12.

Trudi rannte hinter ihrem Vater her, so schnell sie es vermochte, aber es gelang ihr nicht, ihn einzuholen. »Papa, bleib doch stehen!«, schrie sie, doch ihre Stimme trug keine fünf Schritte weit. Dabei wusste sie genau, dass gleich etwas Schreckliches geschehen würde. Noch einmal rief sie, und diesmal schien ihr Vater sie endlich zu hören, denn er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Im selben Augenblick tauchte ein dunkler Schatten neben ihm auf. Stahl blitzte in der Sonne, und dann sank Michel stöhnend zu Boden. Als Trudi ihn erreichte, war er bereits tot. Außer sich vor Schmerz und Zorn, packte sie die Klinge, die ihn getroffen hatte, und wollte damit auf seinen Mörder losgehen. Doch sie befand sich auf einmal ganz allein im Fuchsheimer Kräutergarten und hörte nur noch aus weiter Ferne ein höhnisches Lachen. Mit diesem Laut im Ohr wachte Trudi auf. Ihr Herz klopfte bis in den Hals, und sie war in Schweiß gebadet. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass sie sich nicht an dem Platz befand, wo ihr Vater ums Leben gekommen war, sondern in der Kammer, die Hiltruds Tochter Mariele ihr zur Verfügung gestellt hatte. Neben ihr lag Uta auf einem Strohsack und schlief tief und fest. Marie hatte sie ihr als Leibmagd mitgegeben und dazu noch Lampert, der in einer Kammer bei den Knechten des Tessler-Hauses schlafen musste.

Marie hatte es ihrem Patenkind Mariele nicht zumuten wollen, die Besucherin mehrere Wochen lang durch ihr eigenes Gesinde bedienen zu lassen, und Trudi war froh um die bekannten Gesichter, denn sie hätte sonst noch mehr Schwierigkeiten vor sich gesehen, ihren Plan in die Tat umzusetzen.

Im Augenblick jedoch beschäftigte sie nur der Alptraum, der sie eben heimgesucht hatte. Auf diese Weise hatte sie den Mord an ihrem Vater schon mehrfach miterlebt, aber noch nie so intensiv wie in dieser Nacht. Sie glaubte immer noch das von dem Dolch tropfende Blut auf ihren Händen zu sehen, und der Hass auf den ehrlosen Schuft, der diese Tat begangen hatte, drohte sie wie das Wasser eines schwarzen, grundlosen Moores zu verschlingen.

Mit jedem dieser Träume war ihr die eigene Schuld mehr und mehr bewusst geworden. Ihr Vater würde noch leben, wenn sie nicht in Dettelbach und auf Fuchsheim mit Eichenloh aneinandergeraten wäre oder Otto von Henneberg nicht das Gesicht zerschnitten hätte.

»Der Mörder hätte mich töten sollen, dann wäre die Richtige gestorben«, sagte sie sich nicht zum ersten Mal und sank mit einem Weinkrampf zurück.

»Heult Ihr schon wieder? Damit macht Ihr das Ganze auch nicht ungeschehen«, murmelte Uta schlaftrunken.

Das ging Trudi zu weit. Am liebsten wäre sie aufgestanden, um Uta für diese rohen Worte zu züchtigen. Doch rechtzeitig fiel ihr ein, dass sie sich vorgenommen hatte, ihr Temperament im Zaum zu halten. Bei Eichenloh und Henneberg hatte sie es nicht getan, und dafür war sie schwer bestraft worden.

Ganz allein sie war die Ursache, dass Kibitzstein nun ohne Herr war und ihre Mutter sich mit den Begehrlichkeiten des Fürstbischofs und anderer Nachbarn herumschlagen musste. In Trudis Alpträume mischte sich auch die Furcht, sie könne aus Graz zurückkehren und einen fremden Verwalter oder Besitzer auf Kibitzstein vorfinden, während Mutter und Schwestern tot oder in einem Kloster eingesperrt waren und ihr Bruder als fahrender Ritter durch die Lande zog. In dem Fall würde auch Georg von Gressingen nichts mehr von ihr wissen wollen. Da er ebenfalls heimatlos war, konnte er kein mittelloses Mädchen heiraten.

»Geht es Euch wieder besser? Soll ich Euch einen Krug Bier aus der Küche holen? Danach könnt Ihr gewiss schlafen.« Ohne auf eine Anweisung zu warten, erhob Uta sich und verließ die Kammer. Trudi stand ebenfalls auf, zog ihr Hemd aus und suchte im Schein des Mondes nach einem Tuch, mit dem sie sich trockenreiben konnte. Daher stand sie nackt im Raum, als die Magd zurückkehrte.

