Sponsorenlauf

Es ist ein Zeichen unserer Zeit, dass niemand mehr erwachsen werden will. Die Alten bleiben bis zu ihrem Lebensabend jung, sie laufen nicht gebeugt mit einem Stock durch die Gegend, stattdessen treiben sie Nordic Walking, gehen schwimmen und in die Ü40-Diskos und kaufen sich Klamotten in »Jugend-Mode«-Läden, weil dort die Sachen praktischer und preiswerter als in Senioren-Läden sind. Die jungen Menschen dagegen werden alt geboren. Ihr Spielzeug sind komplizierte technische Geräte mit bibeldicken Gebrauchsanweisungen, sie werden bereits im Kindergarten über ihre Rechte aufgeklärt und wollen schon in der Grundschule mobil telefonieren.

Ich weiß, es gibt in Deutschland durchaus Orte, wo bevorzugt alte Menschen leben. Dort werden nach zweiundzwanzig Uhr die Bürgersteige hochgeklappt, und auf jeder Straße ist mindestens eine Apotheke oder ein Bestattungsinstitut zu finden. Doch meine Wahlheimat Berlin verkörpert das kindische Zeitalter. Es ist, als hätte diese Stadt alle Kinder Deutschlands aufgesogen. Wenn ich irgendwo auf meinen Lesereisen über Berlin, über die Schönhauser Allee dort oder den Mauerpark berichte, kommen am Schluss immer Leute aus dem Publikum zu mir und sagen, ich solle ihre Kinder grüßen, denn diese wohnten ebenfalls in Berlin – etwa in derselben Ecke wie ich. Dabei berichte ich auf Lesungen eigentlich stets von verschiedenen Standorten, immerhin bin ich inzwischen achtmal in Berlin umgezogen. Doch die Kinder von diesen Menschen ziehen anscheinend immer mit um. Ob im musikalischen Bayreuth oder im chronisch erkälteten Flensburg, in Köln oder Stuttgart, sogar in Paderborn haben sie Kinder in Berlin oder hatten zumindest früher welche.

Dass die meisten Kinder Deutschlands aus ihren Elternhäusern nach Berlin verbannt wurden und werden, damit sie dort in der aufregenden Atmosphäre einer Großstadt ihre in die Überlänge gekommene Pubertät ausleben können, erklärt vielleicht schon die kindersichere Berlin-Ausstattung: diese ungeheuere Anzahl von Eisdielen, Spielzeugläden mit Schwerpunkt Computerspiele, McDonald’s-Filialen, Milchshake-Ausgabestellen, Diskotheken, Maschinenschnitt-Friseuren und ähnlichen Einrichtungen der Kinderbetreuung. Die Verbannung der Kinder soll helfen, die anderen Städte Deutschlands sauber und gepflegt zu halten, wodurch den Eltern und Stadtverwaltungen viel Stress, viele Demos und viel Graffiti erspart bleiben.

Natürlich gehen Kinder nicht einfach so nach Berlin, sondern angeblich, um etwas Wichtiges zu studieren und später mit ihrem an der Uni erworbenen Wissen das Leben in ihren Heimatstädten besser bzw. fortschrittlicher zu gestalten. Doch manche werden von ihren Eltern einfach nicht mehr abgeholt. Fast alle Männer über vierzig zum Beispiel, die in Berlin leben, wurden von ihren Eltern irgendwann hier abgesetzt und dann sich selbst überlassen. Sie irren erst lange durch die Gegend, aber irgendwann ist ihnen die Berliner Geografie gut vertraut, und sie werden Taxifahrer. Zumindest die meisten von ihnen. Bei sonnigem Wetter sitzen diese zurückgelassenen Kinder in Cafés, schlürfen Milchshakes oder Bier und bilden sich durch konzentrierte Straßenbeobachtung weiter. Wenn sie Familien gründen und selbst Kinder bekommen, begleiten sie diese in die Schule und nehmen dort gerne an verschiedenen makabren Veranstaltungen und Sportfesten teil.

