6.

Peter von Eichenloh hockte gebeugt auf seinem Hengst, als sei er ein hochbetagter Greis. Noch am Morgen hatte der Arzt ihn davor gewarnt, so früh wieder in den Sattel zu steigen, doch für seinen Geschmack war er schon zu lange in Graz geblieben. Zudem drängte die Zeit. Es war schon längst Frühling geworden, und Kibitzstein mochte bereits gefallen sein. Der Verlust der Heimat aber würde Trudi den letzten Lebensmut nehmen. Während der letzten drei Wochen hatte sie ihn mehr an ein wildes, gefangenes Tierchen erinnert als an eine stolze Ritterstochter, und er hatte schon befürchtet, sie würde sich heimlich und ganz allein auf die gefährliche Reise nach Hause machen, obwohl sie dort nicht das Geringste bewirken konnte. Daher hatte er Quirin und Hardwin, aber auch Uta und Lampert gebeten, gut auf sie achtzugeben.

Immer wieder fragte er sich, ob er in der Lage sein würde, das Schicksal von Kibitzstein zu wenden. Wunder konnte auch er keine vollbringen, und er fürchtete, dass er zum ersten Mal auf einem Kriegszug scheitern würde. Aber er schwor sich aufs Neue, alles zu tun, was in seiner Macht stand. Mit diesem Vorsatz drehte er sich zu Trudi um und musterte sie.

Das Mädchen wirkte entschlossen und so kampfeslustig, als würden sie bereits in der nächsten Stunde den Soldaten des Würzburger Bischofs gegenüberstehen. Doch noch lagen viele Meilen zwischen ihnen und Kibitzstein. Selbst wenn sie schnell ritten und die Pferde nicht schonten, würden sie mindestens zwanzig Tage unterwegs sein.

Sein Blick wanderte weiter über seine Söldner, die er hier in Graz hatte frisch ausrüsten können. Bis auf ihn ritt jeder seiner Männer ein neues Pferd und führte sein altes zum Wechseln mit. Auch mit Waffen waren sie besser versehen als jemals zuvor, und sie besaßen Vorräte für einen langen Ritt.

»Wir sollten aufbrechen!«, drängte Trudi. Ihre Stimme verriet, wie stark die Enttäuschung in ihr nagte, weil der König ihnen keinen einzigen Soldaten mitgegeben hatte.

In der letzten Woche hatten sie Friedrich nicht einmal mehr gesehen. Wie es hieß, war er in seine andere Residenz zurückgekehrt, die näher bei Wien lag. Trudi nahm an, dass er sich dort in einer prächtigeren Kirche die Knie wund rutschte und Gott um Hilfe gegen seine Feinde bat. Von diesem König hatte sie mehr als genug, und sie begriff langsam, weshalb die Kurfürsten ausgerechnet ihm die Krone des großen Karls aufs Haupt gesetzt hatten. Da er tatenlos blieb, hatten Fürsten wie der Würzburger Bischof freie Hand, die kleinen Herrschaften in ihrer Reichweite zu bedrängen.

Beinahe tat der König ihr leid, doch sie schob dieses Gefühl rasch wieder von sich. Weder das Mitleid noch die Verachtung, die sie für diesen schwachen Herrscher empfand, halfen ihrer Familie. In ihrem Ärger wollte sie ihre Stute antreiben, um endlich den Ort hinter sich zu lassen, an dem ihre Hoffnungen wie Seifenblasen zerplatzt waren. Da öffnete sich das Portal des Palas, und mehrere Männer traten auf den Hof.

Zu ihrer Verwunderung erkannte Trudi Friedrich III., der erst vor wenigen Stunden nach Graz zurückgekehrt sein konnte, denn beim Abendessen am Vortag war sein Stuhl leer gewesen.

Der König trug einen weiten Umhang mit einem breiten Schulterkragen aus Pelz, der weniger dazu gedacht war, ihn gegen den kalten Wind zu schützen, der von den nahen Bergen herabblies, sondern seinen Rang betonen sollte. Trudi empfand das als lächerlich, neigte aber ihr Haupt. Absteigen und noch einmal vor Friedrich knicksen wollte sie jedoch nicht.

Friedrich III. schien diese Höflichkeitsbezeugung auch nicht zu erwarten, denn er befahl Peter von Eichenloh, der sich aus dem Sattel schwingen wollte, sitzen zu bleiben. Dabei lächelte er auf eine seltsame Art, so als amüsiere er sich über etwas. Dann aber machte er ein hoheitsvolles Gesicht und sprach Junker Peter an.

»Ich bedauere, dass Ihr Uns so rasch wieder verlassen wollt, doch Wir wollen Euch nicht von Eurem Ritt abhalten. Da Ihr auf dem Weg zu Eurem Ziel nach Würzburg kommt, geben Wir Euchdiese Briefe mit, damit sie sicher zu ihrem Empfänger gelangen.«

Einer der Begleiter des Königs reichte Eichenloh eine Ledertasche, auf der das königliche Wappen prangte.

