Gott muss Fußballer lieben
In meiner sowjetischen Schule habe ich meine Hausaufgaben immer in der Pause zwischen den Lehrstunden gemacht, wobei ich kein besonders begabter Schüler war. Die besonders begabten Schüler erledigten bei uns die Hausaufgaben direkt im Unterricht, noch während die Lehrerinnen sie diktierten. Mit gutem Gewissen gingen wir nach der letzten Stunde gleich auf den Hof Fußball spielen. Wir spielten ohne Zeitlimit, ohne Tore und manchmal sogar ohne Ball, alle rannten allen hinterher. Die unfertigen Hausaufgaben nach Hause zu schleppen, galt als schlechter Stil.
Das deutsche Gymnasium meiner Kinder schafft es aber locker, nicht nur die Kinder selbst, sondern auch deren Eltern, deren Großeltern und das ganze Internet täglich mit Hausaufgaben zu füttern. Noch anspruchsvoller ist angeblich der Unterricht selbst, zu dem wir Gott sei Dank nicht hin müssen. Die Fremdsprachenlehrer im Gymnasium, berichten meine Kinder, sprechen nur Fremdsprachen, auch wenn sie keiner versteht. Die Mathelehrerin ist Professorin, sie versteht sich nicht einmal selbst. Die Kunstlehrerin war früher nach eigener Auskunft eine sehr erfolgreiche Kunsttherapeutin in einer Irrenanstalt. Die Schüler durften sich bei ihr gegenseitig bemalen, damit sie sich mit den Augen eines anderen sahen. Die Kunstlehrerin betreibt außerdem Kommunikationstraining. Sie sagt, dass in jedem Menschen zwei weitere Ichs stecken, die ihm ständig ins Wort fallen. Du, wie du dich selbst siehst; du, wie dich die anderen sehen, und du, wie du wirklich bist. Nun sind die Kinder schwer beschäftigt, ihre drei Ichs auseinanderzuhalten.
Aber am anspruchsvollsten ist natürlich der Sportunterricht. Deutschland ist sowieso ein Land der Fitness, hier werden schon im Kindergarten olympische Disziplinen trainiert. Anders als im antiken Griechenland, wo die olympischen Sieger mit einer lebenslangen Rente ausgezeichnet wurden und für den Rest ihres Lebens auch keinen Sport mehr treiben mussten, kann man in Deutschland beim Sportunterricht höchstens eine Invalidenrente gewinnen, wenn man vom Brett fällt oder wie mein Sohn neulich beim Hürdenlauf voll auf die Nase knallt. Meine Tochter ist beim Kugelstoßen beinahe selbst weggeflogen, die Kugel blieb liegen. Wozu, bitte schön, müssen Kinder Kugelstoßen können? Warum dürfen sie nicht ohne Hürden laufen? Diese Fragen bleiben ohne Antwort. Mit einem beinahe religiösen Eifer begeben sich die Menschen hierzulande in Sportstudios und Fitnessclubs. Sportlich sein ist in Deutschland die Voraussetzung jeden Erfolges. Sport ist Medizin gegen alle Krankheiten, die Lösung für alle Probleme.
Gott liebt Sportler. Das habe ich zufällig erfahren, als ich einmal im Westerwald in einem sogenannten Sporthotel übernachtete. Ich konnte dort lange nicht einschlafen. In der Minibar meines Zimmers standen nur energiespendende Getränke. An den Wänden hingen Fotos von fröhlich schwitzenden Männern und Frauen, die gerade hervorragende Sportleistungen erbracht hatten. Eine Mappe mit detaillierter Beschreibung aller Joggingrouten rund um das Hotel lag auf dem Tisch. Wenn man fünf Minuten in dem Sportzimmer gelegen hatte, wollte man nichts als raus und so schnell wie möglich fünf Runden um das Hotel laufen. Ich konnte mich mit letzter Kraft noch bremsen und holte stattdessen die Bibel aus dem Nachtschrank. Es war eine spezielle Ausgabe: »Mit vollem Einsatz ins neue Testament« hieß sie und war mit neuen, mir unbekannten Texten angereichert: mit Berichten internationaler Spitzensportler darüber, wie wichtig ihnen ihr Glaube war. Das Testament kannte ich mehr oder weniger, deswegen konzentrierte ich mich auf die neuen Berichte. Man bekam darin vermittelt, dass Gott Sportler liebte und sie es ihm in gleicher Münze zurückzahlten.
»Alles, was ich kann, habe ich Gott zu verdanken. Und ich kann nur Fußball«, sagt da z.B. ein Fußballspieler. »Das heißt, Gott muss Fußball lieben«, schlussfolgert er. Ein Synchronschwimmer erzählte, dass er sich im Wasser wie im Himmel fühlte, und ein Basketballspieler meinte, er hätte von Jesus gelernt, Niederlagen wegzustecken und mit seinen Nächsten respektvoll umzugehen: »Früher hasste ich meine Mitspieler, ich fand sie allesamt arrogant, eingebildet, blöd. Doch bei Jesus lernte ich, meinen Nächsten zu lieben. Seitdem geht es mit mir und der Mannschaft aufwärts.«
Es scheint, dass Gott Mannschaftsspiele ganz besonders liebt. Er will wahrscheinlich, dass wir wie auf dem Fußballfeld meiner Kindheit hintereinander herrennen, notfalls ohne Ball, ohne Pause und ohne Tore.