Deutscher Staat

Ein Staat ist ein schwieriges Unternehmen. Um ihn gut zu führen, braucht es Erfindungsgeist. Zur Erleichterung der Verwaltung des öffentlichen Lebens erfanden die Amerikaner den Colt und den elektrischen Stuhl, die Russen das Destilliergerät und die Deutschen den Aktenordner, auch Leitz-Ordner genannt, nach seinem Erfinder Herrn Louis Leitz. Seine Firma hieß »Werkstätte zur Herstellung von Metallteilen für Ordnungsmittel« und produzierte deutsche Ordentlichkeit. Natürlich waren die Leitz-Ordner nicht die ersten Ordner Deutschlands. Neueste archäologische Ausgrabungen machen deutlich, dass schon die alten Teutonen jede Menge Aktenordner besaßen, die sie anbeteten. Manche waren aus Holz, manche sogar mit Gold und Edelsteinen verziert. Seit Hunderten von Jahren dienen Aktenordner hierzulande also dem Menschen. Sie sind in jedem Haushalt unentbehrlich. Den ersten bekommt man schon in der Vorschule, und wenn jemand im Laufe des Lebens nicht mindestens ein Regal damit vollgestellt kriegt, gilt sein Lebensentwurf als gescheitert.

Auch für das politische System Deutschlands sind Aktenordner unentbehrlich. Dieses System ist auf dem Prinzip des gesunden Misstrauens aufgebaut, was wahrscheinlich aus den schlechten Erfahrungen mit der Politik der Vergangenheit herrührt. Der Bundestag und der Bundesrat, Regierung und Opposition misstrauen einander – gesund und gründlich. Gleichzeitig misstraut die Bevölkerung allen vieren. In besonderem Maße gilt das Misstrauen dem Bundespräsidenten, aufgrund schlechter Erfahrungen mit deutschen Präsidenten in der Vergangenheit. Ihm wurden deswegen vorsichtshalber alle Funktionen außer den mündlichen entzogen.

Das allseitige Misstrauen schlägt sich in einer Unzahl von Aktenordnern nieder, denn alles muss dreimal gezählt, aufgeschrieben und abgelegt werden. Und so hat jede Regierung alle Hände voll zu tun: Sie verwaltet über die Aktenordner sich selbst und den Rest der Bevölkerung. Um diese schwere Aufgabe zu bewältigen, gibt es den öffentlichen Dienst, der an manchen Orten mehr Menschen umfasst als der zu verwaltende Rest. Laut Statistik des deutschen Nationalatlas ist der Staat der größte Arbeitgeber im Land – jeder siebte Bürger aus der arbeitsfähigen Bevölkerung ist beim Staat beschäftigt. Der Verwaltungsapparat ist über alle Bundesländer verteilt. In mancher Kreis-oder Landeshauptstadt erreicht die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst satte fünfzig Prozent, in ländlichen Gegenden ist es dagegen weniger, was aber nicht bedeutet, dass dort nicht verwaltet wird. Der Staat beschäftigt daneben noch viele ehemalige Beamte der Bundesbahn, der Bundeswehr, der Post und der Telekom. Über wie viele Aktenordner der Staat insgesamt verfügt, darüber gibt es keine Statistik. Ich schätze, es geht inzwischen in die Milliarden. Die staatlichen Ausgaben allein für Klarsichthüllen betragen jährlich mehrere Millionen.

Die Verwalter Deutschlands handeln meiner Erfahrung nach immer reinen Gewissens. Sie sind nicht korrupt, rechnen Überstunden genau ab, öffnen sich der Bevölkerung für durchschnittlich zwei Stunden am Tag zu den vorgeschriebenen Öffnungszeiten und schauen gern nachdenklich aus dem Fenster auf das Land.

Ganz andere Erfahrungen habe ich mit den Beamten im russischen Wildkapitalismus gemacht. Dort begreifen die Angestellten des öffentlichen Dienstes ihren Job als Chance. Sie machen gerne und oft Überstunden in Eigeninitiative und entziehen sich der Bevölkerung zu den Öffnungszeiten am liebsten. Die russischen Strom- und Gaszähler-Ableser erkundigen sich in den Haushalten diskret, ob sie die Zähler nicht zurückdrehen sollen – gegen einen kleinen Aufpreis. Die Finanzämter erinnern die Steuerzahler täglich persönlich daran, dass sie, wenn schon nicht ihre Steuerschulden, wenigstens die Finanzbeamten bezahlen müssen. Der Notarzt kommt in Russland auch dann, wenn man ihn gar nicht gerufen hat. Er bietet den Leuten günstig ein neues, ganz tolles Medikament an, das noch nicht an Menschen getestet wurde. Zur Not testet der Arzt dieses Medikament sogar live und spontan an einem Menschen.

All diese Staatsdiener begreifen sich als echte Dienstleister, anders als deutsche Beamte, die nur ihre Pflicht erfüllen – bis zur wohlverdienten Rente. Deswegen ist das Vertrauen in die Politik in Russland höher als in Deutschland, und die Bürger trauen ihren Politikern nach wie vor alles zu. Letztere begreifen ihren Job ebenfalls als Chance. Sie haben schließlich für ihre Wahl bzw. Wiederwahl teuer bezahlt und versprechen sich einiges davon. Ein Politiker kann in Russland viel bewegen. Zum Beispiel irgendjemanden in die Pfanne hauen und dann als Volksdiener den Schutz parlamentarischer Immunität genießen; auf der Autobahn die Gegenspur benutzen oder fette Bauaufträge an die eigenen Verwandten verteilen. Problematisch wird es nur, wenn zwei Politiker gegeneinander antreten, die beide unter dem Schutz ihrer Mandate stehen. Dann kann es richtig übel werden. Neulich, als sich der Chef der russischen liberalen Partei mitten in einer Parlamentssitzung von einem politischen Gegner eine schnelle Linke einfing und zu Boden ging, schrie er seinen Leibwächter an, der ebenso wie sein Fahrer und sein Lieblingssänger im Parlament saß: »Erschieß ihn! Erschieß ihn sofort! Wozu bezahle ich dich?« Der Leibwächter zögerte: »Wieso erschießen? Er hat mir nichts getan. Wir können dieses Problem doch parlamentarisch lösen.« Er wurde deswegen sofort von allen als »korrupter Demokrat« beschimpft. Aktenordner haben in Russland nur Freaks.