Neulich hatten wir an der Schule meines Sohnes einen Sponsorenlauf. Eine Menge jung aussehender Eltern mit Kindern in Sportanzügen versammelte sich an einem herbstlichen Freitagnachmittag auf dem Schulhof. Die Grundschule meines Sohnes, die seit letztem Jahr nur noch als »Grüne Umweltschule« bezeichnet werden möchte, veranstaltete bereits zum zweiten Mal einen Sponsorenlauf. Beim ersten Mal ging das gesammelte Geld an eine Partnerschule in Ecuador, dieses Jahr sollte mit dem Geld eine Schule in Nicaragua unterstützt werden. Niemand von uns wusste, wer als Erster auf die Idee mit dem Sponsorenlauf gekommen war. War es die Schulleiterin oder ein besonders engagierter Elternteil gewesen? Auf jeden Fall war der Sponsorenlauf eine geniale pädagogische Erfindung, ein kompliziert gestricktes, risikoreiches Finanzprodukt zur Unterstützung des Schulsystems, das gleichzeitig die Kinder sportlich fördert und ihren Eltern das Geld aus der Tasche zieht. Bei einem Sponsorenlauf müssen die Kinder solange sie können um die Schule herumrennen, und die Eltern sponsern den eigenen oder auch den fremden Nachwuchs mit einem Geldbetrag pro Runde. Der Mindesteinsatz beträgt fünfzig Cent, eine Obergrenze gibt es nicht.

Die Zockerqualitäten der Väter waren schon beim letzten Sponsorenlauf zur Geltung gekommen. Diesmal benahmen sich die Väter allerdings anfangs noch vernünftig und zurückhaltend. Der Vater von Peter setzte zunächst den Mindesteinsatz auf seinen Sohn. Ihm war es offenbar nicht peinlich, die Anstrengungen des eigenen Kindes mit einer billigen Fünfzig-Cent-Münze zu unterstützen. Dabei ist der Vater von Peter Erziehungsaktivist. Gleich nach der Einschulung seines Sohnes, bei der allerersten Elternversammlung, schlug er vor, jeder Vater solle sein Kind auf einem Blatt Papier zeichnen und dazu fünf Minuten erzählen, wie er sein eigenes Kind sähe. Die Hälfte der Eltern konnte nicht zeichnen und wies diesen Vorschlag empört als Schwachsinn zurück. Die andere Hälfte war von der Idee jedoch begeistert. Sie hatte sich wahrscheinlich in ihren Kirchenvereinen oder bei den Anonymen-Alkoholiker-Treffen auf diese Weise kennengelernt und zeichnete ihre Kinder seitdem immer wieder gerne. Nach dieser ersten Elternversammlung entstanden so etwas wie zwei Elternparteien – die Maleltern und die Eltern, die nicht malen wollten.

Als der Vater von Birmidschan, der der zweiten Partei angehörte, mitbekam, dass der Vater von Peter nur einen Mindestbetrag auf seinen Sohn gesetzt hatte, lächelte er und setzte einen Euro pro Runde auf Birmidschan. Der Vater von Miroslav überlegte nicht lange und setzte einen Euro fünfzig auf seinen Sohn. Der Vater von Birmidschan verdoppelte daraufhin seinen Einsatz. Der Vater von Miroslav ging mit. Spätestens ab da wurde der Vater von Peter nervös. Er errötete und setzte vier Euro pro Runde auf seinen Sohn, wahrscheinlich in der Hoffnung, der Junge würde sowieso nur zwei Runden laufen und dann schlappmachen. Peter hatte sich in der Klasse nie durch besondere sportliche Leistungen oder Laufqualitäten hervorgetan.

Die Kinder bereiteten sich zum Lauf vor, die Väter standen im Laub und schauten angestrengt aneinander vorbei, bis der Startschuss fiel. Danach starrten alle nur noch auf die Laufbahn. Birmidschan schaffte es siebenmal um die Schule herum, der sportliche Miroslav verließ nach zehn Runden die Laufbahn. Nur Peter lief und lief und lief wie der Hase aus dem Werbespot für Akkus, die ewig halten.

»Mach’s nicht zu doll, Junge!«, rief ihm sein Vater zu, sichtlich besorgt um die Gesundheit des Kindes. Gleichzeitig konnte man seine Verwunderung über die Sportlichkeit und die Bereitschaft seines Sohnes, halb Südamerika finanziell zu sanieren, nicht übersehen. Er hatte Peter als Marathonläufer deutlich unterschätzt. Alle Kinder waren inzwischen mit ihrem Lauf fertig, und der letzte Schüler verließ die Strecke – nur der kleine Peter lief, stolz wie Bolle, weiter.

