Der Wald

Die Wissenschaft hat es längst herausgefunden: Unsere unmittelbare Umgebung diktiert unsere Überlebensstrategien, sie knetet uns und härtet uns ab. Unsere Umwelt prägt uns mehr als unsere Eltern, wir alle sind bloß Versuchskaninchen im Dienste der Anpassungsexperimente von Mutter Natur. Unsere Traditionen, Bräuche, Temperamente, Gefühlslagen und sogar unser Aussehen, mit einem Wort alles, was uns voneinander unterscheidet, entspringt der Anpassungsfähigkeit unserer Vorfahren. Völker zum Beispiel, die nahe am Wasser leben, wie die Japaner, haben wenig Körperhaare, ihre Haut ist blass, und ihre Formen sind wie vom Wasser geschliffen, was darauf hindeutet, dass ihre Vorfahren viel Zeit im Wasser verbracht haben. Japaner sind obendrein absolut wasserdicht, können aber Alkohol nicht gut vertragen, weil sich aus Meerestieren nur schwer Schnäpse brennen lassen. Außerdem sollte man im betrunkenen Zustand das Wasser sowieso besser meiden, das weiß jedes Kind.

Bergbewohner wie etwa die Kaukasier können unglaublich lange in der Hocke sitzen, ohne sich mit dem Rücken an irgendetwas anzulehnen. Sie hocken quasi in der Luft und halten auf jeder schrägen Ebene zudem phantastisch das Gleichgewicht. Sie sind aber alle ohne Ausnahme weitsichtig. Sie erkennen sofort, was sich auf der Spitze des Berges abspielt, können aber eine Zeitung nur mit dicken Brillen lesen.

Die Russen als Menschen der Steppe können sehr gut reiten, es liegt ihnen quasi im Blut. Sie können auf dem Pferd essen und tanzen, sie können sich sogar während des Reitens mit geschlossenen Augen vermehren. Früher bekamen die Kinder in der Steppe, Jungs wie Mädchen, bereits mit fünf Jahren ein Pferd von ihren Eltern geschenkt. Nur derjenige, der reiten konnte, galt als erwachsen. Heute haben viele Russen aus Gründen der Globalisierung und des fortschreitenden Turbokapitalismus keine Pferde mehr, aber sie reiten in Gedanken trotzdem noch und sind deswegen oft schwer zu verstehen, wirken zappelig und nervös.

Die Deutschen sind ausgesprochene Waldmenschen. Alle ihre wichtigsten Geschichten, Legenden, Märchen, Sagen – ob Hermannsschlacht oder Hänsel und Gretel – spielen im Wald. Der Wald wurde hier immer als die eigentliche Heimat empfunden, als Ort, an dem die deutsche Seele zu Hause ist. In deutschen Legenden wird in den Wäldern gegen Räuber und fremde Soldaten gekämpft, Ritter verlaufen sich zwischen den Bäumen, und tapfere kleine Kinder werden von ihren Eltern schnöde im Wald ausgesetzt. Eines der beliebtesten Lieder der Deutschen ist »Mein Freund der Baum«. Die bekanntesten Bands tragen Namen wie »Rosenholz«, und überhaupt mögen die Deutschen jede Art von Holz. Die deutsche Architektur, Wohnungseinrichtungen, Kneipen – alles strotzt vor Holz. Asketischer Pragmatismus verbindet sich hier mit einer speziellen »Gemütlichkeit«, indem er viele nützliche und unnütze Dinge auf engstem Raum verteilt, immer in Griffweite. Dazu möglichst viele kleine Vorratskammern, die einem die Möglichkeit geben, viel Proviant für später zu verschachteln. Und als Ergänzung kleine Glöckchen an den Türen zu engen, hohen Räumen. Wer schon einmal eine Eichhörnchenhöhle von innen gesehen hat oder sich vorstellen kann, wie Eichhörnchen leben, wird diese Lebenseinstellung sofort wiedererkennen. Und wenn die Seele der Russen die Steppe ist, mit ihrer trügerischen Endlosigkeit und Weite, so ist das Herz der Deutschen der Wald. Der Wald im Herzen erzeugt ein Gefühl von Gemeinsamkeit, er macht die Menschen höflich, sie geben einander gerne die Hand. Abends verlassen sie ihre Bäume, um in einer speziellen Kneipenhöhle ein paar Biere zu trinken.

Die Waldmenschen geben mit ihren Bäumen nicht an, schließlich sehen alle Bäume einander sowieso ähnlich, selbst wenn einer etwas dicker als der andere ist. Wenn Waldmenschen ihre gemütliche Gegend verlassen, in den Urlaub an den Strand fahren oder zur Abwechslung in die Berge klettern, sehen sie dabei oft komisch aus, wie Eichhörnchen in der Wüste. Am Strand werden die einen unruhig, andere dagegen verfallen in eine Starre und bauen sich schnell eine Art Baum, mit dem sie sich von der Außenwelt abschotten – die berühmten deutschen Sandburgen. Auch im Schnee wirken die Waldmenschen fehl am Platz. Sie starren den Schnee an, streicheln ihn, finden ihn eigentlich ganz toll, können aber nichts damit anfangen.