Die Altlastenablagerungsstellen

Der Gesundheitswahn breitet sich wie ein Virus in Deutschland aus. Überall auf den Straßen laufen einem Menschen in Sportanzügen entgegen, die besorgt auf die Uhren schauen und selbst vor einer roten Ampel auf der Stelle herumzappeln. Sie können keine Sekunde lang stehen bleiben. Die Autos in der Stadt dürfen keine Gifte mehr ausstoßen, im Lebensmittelladen wird nicht einmal mehr eine Gurke ohne ausführliche Geburtsurkunde gekauft. Wo kommt sie her? Wer waren die Eltern? Wer hat sie nach Deutschland geschleppt und warum? Der Gurkenesser will alles über die Gurke wissen, bevor er sie verspeist. Eine neue heile Welt entsteht direkt vor der Haustür. Die Übergewichtigen, die Säufer, dieses ganze unsportliche Pack raucht nervös an der Ecke. In dieser Welt haben die Jogger und die Blogger das Sagen.

In der Schule meiner Kinder fängt jeder Tag mit Sportunterricht an. Bei den Schulwürstchen, den Aufläufen, den Klopsen, dem ganzen Angebot der Schulkantine wird mit großen Fußnoten im Menü darauf hingewiesen, wenn die Gerichte irgendwelche Farbstoffe oder andere gesundheitsschädigende Komponenten enthalten. So weit ist es schon gekommen, dass Kinder-Vegetarier eine Sonderschlange beim Mittagessen bilden. Und neulich erzählte mir meine Tochter, wie einmal direkt vor ihrer Schule ein großes Auto mit roter Plakette gestanden und fürchterlich gestunken habe. Alle Kinder auf dem Hof hätten sofort Hustenanfälle bekommen, als sie die Plakette gesehen hätten, und wären mit tränenden Augen davongerannt.

Wenn ich mir die Geschichten meiner Kinder anhöre, wundere ich mich jedes Mal aufs Neue und frage mich, wie es nur möglich war, dass wir – und mit »wir« meine ich alle Landsleute, die heute älter als dreißig sind – überhaupt überlebt haben. Wir wohnten in Häusern mit Wasserleitungen aus Blei und Wänden aus Asbest. Die Möbel in unseren Zimmern waren oft mit giftigen Lacken und Farben imprägniert, und einmal an einem Kleiderschrank zu lecken, bedeutete den sicheren und qualvollen Tod. Wir spielten mit leicht brennbarem Spielzeug, und die Ping-pong-Bälle, die wir in der Schultoilette anzündeten, verwandelten sich in stinkende Rauchwolken. Es gab keine Kindersicherung an den Steckdosen, und unsere Schulwürstchen bestanden zu neunzig Prozent aus Farbstoffen, und niemand wusste, woraus die restlichen zehn Prozent waren. Die Lkws auf den Straßen unserer Kindheit hinterließen schwarze Wolken, die noch Tage danach die Luft verpesteten. Das Wasser in den Flüssen, in denen wir schwimmen lernten, glitzerte in der Sonne in allen Farben des Regenbogens und roch süßlich nach Benzin.

Man tat allerdings auch damals schon einiges für die eigene Gesundheit. Ein warmes Bügeleisen auf dem Rücken galt als das sicherste Mittel gegen Hexenschuss. Aus Holzmehl gebrannten Wodka nahm man mit viel Pfeffer und Honig gerne gegen Erkältung ein. Kohlblätter halfen gegen Gelenkschmerzen, und auf Wunden wurde gepinkelt. Frauen nutzten Bier als Haarfestiger, und Männer tranken am frühen Morgen Gurkenmarinade gegen ihren Kater. Wir bastelten Wasserkocher aus Rasierklingen und Ladepfropfen aus alten Filzschuhen. Und was wir in unserer Jugend getrunken, was wir geraucht haben! Furchtbar! Ein Tropfen Portwein hinterließ Löcher in der Tischdecke, in den sowjetischen Papirossi, die man ab zwölf kaufen durfte, knackte es beim Glühen, und manchmal fielen dunkle Teile heraus, die nicht nach Asche aussahen. Trotzdem haben wir überlebt, wir sind sozusagen mit einem leichten Schnupfen davongekommen.

