15.
Die Ohrfeige im Obstgarten blieb nicht ohne Folgen, Trudi redete von da an kein Wort mehr mit ihren Schwestern, und die beiden Jüngeren gingen ihr aus dem Weg. Marie und Michel wunderten sich über das Verhalten ihrer Kinder, doch als sie nachfragten, stießen sie auf einen Wall aus Trotz, der selbst die Kibitzsteiner Wehrmauern zu überragen schien.
Marie ließ jedoch nicht locker. Sie wartete, bis Lisa ins Dorf gegangen und Trudi mit Michel ausgeritten war. Dann humpelte sie zu Hildegard, die in einem Turmzimmer Wolle sortierte, und legte ihr die Hand auf die magere Schulter.
»Ich will dich nicht dazu überreden, deine Schwestern zu verpetzen. Aber du siehst gewiss selbst ein, dass es so nicht weitergehen kann.«
Hildegard blickte ängstlich zu der Frau auf, die sie immer wie ihr eigenes Kind behandelt hatte, obwohl sie, wie sie dem Geschwätz der Mägde entnommen hatte, eigentlich Michel Adlers Tochter mit einer Konkubine war. Marie aber hatte sie dies nie spüren lassen, sondern ihr ebenso viel Liebe geschenkt wie Lisa oder Trudi. Daher hatte Hildegard Angst, ihre Ziehmutter zu enttäuschen. Sie wollte aber auch das Vertrauen ihrer Schwestern nicht verlieren und fühlte sich wie zerrissen.
Marie zog Hildegard an sich und streichelte sie, ohne zu drängen, und nach einer Weile schluchzte das Mädchen auf. »Mama, ich bin keine Petze, und ich möchte, dass wir uns alle vertragen. Aber Trudi hat Lisa vorgeworfen, sie sei nicht unsere Schwester und so schlecht wie ihre richtige Mutter.«
Das gemeinsame Blut von Vatersseite her hätte Hildegard eigentlich dazu bringen müssen, für Trudi einzutreten. Doch gerade der Vater behandelte sie eher kühl. Sie selbst und Lisa hatten die Ältere oft wegen der Zuneigung beneidet, die er ihr schenkte. Nun bot sich ihr die Gelegenheit, Trudi diese Bevorzugung heimzuzahlen, und daher erzählte sie ihrer Ziehmutter alles über den Streit, der zwischen Trudi und Lisa ausgebrochen war.
Marie drückte das Mädchen mit zusammengepressten Lippen an sich und versuchte, ihre Gefühle im Zaum zu halten. Sie und Michel hatten oft überlegt, ob sie Lisa das Geheimnis ihrer Herkunft verschweigen sollten, sich dann aber dagegen entschieden, damit das Mädchen es nicht von Fremden erfuhr. Allerdings hatten sie dem Kind nichts von den Untaten berichtet, die Hulda von Hettenheim begangen hatte, sondern ihr nur erklärt, diese sei ihre Feindin gewesen und habe sie bis zuletzt bekämpft. Die genauen Umstände von Huldas Tod hatten sie Lisa ebenso vorenthalten wie die Tatsache, dass die leibliche Mutter sie einem schrecklichen Schicksal ausgeliefert hatte.
Für Marie war es schmerzlich, zu erfahren, dass ihre eigene Tochter Lisa die Abkunft zum Vorwurf gemacht hatte. Dabei war das Mädchen von ihrem Wesen her das genaue Gegenteil von Hulda, und es hatte auch nichts von Falko von Hettenheim an sich. Hätte Marie Lisas Mutter nicht gut gekannt, wäre ihr der Verdacht gekommen, diese habe nach sechs Töchtern, die ihr Gemahl mit ihr gezeugt hatte, sich einem anderen Mann hingegeben, um von diesem den erhofften Sohn zu empfangen.
Mit einem zornigen Schnauben schob Marie die Erinnerungen an Hulda beiseite und überlegte, wie sie den Streit beenden konnte. Das war nicht leicht, denn Trudi besaß einen ungewöhnlich harten Kopf und würde nicht bereit sein, so rasch einzulenken. Schließlich rang sie sich ein Lächeln ab, um Hildegard zu beruhigen. »Ich danke dir, Kind. Wenigstens weiß ich jetzt, weshalb meine Töchter so wirken, als seien sie einander spinnefeind.«
»Daran ist nur dieser Gressingen schuld. Lisa hat gesagt, sie würde ihn ebenso wenig mögen wie du, Mama, und da hat Trudi sie geschlagen.«
»Gressingen also.« Maries Laune sank noch tiefer. Junker Georg war nicht der Bräutigam, den sie sich für ihre älteste Tochter wünschte, denn Gressingens übermäßiger Stolz auf seine ritterliche Ahnenreihe schien ihr keine gute Grundlage für eine Ehe. Sie sah kommen, dass Trudi vielerlei Demütigungen und Kränkungen ausgesetzt sein würde, und davor wollte sie ihre Älteste bewahren.
»Mama, bitte sag den anderen nicht, dass ich dir alles erzählt habe.« Angstvoll blickte Hildegard zu ihrer Mutter auf. Sie liebte ihre Schwestern und bat den Herrn Jesus Christus in jedem Nachtgebet, Trudi und Lisa wieder miteinander zu versöhnen. Nun aber fürchtete sie, sich den Zorn der beiden zuzuziehen, falls die Mutter zu streng mit ihnen verfuhr.
Marie strich ihr tröstend über das Haar. »Keine Sorge, Liebes. Von mir erfährt niemand etwas.«
Noch während sie es sagte, glaubte sie aus den Augenwinkeln einen Schatten bemerkt zu haben, doch als sie sich umdrehte, war niemand zu sehen. »Mach dir keine Sorgen. Es wird alles wieder ins Lot kommen«, sagte sie zu Hildegard und fasste innerlich den Entschluss, alles zu tun, um den Frieden auf Kibitzstein wiederherzustellen. Sollte Trudis Verbindung mit Gressingen der einzige Weg sein, würde sie diese Ehe sogar fördern.