»Is gut!«, rief ihm sein Vater beinahe verzweifelt nach, während die anderen Väter höhnisch grinsten. Sie konnten zwar nicht malen, aber sie konnten rechnen. Sie hatten bemerkt, dass Peter schon mindestens drei Kisten Bier aus dem Familienbudget weggelaufen hatte.

»Hör auf, Junge, willst du, dass dir die Kniescheiben rausfallen?«, bremste der Vater ihn weiter aus.

»Ich kann noch mehr!«, schrie Peter zurück und warf einen Siegerblick ins Publikum. Er war bereits dreißig Runden gelaufen und gerade dabei, das bescheidene Gehalt seines Vaters auf die bedürftigen Bildungsstätten Lateinamerikas zu verteilen. Peter sah dabei nicht einmal müde aus. Auf seinem Gesicht stand geschrieben: »Wenn nicht der ganze Kontinent, so konnten doch zumindest die Schulsysteme von Nicaragua und Ecuador fest mit meiner Leistung rechnen.«

Alle Anwesenden, die mitbekommen hatten, wohin der Hase lief, lachten über diese unmögliche Situation, abgesehen von Peters Vater, der das absolut nicht lustig fand.

»Hör auf zu rennen, und komm sofort hierher«, zischte er laut.

»Ein sportlicher Junge!«, klopften ihm andere Väter auf die Schulter.

»Ja, sehr sportlich!«

»Wir danken Ihnen für Ihr Engagement«, sagte die Klassenlehrerin zum Vater von Peter, als der endlich nach vierunddreißig Runden zum Stehen kam.

»Ich habe gar nicht so viel Geld dabei«, entschuldigte sich der Vater in der Hoffnung, die Klassenlehrerin würde sich auch mit der Hälfte zufriedengeben.

»Sie können es ja überweisen«, meinte diese jedoch – in einem Ton, der keine Widerrede duldete – und drückte dem Vater von Peter ein Überweisungsformular und einen Kugelschreiber in die Hand.

»Da kannste schön was zeichnen«, zwinkerte ihm der Vater von Birmidschan im Vorbeigehen zu.

Ich lachte damals über dieses kindische Verhalten der Eltern. Doch Großeltern benehmen sich oft noch kindischer. Sie halten sich für unglaublich reif und intelligent, alle anderen sind in ihren Augen Kleinkinder. Entsprechend reden sie auch mit ihren Enkeln. Das ist ein Fehler. Das Schlimmste, was man einem jungen Menschen antun kann, ist, mit ihm über die Schule reden zu wollen. »Na, wie geht’s denn so in der Schule? Hast du gute Noten? In welche Klasse gehst du eigentlich?« Der tägliche Schulbesuch ist eine unfreiwillige, aber notwendige Maßnahme, der sich jedes Kind unterziehen muss. Aber zugleich geht mit ihm ein beträchtlicher Verlust der Lebensqualität einher. Gehört es nicht zum schlechten Ton, auf den Schwachpunkten des anderen herumzuhüpfen? Man fragt doch nicht einen Knastbruder, ob er gerne Reisekataloge liest, oder einen Rollstuhlfahrer, ob ihm Sex im Stehen fehlt.

Auf Schulfragen reagieren gut erzogene Kinder mit Schulterzucken, sie lächeln verkrampft, schauen zur Seite und sagen »gut, gut«. Danach wollen sie mit den Älteren über nichts mehr reden. Die sind dann in der Regel beleidigt und denken, die Jungen wären zu doof. Dasselbe denken die Jungen über die Alten. Alter und Jugend sind eben die schwierigsten Lebensphasen, das haben wir in der Familie festgestellt.

Nach der Zeitrechnung meines Sohnes kann man die Menschen grob gesagt in drei Altersphasen einteilen: die Phase, in der man zu jung ist, um die anderen zu verstehen ; die, in der man dafür zu alt ist; und die Phase in der Mitte, kurz Mittelalter genannt. Das Mittelalter muss nicht mehr zur Schule, kann sich aber noch gut an diese Einrichtung erinnern.

