3.

Michel Adler sah die Burg des Herrn von Dettelbach vor sich aufragen und ließ seinen Hengst unwillkürlich schneller traben. Als die Hufschläge hell auf dem steinernen Pflaster der Gasse klangen, lockte das Geräusch Neugierige an die Türen und Fenster. Die Dettelbacher kannten den Herrn auf Kibitzstein, denn Michel ließ die meisten Einkäufe in ihrem Ort tätigen und nicht im näher an seiner Burg gelegenen Markt Volkach, der immer stärker unter die Herrschaft des Würzburger Bischofs geriet.

Diesmal wollte Michel jedoch nicht zum Markt, sondern zu Ritter Hans von Dettelbach, dem dieser Ort gehörte. Doch er hatte Trudi mitgenommen, die bereits begehrliche Blicke auf die Marktstände warf. Mehrere Waffenknechte schützten ihn, seine Tochter und Anni, die sie begleitete, weil sie als Wirtschafterin auf Kibitzstein am besten wusste, was eingekauft werden musste. Liebend gerne hätte er Marie an seiner Seite gesehen, doch deren Knieschmerzen waren wieder stärker geworden, so dass sie weder reiten noch in einem rüttelnden Wagen mitfahren konnte.

Es wird diesmal ohne Maries Rat gehen müssen, dachte Michel seufzend, als er sich von Trudi und Anni trennte und zwei seiner Leute dazu bestimmte, die beiden bei ihren Einkäufen zu begleiten. Er selbst trieb seinen Hengst wieder an und ritt mit dem Rest seiner Männer zur Burg hoch.

Zwei Knechte eilten auf ihn zu und nahmen den Zügel in Empfang. Michel stieg ab und versuchte, die steifen Glieder zu lockern. Der lange Ritt hatte ihm zugesetzt, und allmählich spürte er das Alter. Doch gerade in dieser schwierigen Zeit durfte er nicht nachlassen. Sein und Maries Sohn Falko war noch zu jung, um die Pflichten eines Burgherrn übernehmen zu können. Zudem weilte er bei Ritter Heinrich von Hettenheim, um zusammen mit dessen jüngstem Sohn erzogen zu werden, und würde erst in zwei oder drei Jahren nach Hause zurückkehren.

Michel straffte sich und trat breitbeinig auf den Eingang des Palas zu. Zu seiner Erleichterung empfing Ritter Hans von Dettelbach ihn am Fuß der Freitreppe. Das war eine Geste, die Michel hoffen ließ, dass sein Besuch von Erfolg gekrönt sein könnte.

»Gott zum Gruß, Herr Hans. Ich freue mich, Euch so wohl vor mir zu sehen!«, begrüßte Michel seinen Gastgeber, obwohl er fand, dass der Stadtherr von Dettelbach seit ihrer letzten Begegnung noch älter und hinfälliger geworden war. Dabei zählte Ritter Hans kaum mehr Jahre als er selbst.

»Seid mir willkommen, Herr Michel.« Ritter Hans’ Stimme klang dünn, und als er sich umdrehte, die Treppe hochzusteigen, strauchelte er.

Michel konnte gerade noch einen Sturz verhindern, und sein Gastgeber bedankte sich seufzend. »Ich war letztens sehr krank, und seitdem will es nicht mehr so recht.«

»Das wird schon wieder!«, versuchte Michel ihn aufzumuntern.

»Gebe es Gott und der heilige Kilian! Doch ich glaube, mit mir geht es zu Ende. Der Wein schmeckt nicht mehr, und trinke ich ihn dennoch, schmerzt es in meiner Seite, als würde jemand einen Dolch darin umdrehen.«

Hans von Dettelbach sah so bedrückt aus, als glaube er tatsächlich, bald mit dem Leben abschließen zu müssen, und Michel bedauerte es noch stärker, dass Marie nicht hatte mitkommen können. Seine Frau kannte viele Kräuter und verstand es, daraus Arzneien zu mischen. Vielleicht hätte sie auch Ritter Hans einen heilenden Trunk brauen oder ihm zumindest jene Kräuter nennen können, die seine Beschwerden linderten.

Hans von Dettelbach ließ sich von Michel auf dem Weg in das Wohngebäude stützen, wies ihm aber nicht den Weg zum großen Saal, sondern führte ihn in ein kleines Zimmer, dessen schießschartenartige Fenster mit festen Läden verschlossen waren. Eine von der Decke hängende Unschlittlampe spendete trübes Licht, das die Stimmung des Burgherrn widerzuspiegeln schien.

Eine Magd mittleren Alters kam herein und legte eine Decke um Ritter Hans’ mager gewordene Schultern, während ein junges Ding, das kaum mehr als zehn Sommer gesehen haben konnte, einen Krug mit einem dampfenden Getränk und einen großen, mit Wein gefüllten Becher brachte. Die Kleine stellte die Gefäße auf den einfachen Tisch, knickste und lief eilig davon, während die Magd ihrem Herrn half, sich auf die Bank zu setzen, und ihn so warm einpackte, dass ihm die Zugluft, die durch die Spalten der Fensterläden drang, nichts anhaben konnte. Dann mahnte sie Michel, Ritter Hans nicht zu sehr zu erschöpfen, und verließ ebenfalls den Raum.

Michel wartete, bis er mit dem Dettelbacher allein war, und nahm seinen Becher zur Hand. »Auf Euer Wohl, Herr Hans!«

»Ich wollte, ich könnte Euch Bescheid geben. Doch die Brühe, die ich trinken soll, mag für ein Pferd geeignet sein, aber nicht für einen Mann. Bäh, schmeckt das widerlich!« Ungeachtet seines Widerwillens führte Hans von Dettelbach den Krug an die Lippen und schlürfte vorsichtig den heißen Absud.