Bis heute hinkt meine alte Heimat in Sachen Gesundheitswahn Deutschland hinterher. In russischen Großstädten beginnen die Menschen erst allmählich, sich beim Fahren ab und zu anzuschnallen und Alkohol nach Kalorientabellen auszuwählen. Deutschland ist dagegen ein einziger ökologischer Wanderweg geworden. Gesundheitsgefährdendes wird man hier bald nur noch in Museen bewundern können. Bestimmt werden diese Museen sich bei der Bevölkerung großer Beliebtheit erfreuen und zu den Hauptsehenswürdigkeiten der Städte gehören. So wie in Nordhausen, einer kleinen thüringischen Stadt am Fuße des Harzgebirges.

Ich war zu einer Lesung im Operntheater dorthin eingeladen worden. Die dortige Buchhändlerin hatte früher an der sozialistischen Gaspipeline Druschba am Abschnitt Urengoj – Pomary – Uschgorod gearbeitet. Diese Pipeline zog sich von Sibirien über die Ukraine bis in die Tschechoslowakei und sollte einmal um die Erde herum gelegt werden. Sehr viele Ostdeutsche haben bei dieser »Großbaustelle des Sozialismus« mitgemacht. Einmal im Jahr treffen sie sich nun irgendwo bei Leipzig in einem Gasthof und hängen dort mehrere Tage lang am Kronleuchter – schweben sozusagen in Erinnerungen: ein Klassentreffen der besonderen Art.

Aber hier soll es um Nordhausen gehen. Zu den wichtigsten Attraktionen dieser kleinen Stadt zählten neben einem eigenen Operntheater und der Buchhändlerin, die an der Druschba-Pipeline gearbeitet hatte, ein Doppelkorn- und ein Tabakmuseum. Man hat in Nordhausen schon immer, seit fünfhundert Jahren, um genau zu sein, Korn gebrannt. Und man hatte vor, auch weiterhin dort Korn zu brennen, egal was kam. Deswegen lautete hier die Parole »Tradition mit Zukunft«. Die Brennerei hatte alle Winkelzüge der europäischen Geschichte einigermaßen gut überstanden, obwohl den Nordhäusern nichts erspart geblieben war. Am Ende des Zweiten Weltkrieges, im April 1945, war Nordhausen von Alliierten zu achtzig Prozent zerbombt worden, ohne dass es dort irgendwelche nennenswerten militärischen Ziele gegeben hätte. Die Alliierten hatten anscheinend noch zu viele Bomben übrig, die sie nicht zurück nach Hause schleppen wollten. Die Brennerei wurde aber schnell wieder aufgebaut. Die Wende und die danach kommende flächendeckende Abwicklung der ostdeutschen Betriebe im Zuge der Schaffung blühender Landschaften hat die Brennerei auch beinahe unbeschadet überstanden. Die Stadtbevölkerung war nicht geschrumpft, und die Abwanderung hielt sich in Grenzen, obwohl die anderen Betriebe und Fabriken in der Region dichtmachten. Die Brennerei gab sich geschickt dem Großinvestor Rotkäppchen anheim, einer anderen alkoholhaltigen Erfolgsgeschichte aus dem Osten.

Ich glaube, das Doppelkornmuseum hält die Menschen hier zusammen. Es ist kein langweiliges Museum, sondern eins, das man immer wieder besuchen will. Nach einer schnellen trockenen Führung durch die Keller der Brennerei findet eine Verkostung mit der eigenen Produktion statt. Später kann die Runde wiederholt werden. Auch ein Besuch zwischendurch im Tabakmuseum lohnt sich. Vor der Wende befand sich hier eine große Tabakfabrik, die ein Drittel des gesamtostdeutschen Bedarfs an Rauch-, Schnupf- und Kautabak lieferte. Heute ist daraus ein »Museum zum Anfassen und Mitmachen« geworden, wie es im Touristenprospekt heißt. Die alten Mauern der Tabakfabrik wirken wahrscheinlich wie Nikotinpflaster: Wer sich dort an die Wand anlehnt, braucht zwei Wochen lang keine Zigaretten mehr.

Oh, wie viele wunderbare Entdeckungen hält Mitteldeutschland noch parat für jemanden, der zufällig vom Wanderweg abgekommen ist.