Würzburg

Auf halber Strecke zwischen Bayreuth und Meiningen landete ich in Würzburg, einer schönen alten Stadt mit allerlei Schlössern, Weinbergen und einem Weltkulturerbe – der Residenz. Überall in Bayern fanden Kommunalwahlen statt, schon in Bayreuth sah ich dazu Sammelwahlplakate, von denen einem gleich drei Dutzend Kandidaten entgegenlächelten. Diese Wahlplakate erinnerten mich an Klassenfotos, wobei in dieser Klasse ein paar extrem alt gewordene Schüler saßen und mindestens ein Wunderkind, das deren Enkel sein könnte.

In Würzburg stach einem die Kommunalwahl besonders heftig ins Auge. Die ganze Stadt war mit Wahlplakaten in allen Farben des Regenbogens zugeklebt. Man hatte das Gefühl, jeder zweite Zahnarzt und jede erste Hausfrau wollte in Würzburg Bürgermeister oder mindestens Stadtrat werden. Die meisten vertraten keine Partei, waren also ideologisch nicht verbohrt. Sie kandidierten auf unzähligen Bürgerlisten mit wenigsagenden Wahlslogans wie »Gerechtigkeit und Transparenz« oder »Frischer Wind für Würzburg«. Meine Meinung zu solchen politischen Programmen war gespalten. Einerseits kann frischer Wind sicherlich nicht schaden. Andererseits hinterließ der Wunsch nach mehr »frischem Wind für Würzburg« bei mir eine merkwürdig unhygienische Vorstellung, als ob dort jemand dauernd gefurzt hätte.

Was wollen all diese Menschen mit ihrer Stadt anstellen?, überlegte ich, an den Reihen der lächelnden Stadtratskandidaten vorbeimarschierend. So viel Politik traute ich Würzburg gar nicht zu. Eine ruhige, für Barock- und Weinliebhaber attraktive Stadt. Irgendwelche sozialen Brennpunkte waren nicht auszumachen. Selbst in Bayreuth konnte man ein bisschen politischen Sprengstoff vermuten, wenn auch nur mit viel Phantasie. Die sozialen Brennpunkte würden sich dort sicher zumindest mit einem Vergrößerungsglas finden lassen. Allein schon die Dönerbude »Parsifal« mit einem aufgemalten lustigen Männchen beeindruckte. Man stellte sich sofort einen modernen Ritter vor, der, mit einem Dönerspieß statt einem Schwert bewaffnet, durch die Wälder irrte, um auf diese Weise seine möglichen Feinde auf Distanz zu halten. Man konnte sich leicht allerlei lustige Wahlplakate für eine politische Auseinandersetzung in Bayreuth vorstellen: »Kriminelle Nibelungen raus« zum Beispiel. Oder »Nieder mit Wagner, es lebe Puccini« oder einfach »Schluss mit der Oper«.

Aber Würzburg? Hier war nie groß etwas gewesen, keine Industrie, dementsprechend keine Wirtschaftsflüchtlinge, keine Ausländer, kein Wagner. Die Uni ist der größte Arbeitgeber der Stadt, das muss doch ein Gefühl der Sicherheit vermitteln. Die Uni ist nicht Nokia, sie zieht nicht um, sie geht nicht pleite. Weinanbau findet hier praktisch mitten in der Stadt statt, und auf Alkohol ist immer Verlass, es ist ein solides Unternehmen. Zusammen sorgen die Rebstöcke und die Studenten in Würzburg für ein aufregendes Kulturleben. Wenn die Wappen in Deutschland neu zu entwerfen wären, würde ich für Würzburg einen von einer Weinrebe umwickelten Studenten vorschlagen. Die Winzer hier machen einen ehrlichen Weißwein, dessen guter Ruf weit über die Grenzen Deutschlands reicht. Wozu noch politische Intrigen?

Abends saß ich mit meinem Würzburger Bekannten bei einer Verkostung der einheimischen Weinproduktion. Das Gespräch kam unweigerlich auf die bevorstehenden Kommunalwahlen.

»Das politische Engagement der Bürger in eurer Stadt ist unglaublich«, meinte ich. »Nach der Anzahl der Wahlplakate zu urteilen, trägt jeder Würzburger einen inneren Bürgermeister in sich. Dabei ist hier doch eigentlich alles im Lot, der Stadt geht es gut«, wunderte ich mich.