Uta schimpfte wieder. »Warum habt Ihr nicht gesagt, dass Ihr Euch den Schweiß abwaschen wollt. Ich hätte Euch doch Wasser mitbringen können.«

»Es geht schon.« Trudi rieb sich trocken und wollte wieder in ihr Hemd schlüpfen. Doch das klebte vor Nässe. Sie warf es zusammen mit dem Lappen in eine Ecke und nahm den Bierkrug entgegen, den Uta ihr gefüllt hatte. Zunächst wollte sie nur ein paar kleine Schlucke trinken, um der Magd zu zeigen, dass diese den Weg nicht umsonst gemacht hatte. Doch dann merkte sie, wie durstig sie war, und hörte erst auf zu trinken, als der Krug zu drei Vierteln leer war. Danach stieß sie hörbar auf und reichte Uta das Gefäß.

»Wenn du magst, kannst du es austrinken. Bis morgen früh ist es schal.«

Das ließ die Magd sich nicht zweimal sagen, denn sie hatte den Krug nicht ohne Grund bis an den Rand gefüllt. Es war zwar weniger darin geblieben, als sie gehofft hatte, dennoch war sie nicht unzufrieden. Immerhin verdankte sie Trudi, dass sie in diese interessante Stadt hatte mitkommen dürfen. Schweinfurt war schon etwas anderes als die Marktorte Volkach, Dettelbach, Gerolzhofen oder Prichsenstadt, die sie von Zeit zu Zeit besuchen durfte. Hier konnte man alles kaufen, was das Herz begehrte. Uta besaß zwar kein Geld, aber es war schon aufregend genug, die wundervollen Sachen anzusehen. Außerdem war ihre Herrin so gutmütig, sie von einer Bratwurst, die sie sich auf dem Markt gekauft hatte, abbeißen zu lassen.

Genüsslich leerte Uta den Bierkrug. Zwar mochte sie Wein lieber, doch dafür hätte sie in den Keller gehen müssen, und der war aus weiser Voraussicht abgeschlossen. Marieles Ehemann Anton Tessler wollte nicht, dass seine Knechte sich heimlich an den Weinfässern vergriffen. Bier aber galt als Durststiller und Nahrung zugleich, und deswegen stand immer ein Fass davon aufgebockt in der Küche.

»Wenn du fertig bist, kannst du mir das Bett frisch beziehen. So ist es mir zu klamm!« Trudis Bitte beendete Utas Überlegungen, und sie stellte den Krug rasch ab.

Da Trudi nun fröstelte, hüllte sie sich in die Zudecke von Utas Bett, während sie zusah, wie die Magd ihre Lagerstatt herrichtete.

»Soll ich Euch ein frisches Hemd heraussuchen?«, fragte Uta.

»Nein, danke, ich schlafe ohne«, gab Trudi zurück.

Uta schüttelte missbilligend den Kopf. »Das ist aber sehr ungehörig. Was sollen Frau Marieles Mägde sagen, wenn sie morgen früh ins Zimmer kommen und Ihr nackt aus dem Bett steigt!«

»Nichts, denn sie haben gewiss kein Hemd für nachts und schlafen nur im Winter in ihren Kleidern. Nur weil ich noch Jungfer bin … Also gut, du Quälgeist. Such mir eins heraus.«

Trudi wartete, bis Uta ein Hemd gefunden hatte, ließ sich von ihr hineinhelfen und schlüpfte dann wieder ins Bett. Während Uta sich ebenfalls wieder hinlegte, sah Trudi sich erneut ihren quälenden Gedanken ausgeliefert. Niemals, so glaubte sie, würde sie verwinden können, der Anlass für den Mord an ihrem Vater gewesen zu sein. Das konnte auch ihrer Mutter und den Schwestern auf die Dauer nicht verborgen bleiben. Sie fürchtete schon den Tag, an dem ihre Schuld offenbar wurde, denn von da an würde man sie wie eine Aussätzige behandeln. Wenn überdies noch Kibitzstein durch die Umtriebe des Fürstbischofs verlorenging, würde ihre Familie sie gewiss hassen und von sich stoßen. So schlimm wie das, was sie dann würde durchmachen müssen, konnte nicht einmal das Fegefeuer sein.

Wenn sie sich die Achtung ihrer Lieben erhalten wollte, gab es nur einen Weg, und der führte nach Graz zu König Friedrich. Nur er allein war in der Lage, Kibitzstein den Schutz zu geben, den sie so dringend benötigten. An diesen Gedanken klammerte Trudi sich noch im Einschlafen, und als sie am Morgen erwachte, wusste sie, wie sie vorgehen musste.

Die Tochter der Wanderhure
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