Nun schien Friedrich ein Lächeln zurückhalten zu müssen. »Die Briefe sind für Seine fürstbischöfliche Hoheit, Herrn Gottfried Schenk zu Limpurg, und die Grafen von Henneberg bestimmt.

Übermittelt den Herren meine besten Wünsche!«

Beim letzten Satz biss Trudi die Zähne zusammen. Am liebsten hätte sie die Ledertasche gepackt und Friedrich vor die Füße geworfen.

Der König schien zu bemerken, was sie bewegte, denn er nahm Junker Peter ein wenig beiseite und sprach leise auf ihn ein.

»Hört mir gut zu, Eichenloh. Ihr steht vor einem Scheideweg, an dem sich Euer weiteres Schicksal entscheiden wird. Ich brauche Männer wie Euch!« Wie meist, wenn er ein vertrauliches Gespräch führte, schlug Friedrich einen persönlicheren Tonfall an und verzichtete auf das Wir und Uns, mit dem er sonst seinen Rang betonte.

Da der König einen Augenblick in die Ferne blickte, glaubte Eichenloh, er erwarte eine Antwort, und räusperte sich. Doch Friedrich sprach weiter. »Von Eurem Vater seid Ihr nach dem Streit wegen Eurer Mutter enterbt worden, und nach dessen Tod haben sich Eure Stiefmutter und deren Söhne das Erbe geteilt.

Dort habt Ihr nichts mehr zu erwarten.«

»Das ist mir bewusst, Euer Majestät. Sollen meine Halbbrüder sich um den Knochen balgen, den ihnen der Vater hinterlassen hat!« Peters Stimme klang scharf und so laut, dass Trudi es hörte und nachdenklich wurde. Sie wusste eigentlich gar nichts von ihm, wenn man von seiner Position als Anführer einer Söldnertruppe absah, und nahm sich vor, dies während ihrer Reise nach Kibitzstein zu ändern.

Der König schüttelte den Kopf. »Euer Vater hat sich schwer an Eurer Mutter versündigt, als er sie wegen angeblicher Untreue in ein Kloster steckte. Immerhin war sie königlichen Geblüts.«

»Sie war vorher schon krank und ist dort nach zwei Monaten verstorben. Aber in seiner Gier, eine neue Ehe einzugehen, hat der Mann ihr nicht einmal einen ehrenhaften Tod vergönnt!«

»Ihr habt ihn mit dem Verzicht auf seinen Namen und den Titel schwer erzürnt.« Friedrich III. verriet mit keiner Regung, ob er in dieser Frage zum Vater oder zum Sohn hielt.

Junker Peter zuckte mit den Achseln. »Eichenloh ist ein ebenso guter Name wie der, den meine Halbbrüder tragen.«

»Das ist er, besonders wenn ein königliches Siegel den Träger in den Rang eines Freiherrn einsetzt und er Land und Güter besitzt. Kehrt zu mir zurück, wenn diese Sache vorbei ist, und Ihr werdet ein Lehen erhalten. Nicht aus der Hand des Königs, sondern aus der des Herzogs der Steiermark. Ich brauche treue Leute in meinen Stammlanden, auf die ich mich verlassen kann. Auf Euren Oheim braucht Ihr nicht mehr zu zählen. Von den Lügen getäuscht, die ihm gewisse Kreaturen in die Ohren geblasen haben, indem sie Euch nach Michel Adlers Tod als Meuchelmörder bezichtigten, hat er einen Erbvertrag mit dem Hochstift Mainz abgeschlossen – und was die Kirche einmal besitzt, das gibt sie nicht mehr her.«

Peter fragte sich, ob der König ihm dieses Angebot gemacht hatte, weil er vom Scheitern seines Zuges nach Franken überzeugt war, oder ob er ihn wirklich an seiner Seite sehen wollte. Es war eigentlich nicht sein Wunsch, ein direkter Gefolgsmann dieses gekrönten Zauderers zu werden, doch wenn Kibitzstein in die Hände des Würzburger Bischofs fiel und Trudis Familie heimatlos wurde, konnte er ihr in diesem Landstrich eine neue Heimat schaffen. Diese Überlegung ließ seine Antwort ehrerbietiger ausfallen, als sie sonst gewesen wäre.

»Ich danke Euer Majestät von Herzen und werde, so Gott mich diese Reise überleben lässt, zu Euch zurückkehren.«

»Das hoffe ich doch! Heiratet das Mädchen da und bringt es mit. Und nun reitet mit Gott!«

Mit diesen Worten trat der König zurück und hob grüßend die Hand.