Der Dampf, der Michel in die Nase stieg, roch nach Kamille, Salbei, Fenchel und Minze. Zwar interessierte er sich nicht sonderlich für die Wirkung von Heilkräutern, aber das eine oder andere hatte er aufgeschnappt, wenn Marie oder die Ziegenbäuerin nach Zutaten für ihre Tränke suchen ließen. Die Mischung, die sein Gastgeber zu sich nahm, schien ihm vertraut. Wenn diese Medizin ihm nicht half, würde auch ein hochgelehrter Arzt nicht mehr viel ausrichten können. Diese Erkenntnis brachte Michel dazu, all die vielen Höflichkeitsfloskeln, die sonst üblich waren, beiseitezulassen und das Gespräch sofort auf den Grund zu lenken, der ihn nach Dettelbach geführt hatte.

»Ritter Hans, ich wünsche Euch noch viele Jahre bei guter Gesundheit, in denen Euch der Wein wieder so schmecken soll wie früher, als wir so manches Mal hier oder auf Kibitzstein zusammengesessen sind und fröhlich gezecht haben. Vielleicht habt Ihr dann Lust, Euch ein junges Weib zu nehmen, um Eure Sippe fortzusetzen.«

»Noch einmal heiraten! Nein, mein Freund, diese Zeiten sind vorbei«, antwortete Herr von Dettelbach mit schwacher Stimme.

Michel legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ihr seid der Letzte Eures Geschlechts, und wenn Ihr nicht wieder heiratet, gibt es keinen Erben, der einen Anspruch auf diesen Marktort oder Euren restlichen Besitz erheben kann. Dann allerdings seid Ihr in der Lage, Dettelbach an jedweden Mann zu verkaufen oder zu vererben, den Ihr auswählt. Um es offen zu sagen: Wenn es keinen Leibeserben gibt, so habe ich durchaus Interesse daran, diesen Ort zu besitzen, wenn Ihr einmal nicht mehr sein solltet.«

Der Dettelbacher fuhr gereizt auf. »Wollt Ihr Euch in die Reihe meiner sogenannten Freunde und entfernten Verwandten stellen, die mir die Tür einlaufen, damit ich ihnen meinen Besitz hinterlasse?«

Michel hob beschwichtigend die Hände. »Ich will nichts geschenkt haben. Alles im Leben hat seinen Preis. Nennt mir die Summe, die ich Euch geben soll, oder verpfändet mir Dettelbach mit dem Recht, es nach Eurem Tod in meinen Besitz nehmen zu können. Mit diesem Geld könnt Ihr Euch noch ein schönes Leben machen.«

»Ein schönes Leben? Jetzt, wo ich alt und hinfällig geworden bin und mir alle Gedärme im Leib schmerzen? Nein, Herr Michel, es lohnt sich nicht, für diesen lahmen Leib Geld auszugeben, der mich nur noch an diese Welt fesselt, obwohl ich es kaum erwarten kann, die Wunder des Paradieses zu schauen.«

Hans von Dettelbach starrte düster auf den Krug, den er vor sich gestellt hatte. »Für das da brauche ich kein Gold. Die Kräuter wachsen am Wegesrand, und meine Mägde sammeln sie ein. Euer Angebot mag aus ehrlichem Herzen kommen, aber ein zahnloser Hund zerkaut keinen Knochen mehr.«

»Dann nehmt das Geld und spendet es der Kirche, so dass man dort für Euer Seelenheil und das Eurer Sippe betet«, beschwor Michel den Ritter.

Der Kopf des Kranken ruckte hoch. »Da habt Ihr ein wahres Wort gesprochen, Herr Michel. Das Seelenheil darf man niemals vergessen. Ich könnte den Klöstern in der Umgebung Geld für viele Seelenmessen geben und vielleicht sogar eine Kirche bauen lassen oder ein Kloster stiften. Dies mag mir helfen, das Fegefeuer schnell hinter mich zu bringen und der Freuden des Paradieses teilhaftig zu werden.«

»Damit wären wir uns ja einig.« Michel wollte schon aufatmen, doch sein Gastgeber schüttelte den Kopf.

»So schnell geht das nicht. Bevor ich mich entscheide, will ich noch mit meinem Prediger reden. Kommt in einer Woche wieder. Dann erhaltet Ihr Bescheid.«

Michel sah dem Kranken an, dass er nicht mehr als dieses halbe Zugeständnis erreichen konnte, und trank seinen Becher aus. »Ich werde wiederkommen, Ritter Hans, und dann werden wir gewiss handelseinig werden. Nun aber Gott befohlen.«

»Gott befohlen!« Der Dettelbacher trank seinen Krug leer und stand auf. Für einige Augenblicke schien er zu überlegen, ob er seinem Gast das Geleit bis in den Hof geben sollte, dann aber ließ er seine Schultern nach vorne sinken und schlurfte wortlos davon.

Michel sah ihm nach und schüttelte sich bei dem Gedanken, was aus dem früher so trinkfesten, allzeit fröhlichen Ritter Hans geworden war. Gleichzeitig bedauerte er es, dass er den Kauf des Marktorts nicht auf der Stelle hatte abschließen können. Der Besitz von Dettelbach hätte seine Macht in dieser Gegend so gefestigt, dass er in der Lage gewesen wäre, den Ansprüchen des Fürstbischofs entschiedener entgegenzutreten.

Die Tochter der Wanderhure
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