»Das stimmt nicht, das hast du völlig falsch eingeschätzt«, konterte mein Bekannter. »Würzburg hat ganz viele Probleme, die nur die Politik lösen kann. Die Uni hat zu wenig Geld, die Winzer werden unzureichend vom Staat unterstützt, außerdem haben wir hier eine Brache, ein Schloss, das nicht fertig renoviert wurde. Das hat jemand gekauft, dem dann das Geld ausging. Die Ruine sieht nicht gut aus, da muss die Politik doch eingreifen. Die CSU sagt, weiterbauen, die Grünen aber haben bereits einen Antrag beim Bund zum Schutz seltener Tierarten gestellt, weil sich in dem alten Schloss angeblich mittelfränkische Fledermäuse eingenistet haben. Die wurden bis jetzt nur von den Grünen gesichtet, weil die CSUler wahrscheinlich längst schlafen, wenn die Fledermäuse ausfliegen. «

Wir stießen auf die Fledermäuse an, und ich musste lachen: »Wegen einer einzigen Ruine dieser ganze Salat? Leute, ihr schätzt nicht, was ihr habt! Ihr wohnt in einer sauberen, gepflegten Stadt mit feiner unterfränkischer Küche und hauseigenen Weinen, ihr badet im Barock, ihr seid von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt, was wollt ihr mehr? Sollen doch die Stadträte in spe weiter ihre eigentlichen Berufe ausüben. Auf den Plakaten war bei den Kandidaten oft ein Titel zu lesen: Herr Dr. phil. oder Frau Dr. med. Hat sie etwa keine Patienten mehr?«

»Ja, du hast schon recht«, sagte mein Bekannter, »diese Wahl ist ein bisschen wie Kindergeburtstag mit Gästelisten. Wen lade ich dieses Jahr ein, wen lade ich aus? Die Stadt ist klein, bei mehreren hundert Kandidaten ist es so, dass jeder Bürger mindestens einen Kandidaten persönlich kennt. Zum Beispiel weiß ich, dass meine Nachbarin aus dem dritten Stock kandidiert. Ich wohne im Erdgeschoss. Ihr Dackel hat mir bereits zweimal in die Blumen geschissen, also weiß ich: Die wähle ich schon mal nicht. Die Frau kann nicht einmal mit ihrem eigenen Hund umgehen. Sie mit ihrem Dackel kommt mir auf gar keinen Fall auf den Wahlzettel.«

»Von welcher Partei ist sie denn?«, fragte ich.

»Keine Ahnung, das spielt keine Rolle«, klärte er mich auf. »Die Parteien bedeuten hier nicht viel, es wird nach Visagen, nach Bekanntschaften und Charaktereigenschaften, nicht nach Parteizugehörigkeit gewählt. Viele Kandidaten kommen von den Bürgerlisten. Parteilosigkeit ist in. Vorletztes Mal hat hier einer von einer solchen Liste gewonnen, und letztes Jahr kam noch ein weiterer in die engere Stichwahl, das hat vielen Mut gemacht, sich als unabhängige Kandidaten aufstellen zu lassen. Auch viele Hausfrauen, die es satthaben, zu Hause zu sitzen, gehen in die Politik, um sich vor der drohenden Bedeutungslosigkeit zu retten. Was sollen sie sonst tun, wenn die Kinder erwachsen und aus dem Haus sind? Ihre Ehemänner gehen vermutlich aus demselben Grund in die Politik, um nicht mit ihren Frauen jeden Abend vor der Glotze zu sitzen. Dann treffen sich beide plötzlich im Stadtrat und machen einander die Hölle heiß mit ›Gerechtigkeit und Transparenz‹«, lächelte mein Freund.

Wir stießen auf die Stadträte, ihre Frauen, auf Fledermäuse, auf die UNESCO, auf die Gerechtigkeit und die Transparenz an.

Am nächsten Tag verließ ich Würzburg mit einem leichten Kater in Richtung Thüringen. Der Zug schaukelte hin und her, ich saß am Fenster und beobachtete die herrlich öde winterliche Landschaft. Während der ganzen Strecke bis Schweinfurt konnte man keinen einzigen Baum, kein Haus oder Auto sehen. Nur kahle verschneite Felder mit undefinierbaren Gemüseresten drauf und Winterhasen, die unheimlich schnell und hoch neben den Gleisen hin und her sprangen, überhaupt sehr engagiert und sportlich wirkten. An einer Stelle fuhren wir an einem adlerähnlichen Vogel vorbei, er saß regungslos mitten im Feld und wartete auf Beute.

In Meiningen gab es keine Kommunalwahlen. Die an die Häuser und Werbewände geklebten Plakate luden zum »Russischen Zirkus« ein, der gerade in der Stadt gastierte. Die Transparente im Schaufenster des Reisebüros lockten mit »Sonne und Mehr«, und die Speisekarte vor dem Ratskeller versprach eine delikate Schweinesülze zum Valentinstag.