Trudi brachte eine gerade noch höflich zu nennende Verbeugung zustande und sprengte zum Burgtor hinaus, Peter folgte ihr mit einer weitaus respektvolleren Geste. Äußerlich schien er mit sich und der Welt im Reinen zu sein, aber in seinem Kopf führten die Gedanken einen wilden Tanz auf.

Er hatte schon lange mit seiner Familie gebrochen und nicht geglaubt, dass ihn die Vergangenheit noch einmal berühren könne. Das Gespräch mit dem König aber hatte die alten Wunden wieder aufgerissen. Um das bittere Gefühl in seinem Innern zu vertreiben, richtete er seine Gedanken auf den Rat des Königs, Trudi Adler zu heiraten. Eigentlich war schon die Vorstellung absurd.

Zu seinen Vorfahren gehörte mit Heinrich VII. immerhin ein Kaiser, wenn auch nur über eine illegitime Tochter, und er sollte eine Frau ehelichen, deren Vater noch Bierkrüge ausgewaschen hatte und deren Mutter gerüchteweise in ihrer Jugend eine Hure gewesen war? Trudi selbst war mit ihrer Tugend ebenfalls recht liederlich umgegangen und hatte sich Gressingen an den Hals geworfen.

Sein Sinn für Gerechtigkeit widersprach dieser Feststellung. Immerhin war ihm zu Ohren gekommen, dass Trudi sich diesem Kerl nicht freiwillig hingegeben hatte, sondern von ihm betrunken gemacht worden war. Das kam für ihn einer Vergewaltigung gleich. Er hasste Männer, die mit Frauen umsprangen, als seien sie beliebig nutzbar, und sah Gressingens Tod durch Trudis Hand als ausgleichende Gerechtigkeit an. Das durfte er jedoch niemals verlauten lassen.

Um Trudis Gemüt nicht mit einem Totschlag zu belasten, war auf Anweisung des Königs offiziell festgestellt worden, dass sie den Attentäter mit einem Gegenstand betäubt habe. Sein Tod war den Leibwächtern zugeschrieben worden, die ihn in ihrer Wut erschlagen hätten. In Peters Augen wäre es nicht notwendig gewesen, die Wahrheit zu verbiegen. Trudi war so robust, dass diese Tat nicht ihr Gewissen belastete, und sie wusste genau, was sie getan hatte.

Während seiner Überlegungen hatte sein Hengst, der nur ungern ein Pferd vor sich gehen ließ, zu Trudis Stute aufgeschlossen und versuchte nun trotz des kurzen Zügels, wenigstens eine Nasenlänge Vorsprung zu halten.

Ehe Peter etwas sagen konnte, blickte Trudi ihn herausfordernd an. »Was hat der König noch gesagt? Sollen wir in seinem Auftrag dem Würzburger Bischof vielleicht auch noch den A…, äh …, den Saum seines Ornates küssen?«

Peter schmunzelte. »Davon war nicht die Rede. Er hat mir nur berichtet, dass mein Vater gestorben ist und mein Oheim sein Land an den Mainzer Bischof verschenkt hat. Damit habe ich nun endgültig keine Heimat mehr und bin so frei wie ein Vogel.«

»Wenn es uns gelingt, Kibitzstein zu erhalten, wird meine Mutter dafür sorgen, dass Ihr eine Heimat bekommt. Ich denke da an die Herrschaft Windach. Sie war einst für meine Mitgift bestimmt, doch ich verzichte gerne zu Euren Gunsten.«

»Das Angebot könnte mich dazu bringen, noch härter für Euch zu kämpfen. Das Söldnerleben ist ja schön und gut, aber irgendwann wird man dessen doch überdrüssig.«

Es machte ihm Spaß, sie ein wenig an der Nase herumzuführen, insbesondere, da es sich, wie er fand, um eine sehr hübsche Nase handelte. Zwar hatte er schon schönere Mädchen als Trudi gesehen, aber keine von ihnen war so temperamentvoll gewesen, ihm einen Schweinsschädel an den Kopf zu werfen. Bei dieser Erinnerung musste er lachen, und er bemerkte erleichtert, wie die Bitterkeit, die das Gespräch über seine Familie in ihm hochgespült hatte, langsam schwand.

»Nun, dann ein Hoch auf Kibitzstein! Wir wollen doch sehen, ob wir die Mannen dieses Magnus von Henneberg nicht zu Paaren treiben können!«

»Das ist ein Wort, an dem ich Euch messen werde!« Trudi warf Peter einen kämpferischen Blick zu und zog eine Miene, als wolle sie eher selbst das Schwert in die Hand nehmen, als zuzusehen, wie ihre Heimat verlorenging. Also musste er scharf aufpassen, damit sie nicht zu Schaden kam.

Die Tochter der Wanderhure
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