Deutsch Limpopo
Seit meiner Kindheit faszinieren mich Orte mit exotischen Namen. Deswegen freute ich mich, als eine Einladung zu einer Lesung nach Lemgo kam. Lemgo hörte sich exotisch an wie alle Orte mit einem »o« am Ende, wie Kongo, Toronto, Acapulco oder Limpopo. Das »o« im Namen einer geografischen Einheit steht normalerweise für Romantik und Abenteuer, so wie das »a« am Ende des Namens ein Hinweis für Ödland ist. Lemgo hörte sich richtig gut an. Ich stellte mir ein altes Städtchen am Rande eines großen Flusses vor, in dem möglicherweise noch das Matriarchat herrschte – große kräftig gebaute Frauen jagten kleine grüne Süßwasserkrokodile im Lemgoischen Busen. Abschließend stellten sie ihre Speere zu einem Grill zusammen, drehten die Reptilien über dem Feuer, aßen, tranken und tanzten.
Ich war mir ziemlich sicher, dass Lemgo irgendwo in Afrika lag, schrieb jedoch, um sicherzugehen, kurz an den Veranstalter zurück: »Sehr gerne komme ich zu Ihnen, nur wo ist Lemgo? Soll ich einen Regenschirm oder eine Sonnenbrille einpacken?«
»Grob gesagt, liegt unsere Stadt zwischen Bielefeld und Hannover, in der ostwestfälischen Provinz«, klärte man mich auf. Und dass die Veranstalter sich freuen würden, mich einmal in ihrem »Kesselhaus« begrüßen zu können. »Leider ist unsere kleine Stadt kulturell gesehen ein ziemliches Ödland, aber wir – meine Frau und ich – haben jetzt Räumlichkeiten angemietet, um das kulturelle Leben in der Region etwas anzukurbeln.«
Es hat mich leicht irritiert, dass Lemgo nicht afrikanisch, sondern ostwestfälisch war, für einen Rückzieher war es jedoch zu spät. Zwei Wochen später löste ich eine Fahrkarte nach Bielefeld, um von da aus weiter mit der Regionalbahn nach Lemgo zu pendeln. Wie die Stadt zu ihrem exotischen Namen gekommen war, konnte ich nicht erfahren. Ich glaube, früher hieß Lemgo einfach Lemga, bis ein Beamter aus Scherz die Stadt umbenannte.
Schon im Vorfeld der Reise, als ich den Termin für die Lesung in Lemgo auf meine Internetseite setzte, bekam ich Unterstützung von Kollegen aus Berliner Kulturkreisen. Entweder kamen sie aus Lemgo, hatten einmal in der Nähe von Lemgo gewohnt, waren schon einmal in Lemgo umgestiegen, oder sie hatten jemanden aus Lemgo geheiratet. Ich erfuhr unter anderem, dass auch der letzte deutsche Bundeskanzler aus Lemgo stammte bzw. irgendwo dort um die Ecke wohnte und in Lemgo seine für das Bundeskanzlersein notwendige Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann im dortigen Eisenwarengeschäft absolviert hatte.
Am Bahnhof angekommen rief ich die Veranstalter an, da es dort aufgrund der Größe der Stadt keine Taxis gab. »Ich bin gleich da«, sagte der Veranstalter, und zwanzig Sekunden später hielt sein Bus vor dem Bahnhofsgebäude. Ich hatte schon früher bemerkt: Je kleiner eine Stadt, desto größere Autos fahren ihre Bewohner. Doch vielleicht brauchte mein Veranstalter den Bus tatsächlich, um etwas größere Kulturgüter zu transportieren, Rockbands oder Tanzkollektive z.B. Er war auch selbst ein großer Mann und spielte in der Stadt eine wichtige Rolle. Sein Kulturprojekt überlebte in erster Linie damit, dass er die Räume an den Wochentagen preiswert seinen Mitmenschen für private Feiern, Geburtstage und Hochzeiten vermietete. Die Restaurants in Lemgo, die einen solchen Service anboten, waren alle pleitegegangen. Sie waren zu teuer und erlaubten den Besuchern außerdem nicht, ihr mitgebrachtes Essen zu vertilgen. Die Westfalen mögen kein Schickimicki, sie stehen auf Hausmannskost. Am liebsten essen sie aus verwandter Hand, also das, was ihre Mutti, Schwester, Frau oder Geliebte gekocht hat. Deswegen gehen alle Restaurants, die vom Wurst- und Bratkartoffel-Konzept abweichen, in der Gegend ein. Aber feiern tun die Westfalen trotz ihrer kleinen Macken sehr gerne. Und diese Marktlücke hat mein Veranstalter ausgenutzt.