Ich gehöre zum Mittelalter. Ich weiß noch genau, wie es auf der Schule war, und ich sehe, dass wir damals noch viel kindischer waren als die heutigen Kinder. In beinahe allen Lebensbereichen sind die Schüler dieses neuen Jahrhunderts uns überlegen. Sie können mit komplizierten technischen Geräten umgehen, ein vielseitiges Dokument schnell und beinahe auswendig lernen, zum Beispiel das wöchentliche Fernsehprogramm. Sie sind immer über die wichtigsten Nachrichten informiert, d.h. sie wissen genau, was nächste Woche in die Kinos kommt und bei welchem Film welche Jugendfreigabe gilt. Durch den ständigen Umgang mit Computersimulationen können die meisten von ihnen bereits im zarten Kindesalter Auto fahren, Flugzeuge steuern und automatische Maschinenpistolen bedienen. Und sie müssen ihren Eltern auch keine komischen Fragen über den Ursprung des Lebens mehr stellen, denn sie haben Sexualkunde. Dort werden sie von Fachpersonal in allen Einzelheiten aufgeklärt, wann was wohin kommt und welche Risiken und Nebenwirkungen dabei zu beachten sind. Dazu werden Filme gezeigt und Hausaufgaben verteilt.

Neulich musste die Tochter unserer Freundin eine solche Hausarbeit schreiben. Bei der Frage, ob auch ein Kind vor Erreichen der Geschlechtsreife schwanger werden könne, war sich die Tochter unsicher und fragte ihre Mutter um Rat. Die, ebenfalls im Mittelalter, ist zu ihrer Zeit in der sonnigen sozialistischen Republik Aserbaidschan zur Schule gegangen, hatte also keinen Sexualkundeunterricht. Sie überlegte lange und sagte, unter Umständen könne das schon passieren, komme aber selten vor. Ihre Tochter schrieb es auf und bekam eine Sechs. Die Mutter hatte sich in den Augen der Tochter furchtbar blamiert.

Zur Entstehung von Babys hatte meine Generation viele Vermutungen und ausgeklügelte Theorien parat. Einige glaubten, sie würden sich im Körper der Frau nach der Hochzeit entwickeln, ausgelöst durch den Hochzeitsmarsch von Mendelssohn, der bei jeder Eheschließung auf dem Amt gespielt wurde. Man glaubte, die Entstehung der Kinder sei eine Reaktion des Körpers auf Mendelssohn. Daneben war der Aberglaube weit verbreitet, dass jeder Mensch spätestens mit hundert Jahren sterben müsse. Wir stellten uns das total peinlich vor: Die Gäste kommen zu deinem Geburtstag, der Tisch wird gedeckt, aber der Gastgeber muss ins Grab.

Die Welt unserer Kindheit war eine verkehrte Welt. Die Jungs interessierten sich für die Probleme des Kinderkriegens, die Mädchen dachten über ihre Karriere nach. Sie hatten alle irgendwelche romantische Berufe ins Auge gefasst und trainierten dafür bereits ab der dritten Klasse. Ein Mädchen, das Friseuse werden wollte, verpasste der Katze unseres Schulhausmeisters einen modischen Haarschnitt und schwärzte ihr sogar die Wimpern. Ihre Freundin, die sich eine Zukunft als Kinderärztin ausmalte, wollte mit uns partout das Spritzengeben üben, und meine Grundschulliebe, die Archäologin werden wollte, vergrub einmal im archäologischen Eifer den ganzen Schmuck ihrer Oma auf dem Hof – und vergaß dann, wo. Daraufhin wurden alle Mitglieder ihrer Familie zu Archäologen. Jeden zweiten Tag gingen sie vollzählig mit Schaufeln bewaffnet auf den Hof und gruben nach ihrem Familienschatz – mit wechselndem Erfolg. Mit der Zeit gruben sie seltener, aber immer noch regelmäßig. Irgendwann zogen meine Eltern um, ich weiß also nicht, wie die Schatzsuche schließlich ausgegangen ist. Aber ich gehe davon aus, sie suchen noch immer.