Die Lugente und der japanische Polizist

Die Klasse meiner Tochter besuchte im Deutschunterricht die Redaktion einer großen Zeitung, um die Wortarbeiter direkt an ihrem Arbeitsplatz zu bewundern. Sie wurden von einem freundlichen molligen Mann in Empfang genommen und durch fast alle Abteilungen der Zeitung geführt. Die Kinder besuchten die Ressorts Politik, Wirtschaft und Finanzen, nur der Abteilung Kultur durften sie nicht nahe kommen – wegen der Sensibilität der Kulturmitarbeiter. Die würden sich zu sehr aufregen, wenn sie so viele Kinder sähen, erklärte der Mollige. Die Schüler konnten die Kultur also nur aus der Ferne beobachten, dabei sahen sie, dass die Kulturmitarbeiter, anders als ihre Kollegen aus Wirtschaft und Politik, alle ein eigenes kleines Bürochen besaßen.

»Man darf sie nicht in einem Zimmer zusammenbringen«, erklärte der Mollige. »Sonst fangen sie sofort an, über Kultur zu streiten bzw. endlos zu diskutieren und werden dann nie vor Redaktionsschluss fertig. Kultur ist eine individuelle Angelegenheit«, meinte er, während die Meinungen über Wirtschaft, Finanzen und Politik am besten in einem gemeinsamen Raum ausdiskutiert wurden. »Die wichtigsten Seiten jeder Zeitung bestehen aber nicht aus Diskussionen und Meinungen, sondern aus Werbeanzeigen«, meinte der Mollige, der selbst in der Werbeabteilung der Zeitung arbeitete. »Diese Annoncen sind das tägliche Brot jeder Zeitung, ihr Hauptgewinn. Nicht die Kultur, die Annoncen ernähren die Mitarbeiter«, bemerkte er und zwinkerte den Kindern zu. »Die wichtigste Seite unserer Zeitung ist zur Zeit eine Doppelseite mit Aldi-Werbung für schönen Käse, Katzenfutter und Wurst, alles sehr preiswert und gut fotografiert. Für diese Seite zahlt Aldi zehntausend Euro. Erscheint die Zeitung dreißigmal im Monat, kommt da eine beträchtliche Summe zusammen. Die Mitarbeiter von Kultur, Finanzen oder Politik können dann einkaufen gehen, Käse, Katzenfutter und Wurst. Zum Glück wissen sie aus ihrer eigenen Zeitung, wo sie das alles preiswert kriegen.«

Unten in der Lobby stand ein Souvenirkiosk voller Plüschtiere, vor allem Enten gab es dort jede Menge.

»Wenn die Mitarbeiter der Zeitung merken, dass sie zu spät nach Hause kommen, kaufen sie ihren Frauen und Kindern zur Entschuldigung ein Plüschtier«, erklärte der Mollige. »Zum Beispiel eine Zeitungsente, um damit ihrer Liebsten zu sagen: ›Siehste, ich habe die ganze Nacht gearbeitet und dabei nur an dich gedacht.‹«

Nebenbei erfuhr meine Tochter auch noch, dass der Begriff »Zeitungsente« Falschmeldung bedeutete und aus dem Englischen kam – von der Abkürzung für »not testified«. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten die Alliierten angeblich den deutschen Zeitungen misstraut und sie gezwungen, unter viele Artikel den Hinweis »N.T.« zu setzen, was sich wie Ente anhörte, so hat es mir Nicole nacherzählt.

»Das kann nicht stimmen«, wandte ich ein, »denn im Russischen wird die Falschmeldung ebenfalls Ente genannt. Haben etwa die Russen ihre Ente von den Nachkriegsdeutschen übernommen? Das kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen.«

Wir recherchierten dazu im Internet. Unsere Recherche ergab, dass es unglaublich viele »Enten« gab. Die einen schrieben, Martin Luther habe einmal in einer pathetischen Rede, um die Lügen einer Legende zu entlarven, diese »Lugende« genannt, woraus später eine Lug-Ente wurde. Die anderen erzählten von einem Belgier, der einmal aus Spaß eine Falschmeldung über die Gefräßigkeit von Enten verbreitet habe. Laut seinem Bericht habe eine Ente vor mehreren Augenzeugen neunundzwanzig ihrer Artgenossen verspeist. An diese Ente haben sehr viele geglaubt. Warum aber ausgerechnet ein solcher Knutschvogel wie die Ente zum Inbegriff der Unglaubwürdigkeit wurde, haben wir nicht herausbekommen.

Die Einfälle der Menschen sind manchmal wirklich schwer nachzuvollziehen. Für Betrug muss bei ihnen eine Ente stehen, für tragische unvorhergesehene Umstände zum Beispiel immer der Nachbar. In Deutschland habe ich mehrmals den Ausdruck gehört: »Wenn die Kosaken kommen«, d.h. im Falle äußerster Not. Die Polen haben für unvorhergesehene traurige Umstände die Redewendung »v raze nemza«, was so etwas wie »im Falle eines Deutschen« bedeutet, und die Russen sagen zu einer unerwarteten Katastrophe »Ach, du japanischer Polizist«. Die Wurzeln der meisten dieser Redewendungen sind im Dunkeln der Geschichte verloren gegangen, nur über den japanischen Polizisten weiß ich zufällig Bescheid.

Im 19. Jahrhundert wurde der letzte russische Zar, Nikolaus II., damals noch ein junger Prinz, von seinem Vater auf eine weite Reise geschickt. Als Erster aus der Zarenfamilie besuchte Nikolaus Japan, und anfänglich begeisterte ihn das Land sehr, vor allem die Geishas, von denen ihm die russischen Seemänner erzählten. Als erster und letzter russischer Zar ließ er sich ein Tattoo machen, einen farbenfrohen Drachen auf dem linken Unterarm.

Bei einem feierlichen Empfang des Prinzen in Nagasaki sprang dann allerdings ein japanischer Polizist, der an der Absperrung stand, völlig unerwartet auf Nikolaus zu und schlug ihm kräftig mit dem Säbel von hinten auf den Kopf. Die japanische Regierung war über den Vorfall entsetzt, der traditionellen japanischen Gastfreundschaft war großer Schaden zugefügt worden. Umgehend entschuldigte sich der Kaiser persönlich bei Nikolaus, und eine junge Dame erstach sich aus Protest gegen das Attentat mit einem Dolch. Der zukünftige Zar Nikolaus trug ein Loch im Hinterkopf davon, tat nach außen aber so, als wäre er nicht nachtragend, fuhr jedoch schnell in seine Heimat zurück.

Wie sich später herausstellte, behielt er den japanischen Polizisten allerdings in seinem verletzten Kopf und begann fünfzehn Jahre später einen Krieg gegen Japan, den er schnell verlor. Russland ging damals bereits mit seiner ersten Revolution schwanger, und täglich kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei. In dieser Zeit kursierte in Moskau ein Achtzeiler von einem unbekannten Dichter:

Großes Unglück ist passiert,
hatten Zeitungen zu klagen,
unser Zar wurde traumatisiert,
von japanischer Polizei geschlagen.

 

Doch wie bei jeder bösen Tat
ist hier Gutes vorzutragen:
Auch die Zaren wissen nun,
wie hart die Polizisten schlagen.