Den Anschluss an die Tourismusbranche hat Lemgo noch nicht wirklich gefunden. Um Touristen wird in Deutschland immer härter gekämpft, deswegen sind sie sehr anspruchsvoll und fahren nicht einfach irgendwo hin, nur um eine Kirche zu bestaunen. Sie werden von deutschen Stadtverwaltungen mit so einmaligen Skurrilitäten und Wundern angelockt wie einem ganzjährigen Weihnachtsmarkt in Rothenburg ob der Tauber, den heiligen Reliquien des Bonifatius in Fulda oder mit dem Brunnen der ewig währenden Jugend in Rostock. Die Lemgoer haben in diesem Reigen zwei Trümpfe, mit denen sie die Touristen schlagen könnten: die Hexenverbrennungen im 15./16. Jahrhundert und das berühmte Schlitzhaus der Liebe.
Bei den Hexenverbrennungen zu Beginn der Neuzeit soll Lemgo angeblich Marktführer gewesen sein. Die Wände des mittelalterlichen Holzhotels Palais schmücken noch immer unzählige Lithographien, auf denen ältere Männer mit Bärten nachdenklich in die Ferne schauen, während hinter ihrem Rücken die Frauen verglühen. Es musste irgendwo in der Stadt auch noch ein Hexenmuseum geben, doch es schien mir keine besonders ernstzunehmende Touristenattraktion zu sein. Den Gesetzen der Branche folgend, hätten die Lemgoer die Tradition aufnehmen und im Sommer Open-Air-Hexenverbrennungslichtspiele vor dem Rathaus veranstalten sollen. Aber dafür waren sie anscheinend nicht ehrgeizig genug. Zum Glück.
Die andere Sehenswürdigkeit der Stadt, das Schnitzhaus der Liebe, hat ebenfalls eine traurige Geschichte als Hintergrund. Laut einer Legende brannte einem Hausherrn die Frau durch. Aus Langeweile und um seinen Verlust zu kompensieren begann er, am Haus und an den Möbel herumzuschnitzen. Er schnitzte geduldig bis zu seinem Tod. Man munkelt, dass er auch den Sarg für sich selbst geschnitzt habe. Was für eine verklemmte Seele!
Nach der Lesung im Kesselhaus bekam ich meine Gage und einige kleine Geschenke vom dankbaren Publikum: zwei Flaschen Wacholderlikör aus dem Hause Wippermann – einer Familie, die sich angeblich seit 1836 mit der Herstellung dieser Flüssigkeit beschäftigt – dazu noch eine harte westfälische Mettwurst und eine weitere Wurst aus der Region, deren Name nicht auf der Packung stand. Außerdem bekam ich einen Gedichtband eines heimischen Dichters und eine Slam-Poetry-Anthologie aus der Gegend. Ich bedankte mich artig, packte die Geschenke ein und ging los, um mein Hexenhotel Palais zu suchen. Ich fragte den Veranstalter nach dem Weg. Die Stadt wirkte vertraut und übersichtlich, dennoch verlief ich mich bereits nach zehn Minuten. Lemgo war finster und menschenleer. Die Straßen waren schlecht beleuchtet, und um zweiundzwanzig Uhr war nicht ein einziger Fußgänger zu sehen, den ich um Hilfe bitten konnte. Alle Fenster waren dunkel, alle Gardinen zugezogen. Nicht einmal ein Betrunkener lief mir über den Weg. Nur ein paar Autos fuhren ab und zu mit Autobahngeschwindigkeit an mir vorbei. Die Fahrer wussten, dass die Wahrscheinlichkeit, in Lemgo um diese Zeit jemanden zu überfahren, gleich null war.
Na klar, dachte ich, auf dem Bürgersteig frierend. Überall auf der Welt gehen die Männer aus, um sich in Ruhe einen hinter die Binde zu kippen, ohne Frauenkontrolle. Und die Frauen gehen aus, um auf die Männer aufzupassen und ihnen eine sichere Heimkehr zu gewährleisten. Die Lemgoer haben das mit ihren Frauen noch im 15./16. Jahrhundert geklärt. Sie müssen nicht mehr aus dem Haus. Sie saufen zu Hause, und wenn das Bier alle ist, dann schnitzen sie.
Tief in der Nacht begegnete ich doch noch einem sympathischen alten Trinker. »Holzhotel Palais?« Er torkelte hin und her und wippte mit der Zigarette. »Gehste geradeaus, immer geradeaus, an den Häusern entlang, nach zehn Minuten siehst du’s dann auf der rechten Seite, kannste nicht verfehlen, ist ja alles eine Straße.«