hause immer eine sichere Landung.